Überraschungen haben etwas Sonderbares, besonders tödliche: Sie warten fast immer auf uns – selbst wenn wir sie nicht erwarten.
Weit, weit fort, in den äußersten Ausläufern von Malóch, rauchte und brodelte ein tödliches Moor. Schon manches Geschöpf war zufällig dort gewandert und hatte einen heftigen, schrecklichen Tod gefunden – von hungrigen Verfolgern zerrissen, um den Verstand gebracht durch die seltsamen Lichter und gespenstischen Geräusche, die durch die stinkenden Nebel drangen, oder von den gefürchteten Moorghulen in den fauligen Wassern ertränkt.
Besonders nachts stank das verhexte Moor – wie es von wandernden Barden treffend genannt wurde – nach Tod. Denn nachts, wenn die erstickenden Rauchschwaden alles verdeckten bis auf den zartesten Lichtschimmer von den Sternen, trieben sich die Moorghule frei herum, unsichtbar schwebten sie über dem modernden Torf und dem brodelnden Wasser. Selbst diese Geschöpfe, zum Leben im Moor bestimmt und lieber in den Sümpfen zu Hause als in der trockenen Wüste ringsum, machten sich nachts unsichtbar.
Sonst … starben sie. Langsam, unter Schmerzen, grässlich.
Die Nacht schien hier besonders dunkel. Dunkler als jeder andere Ort in Avalon, außer vielleicht im ewig lichtlosen Reich von Schattenwurzel, das aus irgendeinem geheimnisvollen Grund nie vom Leuchten der Sterne berührt wurde. Doch die Nacht in diesem Moor trug einen besonderen Umhang, aus Fäden von Angst, Trauer und Verzweiflung gewoben. Dieser Umhang sperrte Hoffnung ebenso aus wie Licht, sodass die Nacht noch dunkler als dunkel wurde.
In dieser besonderen Nacht regte sich nichts bis auf die gasförmigen Rauchschwaden, die flackernden Lichter und die stöhnenden Gestalten der Moorghule. Und nichts außer einer Gestalt – einer seltsamen, die vor Jahren in den fernsten und widerlichsten Teil des Moors gelangt war: in eine tiefe zerklüftete Grube, in der die Ghule lange die verwesten Reste ihrer Opfer gestapelt hatten. Diese Grube, seit Jahrzehnten angefüllt mit den Leichen von ertränkten, erschlagenen oder anders grausam des Lebens beraubter Geschöpfe, stank nicht nur nach Tod, sondern nach dem gemeinsamen Schmerz und Entsetzen aller, die gestorben waren.
Tief in dieser Grube bewegte sich die seltsame Gestalt langsam und zielstrebig. Wenn jemand zugeschaut hätte, wäre ihm etwas ganz falsch vorgekommen: Diese Gestalt konnte man tatsächlich sehen, sogar in dunkler Nacht.
Wie war das möglich? Nicht weil die Gestalt irgendeine Art Licht ausstrahlte. Nein, ganz im Gegenteil.
Diese Gestalt sandte eine noch tiefere Art Dunkelheit aus. Nicht nur die Dunkelheit der Nacht, nicht das reiche Schwarz, die Farbe von Ebenholz oder Obsidian – es war das absolute Fehlen von Licht. Die endgültige Finsternis der Leere.
Die Gestalt gehörte zu einem Wesen, das tatsächlich lebendig war. Weil es dunkler war als alles andere im verhexten Moor, glich es dem Schatten eines Schattens. Einem Spalt in der Nacht. Einem Loch in der Existenz.
Jetzt stand das sehnige Wesen aufrecht auf dem Boden der schrecklichen Todesgrube und schwankte von einer Seite zur anderen. Denn es trank, es berauschte sich an der Substanz, die seinen wachsenden Körper ernährte und seine wachsende Kraft stählte.
Blut? Nein, dieses Wesen hatte es längst aufgegeben, nur Blut zu trinken – obwohl es in seinen früheren Tagen, als es einem einfachen Egel glich, alles Blut aus vielen arglosen Opfern gesaugt hatte. Nicht wenige von ihnen hatten es ahnungslos diesem Moor, dieser stinkenden Grube näher gebracht. Und einige dieser Opfer hatten erfolglos versucht, seine Pläne zu vereiteln.
Eines dieser Geschöpfe, ein mächtiger Hirsch, die irdische Gestalt des Gottes Dagda, hatte das schlimme Geschöpf törichterweise den ganzen Weg aus dem Geisterreich nach Avalon getragen. Dieser Hirsch hatte, weil der Egel ständig durstig war, Blut verloren, das reich an Magie war. Jetzt, als sich der Egel daran erinnerte, wand er sich wütend. Denn wenn seine Pläne nicht durchkreuzt worden wären von einer elenden kleinen Eidechse – die irgendwie zu einem Drachen herangewachsen war –, dann wäre der Hirsch bestimmt ums Leben gekommen. Nicht wegen des Blutverlusts, sondern wegen der Gifte, die nur eine ganz besondere Egelart produzieren konnte.
Ein Egel, der in Wahrheit der Diener von Rhita Gawr war.
Jetzt, als riesiger Egel, größer als ein erwachsener Mann, trank das Werkzeug des Kriegsherrn des Geisterreichs eine wesentlich scheußlichere und sehr viel kräftigere Substanz als Blut. Er füllte sich mit dem Elend, Schrecken und Entsetzen dieses trostlosen Ortes. Durch die Zufuhr dieser Stoffe – des reinen Elixiers des Todes – würde er allmählich stärker werden als jedes irdische Wesen. Ja, einschließlich eines Drachen! Genau genommen so stark, dass sein Herr endlich nach Avalon kommen und diese Welt zu seiner eigenen machen konnte.
Jetzt aber lebte der Schattenegel nur für ein einziges Ziel: alles Leidende zu verzehren, was er nur finden konnte. Zu trinken von der Masse des Todes in diesem Moor. Und wenn es davon nicht mehr genug gab, wollte er für noch mehr Leiden und Tod sorgen – damit er weiter trinken und trinken und noch mehr trinken konnte.
Sobald er mächtig genug gewesen war, Nachwuchs hervorzubringen, hatte er deshalb seine eigenen Geschöpfe produziert. Das war schwierig gewesen, doch im Lauf der Jahre hatte er genau sieben erzeugt – eines für jedes Wurzelreich dieser Welt. Die Nachkommen, von denen jeder einem gemeinen Egel glich, waren in die Reiche geschickt und angewiesen worden, die Essenz allen Schmerzes und Leidens in ihrer Umgebung zurückzuschicken. Und alles in ihren Kräften zu tun, um mehr Elend auszulösen.
Erst vor Kurzem hatte der Nachkomme in Feuerwurzel seine schwarze Magie zur Übermittlung eines ungewöhnlich befriedigenden Tranks eingesetzt, der aus Zorn, Verzweiflung und Reue einer Familie gemacht war. Etwas an diesem Trank hatte dem Schattenegel irgendwie vertraut geschmeckt. Quälend vertraut. Aber er konnte weder Kraft noch Zeit daran verschwenden, zu klären, warum.
Das Geschöpf der Finsternis schwankte etwas lebhafter und saugte alles Elend ein. Jeder Gedanke an die nächste Mahlzeit ließ es vor Erwartung zittern. Ja … die Mahlzeit würde es schneller wachsen lassen, seine Kräfte vervielfachen und ihm dazu verhelfen, dass es endlich das Tor für Rhita Gawrs Eroberung von Avalon öffnete.
Und noch etwas. Diese nächste Mahlzeit würde wahrhaftig den Namen rechtfertigen, den der Egel angenommen hatte – einen Namen, der in der Sprache des Geisterreichs dunkler als dunkel bedeutete. Ein Name, der in dieser Welt bald ein Synonym für Tod sein würde.
Doomraga.
Wieder bebte der Schattenegel. Ein tiefes rotes Leuchten, das pulsierte wie eine Wunde, erschien oben auf seiner Gestalt – das blutrote Auge des Wesens. Dann kam aus der unendlichen Schwärze seines Körpers ein eiskalter Windstoß, der sogar die Moorghule frieren ließ. Dieser Wind trug noch eisigere Worte:
»Doomraga. Dunkler als dunkel.«