ELF

Auf Mona hatte der Abend eine eigentümliche Wirkung.

»Das war ja gruselig. Ich hatte den Eindruck, du warst der einzige, den er näher kennt.«

»Aber du hast mit ihm geflirtet. Du hast dich amüsiert. Und warst beeindruckt von seinem Medium.«

»Das stimmt doch gar nicht. Das bildest du dir ein.«

»Nimmst du ihm den Grund für die nackte Wand ab?«

»Ich nehme Perlensamt gar nichts ab. Es tut mir leid, daß ich die Bilder nicht gesehen habe. Der Rest interessiert mich nicht.«

Ich glaubte ihr nicht. Ich machte gar nicht den Versuch, etwas aufzuklären. Ich verstand Frauen eben nicht. Schon das Ansinnen, ihr bei der Kleiderauswahl behilflich sein zu sollen, war absurd gewesen.

Ich hatte nach der Party das Gefühl, Perlensamt anrufen zu müssen. Wir tauschten Belanglosigkeiten aus, bis ich ihn fragte, warum er kurz vor der Party untergetaucht sei. Ich erzählte ihm, daß seine Tante mich empfangen hätte. David war bei seinem Vater im Gefängnis gewesen. Er war so erschüttert nach Hause gekommen, daß er sich erst einmal zurückziehen mußte. Er war erst aufs Land, dann ans Meer gefahren. Nicht an das Meer, das Courbets Bild darstellte, nur an die Ostsee. Immerhin war es ein Wasser gewesen mit Horizont und Bewegung. Usedom, das lag um die Ecke und Polen dahinter. Polen. Ob ich verstünde? Er sei über die Grenze gegangen, zum ersten Mal in seinem Leben sei er in Polen gewesen, heimlich. Vorher habe er das nie gewagt. Er hätte sich auch noch nicht nach Frankreich gewagt. Aber das sei eine andere Geschichte.

Den alten Ländern des westlichen Europas hätte man nie die Seele rauben können. Polen dagegen – diese Demütigung durch die Nazis … Er, David Perlensamt, habe sich über die Grenze gedrückt, vorbei an den fröhlichen Händlern, die im Sommer Beeren und Pilze anbieten. Zu Fuß in Richtung Swinemünde. Wie ein ganz gewöhnlicher Wanderer durch den Wald. Nach zwei Stunden habe er kehrt machen müssen. Er habe es nicht ausgehalten, sich geschämt, sich elend gefühlt. Er konnte einfach nicht weitergehen. Ob ich diese Anfälle von Schuldgefühl kennte?

»Woher?«

Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Polen, na gut, nicht gerade ein glückbegabtes Land. Aber warum schämte er sich? Er war doch nicht in Polen einmarschiert.

Madame kommt herein und erkundigt sich, ob ich jetzt jeden Abend so ein Feuer machen will. Ich müsse daran denken, daß nicht mehr viel Holz da sei. Mißbilligung liegt in ihrem Ton. Wahrscheinlich denkt sie, Amerikaner hätten eine Neigung zur Verschwendung. Es sieht jedes Mal dramatisch aus, wenn das Papier Feuer fängt, die züngelnden Flammen die zarten Blätter wölben und dann zu Asche zerfressen. Ich will gerade noch einmal die Notiz überfliegen, die Alfred Perlensamt an mich schrieb, aber Madame steht schon wieder in der Tür.

»Monsieur, eine Dame verlangt Sie am Telefon, aus Berlin.«

»Er ist wieder aufgetaucht. Er hat einfach vorbeigeschaut. Er hat nach dir gefragt.«

Als ich Monas Stimme höre, möchte ich am liebsten sofort auflegen. Nicht nur die verdammte Verbrennungsaktion der Papiere, die ich schweren Herzens vernichte, trägt ein Stück des vergangenen Herbstes nach Brüssel. Monas Stimme verstärkt meinen Eindruck, daß diese Geschichte nicht zu beenden ist.

»Martin, bitte, sag etwas. Ich habe Angst vor ihm. Ich – habe einen Fehler gemacht.«

Einige Zeit nach Davids Party hatte ich tatsächlich den Entschluß gefaßt, Alfred Perlensamt im Gefängnis zu besuchen. Ich erinnere mich genau an diesen Morgen, dessen klare Luft und blauer Himmel mich an New York erinnerten, an meine Kinderzeit, den Herbst Upstate New York, der mit seinen leuchtenden, kontrastreichen Farben viel länger zu dauern schien und viel mehr Herbst war als irgendwo sonst. An diesem Morgen fiel mir ein, wie lange ich nicht mehr dort gewesen war, das letzte Mal Weihnachten vor drei Jahren. Aber einen dieser Herbsttage IN NYC oder Upstate New York hatte ich schon sehr viel länger nicht mehr erlebt, die satten, fast grellen Farben der Landschaft, den Geruch des von Sonne beschienenen Laubes. Plötzlich vermißte ich die Leichtigkeit meiner Heimatstadt. Ich wäre am liebsten für eine Stunde zurückgekehrt, nur um den Ton der Autohupen zu vernehmen, der träge durch die Straßenschluchten treibt, den Betrieb in Midtown, das weiße Rauschen im Hintergrund der Stadt. In Downtown, wo die Straßen sich biegen, als hätte das Schachbrett Manhattan im Wasser gelegen, hätte ich gern für zehn Minuten verharrt. Der einzige Distrikt, in dem mir die Stadt labyrinthisch erscheint. Ich brauche die Wolkenkratzer zur Orientierung.

Ich war durch die Schleuse der Strafanstalt Moabit gegangen, hatte meinen Personalausweis abgegeben und eine Hundemarke bekommen. Ein Beamter ließ mich durch drei schwer verschlossene Türen, bis ich in einem leeren Raum angekommen war. Vor mir eine Glasscheibe, dahinter ein weiterer Raum. Nach einigen Minuten erschien hinter dem Glas ein alter Mann. Während er da stand und den Besucher prüfte, dessen Namen ihm nichts gesagt haben konnte, suchte ich in seinen Zügen nach einer Ähnlichkeit mit David. Die Pressephotos hatten Alfred Perlensamt stets mit kurz geschnittenem Haar gezeigt, blond mit grauen Strähnen, groß, breitschultrig in Tweedjackett und Hemd mit Krawatte. Dazu der übliche Rest, der einen Mann zum dezent angezogenen Typus einer konservativen Kaste macht. Der Gefangene mir gegenüber hatte schlohweißes Haar, schulterlang und glatt. Sein heller Anzug hing formlos an ihm, zu groß, verknittert, mit ausgebeulten Knien. Er stand barfuß in Sandalen. Aus der rissigen Haut spreizten sich Fußnägel, lang wie Vogelklauen. Langsam kam er auf mich zu. Mit einer stummen Geste bat er mich, Platz nehmen, als sei er der Hausherr. Ich drückte den Knopf der Sprechanlage und bestellte Grüße von David. Er nickte, schwieg eine Weile und erkundigte sich dann, ob ich ihm chinesisches Essen besorgen könnte. Das Anstaltsessen sei vergiftet. Ihm bliebe nicht mehr viel Zeit. Ich versprach, es David auszurichten. Wieder mußte ich lange auf die Antwort warten.

»David kommt nie.«

»Aber er ist doch neulich noch dagewesen.«

Alfred Perlensamt schüttelt den Kopf. »Kein einziges Mal. Nie.«

Als ich David später davon erzählte, runzelte er die Stirn.

»Ich fürchte, es geht ihm sehr schlecht. Sein Gedächtnis funktioniert nicht mehr. Er scheint das, was er jetzt tut oder erlebt, nicht mehr einordnen zu können. Hingegen nehmen die früheren Jahre immer mehr Raum ein. Wie bei einem sehr alten Menschen. Aber er ist ja noch nicht alt. Er ist noch keine siebzig. Ich mache mir große Sorgen um ihn. Meine Mutter fehlt ihm. Woher kommt nur der Verfolgungswahn, die Sache mit dem Gift?«

»Sie sind also gekommen, um mir Grüße von meinem Sohn auszurichten. Warum kommt er nicht selbst? Ich sage es Ihnen. Ich habe keinen Sohn mehr. Unser Sohn ist tot.«

Ich sagte ihm, daß David lebt und sehr tapfer sei. Er mache sich Gedanken um das Familienerbe, in erster Linie um die Sammlung natürlich. Alfred Perlensamt reagierte gar nicht darauf. Sein Blick war leer.

»Sammlung«, wiederholte er tonlos.

»Ja, die Bilder meine ich. David fühlt sich verantwortlich für die Sammlung, die Ihr Vater zusammengetragen hat. Möchten Sie, daß diese Sammlung eine Einheit bleibt? Bedeutet Ihnen das Vermächtnis Ihres Vaters etwas?«

»Vermächtnis meines Vaters.«

Er stellte nichts in Frage. Seine Sätze klangen hohl, als sagte ihm das, was er wiederholte, nichts.

»Herr Perlensamt, erinnern Sie sich an La Vague, Die Welle, das wunderbare Bild von Courbet?«

»Das Bild von Courbet.«

Er verstummte. Dann lachte er schrill. Er schien vollkommen verwirrt. Als hätte er den Verstand verloren. Gerade als ich mich verabschieden wollte, da ich dachte, es hätte keinen Zweck, mit diesem Mann weiterzusprechen, stellte er eine Frage.

»Waren Sie ein Freund von David?«

Ich bejahte etwas zu eifrig.

»Wenn Sie ein Freund von David waren, dann müssen Sie sich jetzt um alles kümmern. Um das Haus und den Nachlaß in meiner Mappe – und um meine Frau.«

»Herr Perlensamt, Ihre Frau …«

»Ist das zu viel verlangt? Wenn man mich schon grundlos festhält, sollte es doch möglich sein, daß sich jemand um meine arme Frau kümmert.«

Er lebte in einer anderen Welt, in einer, in der er seine Frau offenbar nicht erschossen hatte.

»Danke, daß Sie gekommen sind. Wie war Ihr Name?«

»Saunders, Herr Perlensamt, mein Name ist Martin Saunders.«

Alfred Perlensamt stand auf, nickte. Dann ging er wortlos. Als ich auf die Uhr sah, bemerkte ich, daß erst ein paar Minuten vergangen waren.

»Mona, ich – ich kann dir nicht helfen«, sage ich und lege auf. Eine merkwürdige Orientierungslosigkeit befällt mich, als hätte mir jemand den Boden unter den Füßen fortgezogen. Als hätte eine fremde Geschichte meine eigene ausgelöscht.