Wer gesagt hat »Vor dem Morgengrauen ist es immer am dunkelsten« war in dieser langen Nacht eindeutig nicht bei mir.
Eines Nachts lag Basilgarrad allein am Rand der Prismenschlucht in den oberen Regionen von Wasserwurzel. Er konnte nicht schlafen. Sein Schwanz, der auf dem vielfarbigen Sims ausgestreckt war, leuchtete von dem roten, gelben und violetten Staub, der im Sternenlicht schimmerte, während er sich drehte und wälzte.
An diesem Tag hatte er von einer durchreisenden Sylphe gehört, dass die Feuerdrachen sich zu einem weiteren Angriff auf Waldwurzel sammelten. Bis jetzt hatte er sie davon abgehalten, viele Bäume niederzubrennen, aber wie viel länger konnte er durchhalten? Die Sylphe berichtete auch warnend, dass sie versucht hatten, ein Bündnis mit Bendegeits Wasserdrachen zu schließen – und dass sie einen Aufstand gegen ihn angezettelt hatten, als der Herrscher ihren Vorschlag ablehnte. Narbengesicht von der fürstlichen Wache, den Basilgarrad mit so viel Vergnügen überlistet hatte, war Anführer des Aufstands gewesen und hatte sich geschlagen geben müssen. Bendegeit triumphierte und bewahrte seine Regentschaft. Doch es gab keine Garantie, dass es in Zukunft nicht zu einem weiteren Aufstand kommen würde – mit einem anderen Ergebnis.
Und was war mit Marnya? Hatte sie den Aufstand überlebt? Basilgarrad schauderte am ganzen Körper und schickte eine vielfarbige Staubwolke vom Sims. Näher als bis zu diesem nächtlichen Lager an der Schlucht war er seit seinem Besuch in Bendegeits Höhle ihrem Zuhause in den Regenbogenmeeren nicht gekommen. Seit damals hatte er oft an sie gedacht – öfter, als er zugeben wollte. Er hatte gehört, dass sie ihre neu entdeckten Flugkünste weiter übte und häufig beim Schweben durch diese Nebel dort gesehen worden war. Er hatte sie schon lange besuchen wollen, doch seine unaufhörliche Arbeit machte das unmöglich. Warum denke ich an sie?, fragte er sich mit einem ärgerlichen Brummen. Ich sollte schlafen, solange das möglich ist.
Noch als er die Frage stellte, wusste er schon die Antwort. Etwas in den leuchtend blauen Augen und der Abenteuerlust dieses Drachenmädchens, etwas an der Art, wie sie vor Entzücken brüllte, als er sie in die Luft getragen hatte, war ihm tiefer gegangen, als er erwartet hatte.
Vergiss es, sagte er sich ärgerlich. Du hast zu viel Arbeit zu erledigen!
Arbeiten. Das war alles, was er machte. Je mehr sich Avalons Probleme vervielfältigten, desto mehr eilte er von Reich zu Reich und versuchte, etwas gegen den neuesten Anschlag zu tun. Mit welchem Erfolg? Wirklich nicht viel. Zwar war es ihm gelungen, in zahlreichen Fällen Gewalt und Zerstörung zu unterbinden, dennoch konnte die bittere Wahrheit nicht geleugnet werden. Avalon starb! Was er auch tat, das Ausmaß der Probleme wuchs.
Ich muss etwas anderes versuchen. Etwas drastisch anderes. Aber was?
Er hob den enormen Schwanz und schlug ihn auf den felsigen Sims. Staub in allen Schattierungen stieg in die Luft und verhüllte die Sterne, während abgeschmetterte Felsbrocken die Schlucht hinabpolterten. Es ist Zeit, schwor er mit plötzlicher Eingebung, Merlin zu finden! Ihn zu überzeugen, dass er zurückkommen muss.
Aber wie? Basilgarrad schaffte das nicht. Wenn er Avalon auch nur für ein paar Tage verließ – oder selbst ein paar Minuten, wie die Dinge standen –, würden die Reiche bestimmt in Chaos versinken. Was immer die Schattenbestie sein mochte, welchen Mächten sie auch diente, sie würde dann triumphieren. Und die Suche nach Merlin würde bestimmt mehr als ein paar Tage dauern.
Er hob das große Gesicht zum sternenübersäten Himmel. Eines dieser Lichter war vielleicht die Welt, die Erde genannt wurde. Er müsste den großen Baum bis zur äußersten Spitze des höchsten Astes erklettern – und danach kam die Reise darüber hinaus. Wem konnte das möglicherweise gelingen?
Er wusste, Rhia war die beste Wahl. Sie verfügte über alle nötigen Fähigkeiten – Mut, Kühnheit, Weisheit und diese Überredungskunst, die damit zu tun hatte, dass sie Merlins Schwester war. Basilgarrad seufzte schwer und löste einen Staubsturm am Rande der Schlucht aus. Denn seit seinem letzten Besuch bei Rhia wusste er, dass sie nicht dazu bereit war. Zu gar nichts. Er verzog grimmig das Gesicht, als er sich an ihr Gespräch außerhalb der wiederaufgebauten Mauern um ihr Gelände erinnerte.
»Ich habe einen Entschluss gefasst, Basil«, hatte sie erklärt. Dabei schaute sie zu ihm auf und schüttelte den Kopf, dass ihre silbrigen Locken auf die Schultern fielen. »Einen Entschluss« – sie hielt inne und schob das Kinn vor – »wegzugehen.«
»Weggehen?«, hatte der Drache überrascht gebrüllt. »Wohin?«
»Ich weiß nicht.« Ihre Augen zeigte tiefe Traurigkeit. »Ich bin nur überzeugt, dass es Zeit für mich ist, dieses Gelände, dieses Reich zu verlassen … und nie zurückzukommen.«
Sie zwirbelte eine Ranke an ihrem Ärmel. »Alle diese Kämpfe, dieses Töten – Basil, es bricht mir das Herz. Und, was fast so schmerzlich ist, die Gemeinschaft wird von Angst beherrscht. Priester und Priesterinnen verhalten sich immer starrer, täglich sind sie mehr in fundamentalistischen Anschauungen befangen. Das ist nicht mehr der Orden, den meine Mutter gegründet hat, ein Orden, der auf Liebe und Respekt für alle lebenden Geschöpfe beruht.«
»Aber du bist die Hohepriesterin!«
Rhia schüttelte den Kopf. »Nicht mehr.«
»Willst du dir das nicht noch einmal überlegen?«, bat er dringlich. »Wir brauchen dich hier, Rhia. Um für Avalon zu kämpfen! Wir können es immer noch retten, wenn wir …«
Sie unterbrach ihn. »Nein. Ich habe einfach nicht die Kraft, Basil. Und auch nicht den Willen.« Sie atmete langsam aus. »Und ohne das … bin ich nur eine Last. Deshalb muss ich weggehen.«
Und so hatte ihr Gespräch geendet. Würde es das letzte sein? Würden sie sich eines Tages in der Zukunft wiederbegegnen? Das konnte niemand wissen.
Basilgarrad regte sich ruhelos auf dem Rand der Schlucht. Trübsinnig hob er den Kopf und schaute auf den schwarzen Spalt am nächtlichen Himmel, wo eine helle Sternenreihe einst ungestüm gestrahlt hatte. Der Zauberstab. Wohin waren diese Sterne verschwunden? Warum waren sie dunkel geworden? Welche Rolle spielte diese verschwundene Konstellation in dem schwer fassbaren Rätsel von Avalons Schicksal – dem Rätsel, das ihn so lange schon quälte?
Er wusste, alle diese Fragen konnte nur Merlin beantworten. Genau wie er wusste, dass es nur noch eine Person in ganz Avalon gab, die vielleicht erfolgreich auf die Suche nach Merlin gehen konnte. Die allerletzte Person, die Basilgarrad fragen wollte. Die allerletzte Person, die zum Helfen bereit sein würde.
Der Drache, der immer noch auf den leeren Fleck am Himmel schaute, knirschte mit den Zähnen. So schwer es auch sein mochte, er musste es versuchen. Morgen würde er zu Krystallus fliegen.