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Nicht mehr so klein

Nachdem ich sehr klein gewesen bin, kann ich wahrheitsgemäß sagen, dass Größe gar nichts ausmacht.

Außer ausnahmsweise.

Das zornige Gebrüll brach los – so heftig, dass es ein Gehölz von Eisenbäumen umstürzte, einen lebhaften Fluss leerte und einen ganzen Wasserfall zur Seite schleuderte. Ungestüme Stürme peitschten die Berggipfel hoch über dem See Lavadon, sie zerstörten Felstürme, die über die Klippen rund um den See polterten und mit lautem Platschen aufs Wasser schlugen. Doch dieses Platschen konnte man nicht hören. Das Gebrüll füllte die ganze Luft und übertönte jedes andere Geräusch.

Als es endlich verklang, blieben andere Töne zurück. Höher und dünner klangen sie, gemeinsam aber ebenso beherrschend – ein wilder Chor von Schreien.

Schreie von Kindern im Todeskampf.

Auf den nackten Klippen kauerte eine Gruppe junger Zwerge. Sie hatten die in Feuerwurzel typischen roten Locken, die ihre Köpfe wie duftige Wolken umgaben. Ihre Gesichter, sonst listig und verspielt, drückten jetzt etwas anderes aus. Entsetzen.

Keine erwachsenen Zwerge umgaben und beschützten sie. Alle, die das versucht hatten, die Mütter mit scharfen Augen und kräftigen Händen, die Väter mit muskulösen Armen und dichten Bärten, lagen jetzt im Dreck, ihre leblosen Körper waren zerschlagen oder zerschnitten oder verbrannt. Nicht weit entfernt starrte das Ungeheuer, das dies alles getan hatte, wütend auf die Kinder: der wildeste Drache von Feuerwurzel.

»Sagt es mir!«, befahl er, kratzte mit seinen mörderischen Krallen über die Erde und zerschnitt dabei Steinklötze so leicht wie ein Messer eine Melone.

Lo Valdearg war der Name, den er für sich gewählt hatte in der Hoffnung, sich mit Valdearg in Verbindung zu bringen, dem gefährlichen Drachen alter Sagen, der Merlins Insel Fincayra terrorisiert hatte. Auch wenn Lo erst seit Kurzem in Feuerwurzel wütete, ließ schon der donnernde Klang dieses Drachennamens und sein Gebrüll die Leute vor Angst zittern. Genauso erschreckend wirkte seine unvorstellbar riesige Gestalt mit den purpurroten Schuppen, die Kopf, Hals, Brust, Schwanz und Flügel beschützten.

»Sagt es mir!«, wiederholte er und hob dabei seinen enormen Kopf hoch über die kauernden Zwerge. Für sie ragte sein mächtiges Gesicht so groß auf wie ein Berghang. Doch dieser Hang hatte wilde rote Augen und einen klaffenden Mund mit Reihen von Zähnen, scharf wie Bergspitzen. Ganz zu schweigen von dem Feuer, das er ausatmen und damit jeden Stein schmelzen konnte.

Dampfend heißer Atem blies aus seinen höhlenartigen Nasenlöchern auf die Kinder herab, sodass sie noch lauter schrien und bis an den Rand der Klippe zurückwichen. Da standen sie nun, manche hielten einander an den Händen, andere bedeckten ihre Augen, während die Jüngsten auf dem Boden saßen und heulten. Inzwischen peitschte Lo Valdeargs zerrupfter schwarzer Bart an seiner Kinnspitze durch die Luft, während er den massigen Kopf schüttelte. Aus dem Bart fielen frische Blutstropfen und ein paar Reste seiner letzten Opfer – hier ein abgerissener Arm, dort ein leerer Stiefel.

»Sagt es mir!«, verlangte er erneut mit einer Stimme, die zum Gebrüll anstieg.

»Nie!«, schrie ein älteres Mädchen, das immer noch die angekohlte Axt ihres Vaters umklammerte. Sie hob die schwere Axt, so hoch sie konnte, bis ihre Arme sie nicht länger halten konnten. Als die zweischneidige Klinge auf den Boden schlug, rief sie wütend: »Nie werden wir dir sagen, wo man die leuchtenden Edelsteine findet.«

»Unsere Leute haben sie entdeckt«, schrie ein Junge neben ihr.

»Sie gehören Zwergen«, rief ein anderer. »Nicht Drachen!«

Lo Valdeargs Augen glühten wie geschmolzene Lava. Ein gefährliches Rumpeln sammelte sich in seiner Brust, während seine Augen in Flammen aufzulodern schienen. »Bald werden sie mir gehören, ihr sturen kleinen Insekten.«

Der purpurrote Drache holte tief Atem und bereitete sich darauf vor, seine Beute zu Asche zu blasen.

Die Schreie wurden lauter, sie durchbohrten die Luft. Viele Kinder wichen zurück, sodass sie fast über den Klippenrand stürzten. Nur wenige, unter ihnen auch das Mädchen mit der Axt, standen bewegungslos vor ihrem Feind.

Der Drache brüllte. Aus seinem Maul stürzte eine Lawine von Flammen, so brennend heiß, dass selbst die Luft zu fliehen schien; in einem hoch erhitzten Wind brauste sie davon. Das alles, Feuer, Rauch und Wind, schoss auf die jungen Zwerge zu und erreichte sie nicht.

Sowie die Flammen des Drachen vorschossen, kam ein großer Flügel vom Himmel herunter und hielt den Angriff auf. Von Tausenden leuchtend grüner Schuppen geschützt, lenkte der Flügel alles direkt auf den Angreifer zurück und bedeckte ihn mit Rauch und Feuer.

Wieder brüllte Lo Valdearg – aber diesmal nicht vor Zorn, sondern vor Überraschung und Schmerz. Der jähe Flammenstoß hatte ihm die Augen angesengt und seinen Bart fast ganz verbrannt. Er rollte rückwärts, weg von der Klippe, und betastete seine verwundeten Augen.

Zugleich landete das Geschöpf, dessen Flügel die Kinder gerettet hatte, zwischen ihnen und Lo Valdearg. Es knallte mit einem hallenden Krach herunter, sein Gewicht erschütterte den Boden heftig – so heftig, dass Hunderte Steinbrocken von der Klippe brachen und auf den See weit drunten hinabregneten.

Die Kinder schauten zu ihrem Retter hinauf und schienen zu erstarren, sie waren so überrascht, dass sie nicht sprechen konnten. Teils weil er so riesig war – sogar noch größer als ihr Angreifer, mehr wie ein Berg als irgendwas Lebendiges. Und teils weil er zu ihrem höchsten Erstaunen ebenfalls ein Drache war.

Der große grüne Drache drehte den Kindern den Kopf zu, wobei er ein Auge immer noch auf den sich windenden Körper von Lo Valdearg richtete. Im Licht der Sterne von Avalon über ihnen funkelten die Schuppen auf seiner Stirn wie Smaragde. »Fürchtet mich nicht«, sagte er mit Donnerstimme, die dennoch nicht beängstigend klang. »Ich bin Basilgarrad.«

Keines der Kinder sagte etwas. Ehrfürchtig und ungläubig starrten sie dieses riesige Wesen an, das so plötzlich erschienen war. Einige der jüngsten Zwerge schluchzten weiter, während andere vom Klippenrand wegkrochen. Schließlich stieß das Mädchen mit der Axt die Klinge in den Boden. Sie spähte in eins der riesigen grünen Augen und schrie zum Kopf hinauf: »Bist du der Basilgarrad? Der Merlin vor einem bösen Kreelix gerettet hat?«

Der Drache nickte ganz leicht mit dem ungeheuren Kopf. Doch er zog die Augen schmal, als er sich an seinen Kampf mit dem Kreelix erinnerte – dessen Kraft zur Vernichtung von Magie häufig den Tod bedeutete, für Zauberer … und für Drachen.

Das Mädchen schaute hinunter auf die Axt. Die plötzliche Erinnerung an ihren Vater, der sie so mutig bis zum Moment seines Todes geschwungen hatte, füllte ihre Augen mit Nebel. Wieder hob sie das Gesicht zu Basilgarrad und fragte: »Warum hast du uns geholfen?«

Basilgarrad wandte sich von dem anderen Drachen ab, der weiter weggerollt war und immer noch seine schmerzenden Augen betastete, und senkte den Kopf ein wenig mehr. Als sein riesiger Schatten das Mädchen bedeckte, wichen viele andere Zwerge nervös zurück. Sie aber blieb reglos stehen und schaute zu ihm hinauf.

Schließlich sprach der grüne Drache, jetzt mit überraschend sanfter Stimme. »Weil, Kleines, ich einmal sehr klein gewesen bin. Noch kleiner als du.«

Sie blinzelte, so etwas konnte sie nicht fassen und schon gar nicht glauben. Wie konnte ein Geschöpf mit Flügeln, die sich über ein ganzes Tal streckten, einmal klein gewesen sein?

Basilgarrad spürte ihren Zweifel und lachte in sich hinein, ein volles, sprudelndes Geräusch, das tief in seiner Kehle widerhallte. Als sich seine großen Lippen teilten, enthüllten sie Zähne, die schärfer als Lanzen waren und wie Tausende von Wachposten in Reihen standen. Nur eine Lücke gab es, vorne im Mund, wo ein Zahn an auffälliger Stelle fehlte – das Ergebnis seines Kampfs mit dem Kreelix.

Plötzlich brach über ihnen ein Gebrüll los, das mit seiner Lautstärke die meisten Zwerge und mit ihnen das Mädchen umwarf. Basilgarrad fuhr herum, gerade als der purpurrote Drache mit weit ausgebreiteten Flügeln und ausgestreckten tödlichen Krallen auf ihn lossprang. Feuer glühte immer noch in den Funken zwischen seinen angesengten Barthaaren. Doch die wütenden Augen zwischen den Schwellungen glühten noch heller.

»Wie kannst du es wagen, mich herauszufordern?«, brüllte Lo Valdearg und spuckte Flammen bei seinem Angriff. »Wie kannst du es wagen, den größten Drachen aller Zeiten anzugreifen?«

Mit einer einzigen geschickten Bewegung drehte sich Basilgarrad auf die Seite. Er peitschte seinen enormen Schwanz hoch und schlug ihn mit solcher Kraft in den Bauch seines Gegners, dass Lo Valdearg vor Schmerz brüllte und sich kopfüber in die Luft warf. Bevor er richtig zur Besinnung kam, schwang Basilgarrad erneut seinen Schwanz und wickelte ihn um den Hals des Gegners. Mit mächtigem Gebrüll wirbelte er den purpurroten Drachen über die Klippe und in den See darunter. Das gewaltige Aufklatschen war bis zur höchsten Felsspitze zu hören und besprühte die jungen Zwerge mit Wasser.

Stille kehrte langsam zurück, nur von verklingendem Drachengebrüll und dem Klatschen der Wellen weit drunten unterbrochen. Basilgarrad wandte sich wieder dem Mädchen mit der Axt zu. Wasserspritzer glitzerten auf ihren Wangen, ein Tropfen rollte die Nase hinab. Das Mädchen war zwar kleiner als die kleinste Schuppe an Basilgarrads Körper, doch sie schaute furchtlos zu ihm hinauf. Ihr Gesicht glühte vor Dankbarkeit.

»Danke«, sage sie. Basilgarrad nickte, während er seine enormen Flügel auf den Rücken faltete. Sie beobachtete ihn einen Moment lang, dann setzte sie hinzu: »Ich kann gar nicht glauben, dass du jemals klein gewesen bist.«

»Oh, aber das stimmt«, dröhnte er. Mit seinen großen grünen Augen blinzelte er ihr zu. »Es ist allerdings ganz praktisch, dass ich nicht mehr so klein bin.«