Manchmal sieht ein Sieg aus wie ein Totalverlust und riecht auch so.
Basilgarrad flog schnell und riss dabei mit den Flügeln die Spitzen hoher, dicker Wolken ab. Weit ausgebreitet glitzerten diese Flügel, jede der Tausende grüner Schuppen war mit Nebel von den Wolken bedeckt, jeder ihrer kräftigen Muskeln von Dunstbächen gesäumt. Bei jedem rhythmischen Schlag flossen Tücher aus Tropfen von den hinteren Rändern der Flügel und bildeten Schleppschleier, die regenbogengleich schimmerten.
Aber der Drache genoss diesen Flug zurück nach Waldwurzel nicht. Überhaupt nicht. Noch nicht einmal das Gefühl, Merlin auf dem Kopf zu tragen, der sich mit einem Arm um das Ohr seines großen Freundes in den Wind lehnte, gab Basilgarrad irgendeinen Trost.
Seit sie den Schauplatz der Seuche verlassen und Rhia, Lleu und Nuic in ihr Heim auf dem Gelände der Gesellschaft zurückgebracht hatten, spürte Basilgarrad ein bedrohliches Gewicht in sich anschwellen. Es bremste seine Flügel, lastete schwer auf jedem Gedanken und zermalmte seine Hoffnungen wie eine Verstandesfäule.
Diese Schattenbestie!, zürnte er schweigend. Von dem Moment an, in dem er ihre sich windende Gestalt in Bendegeits Kugel gesehen hatte, wurde er das Gefühl nicht los, dass sie mit jedem Tag stärker wurde. Dass sie es war, die hinter allen Problemen Avalons steckte. Und dass sie ihn auslachte – krächzend lachte – wegen seines Versagens, ihre Pläne zu durchkreuzen.
Ich weiß noch nicht einmal, was sie ist, knurrte er, und schon gar nicht, wo sie ist. Wir sind nicht klüger, als ich war, bevor ich zu Bendegeits Höhle ging!
»Das stimmt nicht«, erklärte Merlin, der Basilgarrads Gedanken mitgehört hatte. Direkt ins Ohr des Drachen sagte er: »Dank dir wissen wir jetzt, dass es eine zentrale Ursache für diese ganze Bösartigkeit gibt. Wir wissen nicht, was oder wo es ist – das stimmt. Aber das werden wir herausbekommen! Sicher.«
Doch selbst Merlins ermutigende Worte hoben Basilgarrads Stimmung nicht. Während er durch eine weitere Wolkenwand segelte und leuchtenden Nebel hinter sich verstreute, knirschte er mit seinen Hunderten von Riesenzähnen.
Ich weiß nur, dass die Bestie böse ist. Ganz und gar böse. Die Worte, die ihm eingefallen waren, als er sie wiedergesehen hatte, hallten in seinem Kopf wider. Dunkler als dunkel.
Er neigte sich von der Schnauzenspitze bis zur Schwanzkeule auf eine Seite, um einer besonders dunklen Wolke auszuweichen. Blitz zischte und funkelte darin. Rumpelnder Donner erfüllte die Luft und hatte ein Echo wie das Gelächter der Schattenbestie.
Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass ich diese Bestie schon zuvor getroffen habe?
»Versuch an etwas anderes zu denken, alter Freund«, riet die Stimme in seinem Ohr. »Etwas Angenehmeres. Wie wär’s mit diesem unwiderstehlichen Drachenmädchen, das du in Wasserwurzel kennengelernt hast? Das fliegen wollte?«
Basilgarrad schüttelte den Kopf und warf damit Merlin beinah um. Nicht einmal die Erinnerung an Marnya konnte ihn im Moment von seinen Sorgen ablenken. Denn diese Sorgen gingen etwas viel Größeres an als ihn: Avalon, diese einmalige und gefährdete Welt.
Merlin seufzte und füllte damit das Drachenohr mit einem melancholischen Wind. »Das verstehe ich, mein Freund. Ich bin genauso besorgt. Als ich sah, wie Rhias Rankenanzug wieder seine frühere Vitalität bekam, wurde ich wieder vergnügter – wie bei ihrem Jubelschrei, als ich sie bat, den Élanokristall aufzubewahren. Aber diese kurzen Momente hielten nicht lange vor. Meine Stimmung ist so düster wie selten gewesen. So dunkel wie das Ding, das du gesehen hast.«
Unter ihm schauderte der Drache. Merlin überlegte laut: »Vielleicht hilft uns der Besuch bei Hallia! Und vielleicht erreicht der Anblick deines Lieblingswalds das Gleiche.«
Die ersten Haine von Waldwurzel waren zu sehen, ein Flickenteppich aus verschiedenem Grün, mit Nebel durchsetzt. Als sie aus den Wolken brachen, nahm Basilgarrad den Duft des Flieders von den violett schattierten Bäumen von Fairlyn Valley wahr. Ohne darüber nachzudenken, löste er seinen eigenen Fliederduft aus und verstärkte damit das Aroma von unten. Doch noch nicht einmal dieses Erlebnis konnte die anhaltenden Schatten von seiner Stimmung vertreiben.
»Dort!«, rief Merlin. »Unten auf dieser Wiese.«
Sofort steuerte Basilgarrad nach links, er wusste genau, was der Zauberer gesehen hatte. Eine Hirschherde sprang anmutig durch das Gras einer weiten Wiese. Er glitt immer tiefer. Noch bevor er am Wiesenrand landete, trennte sich ein Hirsch – eine langbeinige Hirschfrau mit ungewöhnlich großen Augen – von den anderen und lief auf sie zu, die Hufe flogen übers Gras.
Merlin kletterte schnell von seinem Sitz, wobei er Basils Ohr als biegsame Leiter benutzte. Die Hirschfrau sprang inzwischen näher. Während beide sie beobachteten, veränderte sie sich: Anmutige Vorderbeine verkürzten sich zu Armen, Hinterbeine streckten sich aufrecht und der Rumpf hob sich in die Senkrechte. Zugleich wurden Hals und Kinn kürzer, die Ohren schrumpften, der Kopf bekam einen kastanienbraunen Zopf, während ihr braunes Fell zu einer braunen Tunika wurde. Als die Hirschfrau, jetzt ganz in Hallia verwandelt, auf sie zukam, blieben nur ihre großen braunen Augen unverändert.
Der Zauberer öffnete die Arme, um sie an sich zu drücken. Zu seiner eigenen Überraschung betrachtete Basilgarrad die beiden mit ungewöhnlichem Interesse. Sein Herz schlug schneller, sein langer Hals bog sich zu ihnen. Warum, konnte er nicht erklären. Bestimmt hatte es nichts zu tun mit diesem Wasserdrachen Marnya! Aus welchem Grund auch immer, er sah zu, wie das wiedervereinte Paar sich umarmte und küsste und dann zu einem plätschernden Bach ging, der durch die Wiese floss.
Die Feierlaune verschwand schnell, als Merlin Hallia von all ihren Kämpfen erzählte. Die Unruhen in Feuerwurzel – mit gierigen Drachen und Zwergen, so stur wie Zorgat, der seinen Obsidianpfeil zerbrochen hatte. Die heftige Auseinandersetzung der Vögel auf der Wolkenbrücke. Die schreckliche Reise zum geheimen See voll Élano – und ihr Sieg, zumindest vorübergehend, über die Seuche. Und Basilgarrads bedrohliche Entdeckung in der Höhle des Regenten der Wasserdrachen.
»Was bedeutet das alles?«, fragte Hallia, die Hände an den Wangen. »Wie machen wir diesen Störungen ein für alle Mal ein Ende?«
Merlin schaute einen Moment in den plätschernden Bach, dann schüttelte er den Kopf. »Ich weiß es wirklich nicht.« Er winkte zu Basil hinüber. »Und er auch nicht, fürchte ich.«
Aber ich werde die Antwort finden, versprach der Drache leise.
Ich weiß, dass du das tun wirst, mein Freund, antwortete Merlin. Doch selbst telepathisch klang er nicht überzeugt.
Abrupt richtete Hallia sich auf. Sie schob das Kinn vor wie eine Hirschkuh, die entschlossen ist, ihr Kalb zu beschützen. »Wenn du nächstes Mal irgendwohin gehst – egal wohin –, will ich mitgehen.«
Merlin nahm ihre Hand. »Nein, Hallia, nein. Die Gefahren, die Risiken – das ist zu unsicher. Nein.«
Sie zog ihre Hand weg. Streng sagte sie: »Du nimmst deine Schwester Rhia mit auf riskante Reisen, durch Pforten und sogar tief unter die Erde. Warum nicht mich?«
»Nun, ich …«, fing er an.
»Ja?« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Sind meine Wünsche weniger wichtig als die von Rhia? Bin ich weniger wichtig für dich?«
Beeindruckt neigte Basilgarrad die Ohren vor. Kluge Geschöpfe, diese Frauen.
Zu klug, gab Merlin zurück. Sie hat mich in der Falle! Was kann ich tun?
Nein! Zu Hallia sagte Merlin: »Aber …«
»Da gibt es nichts zu besprechen«, sagte sie kurz. »Entweder ich bin ebenso wichtig für dich oder nicht.«
Merlin runzelte die Stirn, während er Hallia anschaute. »Nun gut. Auf der nächsten Reise, wenn sie nicht äußerst töricht ist, nehme ich dich mit.«
Dir ist klar, gab der Drache telepathisch zu bedenken, dass damit fast alle unsere Reisen nicht infrage kommen. Aber Merlin achtete nicht darauf.
Doch Hallia schien zufrieden. Sie nahm wieder Merlins Hand und sagte: »Das ist alles, was ich mir wünsche.«
»Alles, was ich mir wünsche«, entgegnete er, »ist deine Sicherheit.« Er verzog das Gesicht. »Ich könnte es nicht ertragen …«
»Psst.« Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen. »Das wird nicht geschehen.« Dann beugte sie sich vor. »Keinem von uns, mein Falke.« Sie lächelte ihm zu und es war ein Lächeln inniger Zuneigung.
Gut gemacht, großer Zauberer. Basil senkte eins seiner Ohren, womit er eine Verbeugung andeutete. Du hast genau gewusst, wann du aufgeben musst.
Merlin schaute kurz in seine Richtung und blinzelte ihm zu.
Sie hat dich gerade besiegt.
Der Zauberer grinste ganz schwach. Das hat sie schon vor langer Zeit getan.
Alle drehten sich um, als ein raues Gezeter die Luft erfüllte. Ein schwarzer Vogel kam näher, er flog im Zickzack über die Wiese. In den Krallen trug er einen schlanken Gegenstand. Merlin, Hallia und Basilgarrad beobachteten den Vogel, der erschöpft neben ihnen ins Gras fiel.
»Zorgats Zwergrabe!«, rief Merlin und sprang auf die Füße.
Hallia tauchte ihre gewölbten Hände ins kalte Bachwasser und brachte dem Vogel etwas zu trinken. Er senkte den Schnabel in die winzige Pfütze und trank gierig.
Basilgarrads Nüstern weiteten sich. »Und schaut nur, was er gebracht hat.«
Merlin betrachtete den schlanken Gegenstand genauer, den der Rabe den ganzen Weg von Feuerwurzel bis hierher getragen hatte. »Zorgats Pfeil!« Er tauschte Blicke mit Basil. »Der Schaft ist repariert!«
»Er muss bereit sein, über einen Vertrag mit den Drachen zu sprechen«, erklärte Basilgarrad. Er peitschte die Wiese mit seinem großen Schwanz und ließ dadurch den Bach über seine Ufer spritzen. »Vielleicht gibt es noch Hoffnung für Feuerwurzel.«
Der Zwergrabe gab ein lautes Krächzen von sich. Merlin hob seinen Stab auf, den er neben den Bach gelegt hatte. Dabei erwiderte er Hallias Blick. »Bist du bereit für diese Reise?«
Sie nickte eifrig.
Er legte ihr die Hand auf die Schulter. »Das könnte unsere Chance sein, den Lauf der Dinge zu wenden – wenigstens in Feuerwurzel. Und wenn wir dort wieder Frieden herstellen können, dann gelingt uns das vielleicht überall, in ganz Avalon!« Er zog die buschigen Augenbrauen zusammen, sodass sie ein dunkles Dickicht über seinen Augen bildeten. »Beim geringsten Anzeichen von Gefahr musst du aber weg.«
»Einverstanden«, entgegnete sie.
»Das lässt sich leicht machen«, mischte sich Basilgarrad ein. »Bei Anzeichen von Gefahr will ich auch weg.«
Merlin kniff die Augen zusammen. »Du bist vielleicht ein Drache!«, hänselte er.
Basilgarads Ton war ernst geworden. »Nur ein Drache, der Frieden dem Krieg vorzieht.«
Merlin schaute seinem Freund in die großen grünen Augen. »Genau wie wir alle«, sagte er ernst. »Genau wie wir alle.«