12

Grüne Flammen

Keine Flamme ist strahlender als die Hoffnung. Sie erhellt das Gemüt und wärmt das Herz … selbst wenn nichts mehr brennt als die Dunkelheit selbst.

Merlins Gesicht wurde von den flackernden grünen Flammen der Pforte beleuchtet, als er seinen Stab in den Gürtel schob. Eine Hand streckte er Rhia entgegen, die Nuic in der Armbeuge trug. Die andere Hand fasste die von Lleu.

»Macht den Kopf ganz leer«, riet er. »Denkt an gar nichts als an die magische Substanz Élano, das Lebensblut des großen Baums von Avalon. Und warum wir es finden müssen – um unsere Welt zu retten! Wer seine Gedanken auch nur eine Sekunde abirren lässt, stirbt schnell und qualvoll.«

Leise fügte Rhia hinzu: »Oder langsam und qualvoll.«

Merlin drückte ihre Hand. »Bleibt bei mir, dann passiert euch nichts. Das gilt für euch alle.« Aber es klang nicht völlig überzeugt. »Kommt jetzt, wir gehen.«

Gemeinsam traten sie an den Rand der Grube. Grünes Feuer leckte prasselnd und flackernd an ihren Füßen. Merlin schaute kurz nach links und rechts, dann atmete er tief ein.

»Jetzt.«

Die Gefährten sprangen in die Luft und fielen in die Grube. Knisternde Flammen ragten über sie – und sie verschwanden.

Grünes Feuer überwältigte, verzehrte sie – und durchdrang sie schließlich. Durch die lebendigen Adern des Baums flossen sie, bogen hier scharf ab, fielen dort steil hinunter, schwammen immer tiefer in das innerste Herz ihrer Welt. Dahin und hinein trieben sie, getragen von den knatternden Funken von Élano: teils Licht, teils Leben, teils Geheimnis.

An manchen Stellen schienen die Feuer zu verlöschen, die Reise wurde langsamer. Einmal glimmten sie nur noch, flackerten aber gerade rechtzeitig wieder auf, um die Gefährten weiterzutragen. Doch es war kein Zweifel möglich: Die Pforten – und vielleicht der Baum selbst – wurden schwächer.

Ständig füllte ein reichhaltiger, harziger Geruch ihr Bewusstsein – der Duft von Wäldern, Bäumen, vom Waldleben, das sich seit zahllosen Zeiten erneuerte. Noch mehr als die Flammen schien dieser Geruch das Wesentliche ihrer Reise zu sein, der ständige Hinweis auf die zerbrechliche Schönheit, die sie umgab.

Plötzlich taumelten sie in einer Funkenexplosion aus der Pforte auf festen Steinboden. Sie brauchten einen Moment, bis sie sich entwirrt hatten und auf den Füßen standen, und einen zweiten, bis sich die Augen an das trübe, milchige Licht gewöhnt hatten, das von überall und nirgendwo zugleich zu kommen schien.

»Wo sind wir?«, fragte Rhia. Der Hall ihrer Stimme und sein Echo waren rundum zu hören.

»Am Leben zunächst mal«, sagte Lleu und rückte seine verdrehte Tunika zurecht. »Und das ist ein Segen.«

»Für dich vielleicht«, brummte Nuic. Selbst in dem milchigen Licht sah sein kleiner Körper sehr dunkel aus.

»Wir sind in einer Höhle«, stellte Merlin fest, »tief unter der Oberfläche. Ob es die richtige Höhle ist, kann ich nicht sagen.« Er schaute zurück zur Pforte, deren Flammen schwach flackerten, und runzelte die Stirn. »Wir sollten das schnell herausfinden, bevor diese Pforte sich nicht mehr öffnet.«

»Und wir für immer hierbleiben müssen«, fügte Nuic düster hinzu.

Merlin zog seinen Stab aus dem Gürtel und hielt ihn sich vors Gesicht. Vorsichtig blies er auf den knorrigen Griff. Sofort begann der Stab zu leuchten wie eine kräftige Fackel und schickte sein Licht in alle Richtungen.

Was für eine Höhle! Riesige gebogene Pfeiler, gewunden wie enorme Wurzeln, ragten auf und vereinten sich so hoch oben, dass man es nicht sehen konnte. Rund um die Gefährten wellten sich Felswände, als wären sie gefrorene Wogen. Am Fuß einer dieser Wände brannte das Feuer der Pforte und spuckte grüne Funken auf den Boden.

Doch das Licht dieses Feuers erklärte nicht die schwache weiße Helligkeit, die sie bei ihrer Ankunft bemerkt hatten. Es war Merlin, der als Erster erkannte, woher dieses Licht kam. Er musterte die Höhlenwände und nickte. Denn da, im Fels, waren Tausende und Abertausende leuchtender Kristalle.

»Élanokristalle!«, flüsterte er. »Überall rundum.«

Mit erhobenem Stab ging er zur nächsten Wand. Vorsichtig legte er die Hand an den Fels. Milchweißes Licht leuchtete durch die Handfläche und jeden seiner Finger, alle Knochen und Muskeln unter der Haut waren sichtbar. Der Fels fühlte sich warm an – nicht nur die Wärme von Hitze war spürbar, eine physikalische Erscheinung, sondern auch die tiefere Wärme von etwas Geistigem: einem Gefühl der Zugehörigkeit zum ganzen Universum, der Zufriedenheit, ein Blick auf die rhythmischen Muster des Lebens.

Merlin drehte sich Rhia zu, sein Gesicht sah jünger aus als seit vielen Jahren. Dann, als er die Hand von der Wand nahm, wurde der Ausdruck plötzlich sachlich. »Es ist hier, rundum. Aber wie können wir es bekommen? Wir würden Werkzeug brauchen, Hammer und Meißel, um auch nur einen Bruchteil abzuschlagen.«

»Vielleicht nicht.« Lleu trat vor. Als die anderen ihn verwundert anschauten, legte der Priester sich eine Hand ans Ohr. »Horcht«, sagte er leise. »Horcht nur.«

Alle standen schweigend da und atmeten so leise wie möglich. Doch bis auf das gelegentliche Knarren eines Stiefels oder das Rascheln eines Ärmels vernahmen sie keinen Laut – nichts als die außerordentliche Ruhe in der Höhle.

Dann … war etwas anderes zu hören. Leise, zart und weit entfernt, äußerst behutsam, doch unverkennbar. Tropf … tropf … tropf.

»Wasser!«, rief Merlin. Lächelnd drehte er sich zu Lleu um und drückte dessen Schulter. »Nicht zu knapp.«

Der Priester grinste. »Ein junger Zauberer, den ich vor einiger Zeit kennenlernte, lehrte mich, dass die Gaben, die du geschenkt bekommst, nicht annähernd so wichtig sind wie der Gebrauch, den du davon machst.«

Rhia stellte sich neben Merlin. »Und wo an einem solchen Ort Wasser tropft, da könnte auch …«

»… ein Teich sein«, sagte Lleu. »Ein Teich voll destilliertem Élano.«

»Stimmt.« Der Magier hob seinen leuchtenden Stab und warf dabei entstellte Schatten an die Wände. »Das sollten wir herausfinden, einverstanden?«

»Hmmmpff.« Nuic stand neben der Pforte. »Ich will dein Temperament nicht dämpfen, aber ich schlage vor, dass du dich bei deinem Vorhaben beeilen solltest.«

Alle drehten sich um zu ihm – und der Pforte. Die Flammen waren am Erlöschen! Sie flackerten, zischten und wurden mit jeder Sekunde kleiner.

»Kommt!«, rief Merlin und rannte auf das tropfende Geräusch zu. Schritte hallten durch die Höhle, als Lleu und Rhia, die Nuic aufgehoben hatte, hinter ihm herrannten. Schatten flackerten über die funkelnden Wände, als würden sie mit den Gefährten um die Wette laufen.

Plötzlich blieb Merlin stehen. Die anderen prallten von hinten fast auf ihn. Doch wie er konnten sie nur verwundert auf die Szene vor ihnen starren. Überall rann Wasser aus den zahllosen Wandspalten und tropfte von den wurzelähnlichen Pfeilern – in einen schimmernden weißen See. Die leuchtende Oberfläche erstreckte sich bis in die Ferne. Ein See von dieser Größe wäre oben riesig erschienen, hier unten, weit unter der Oberfläche, wirkte er noch größer.

»Ein Élanosee«, sagte Merlin leise und betrachtete ihn ehrfürchtig. »So viel Magie, so viel Leben!«

»Und was willst du jetzt unternehmen, großer Zauberer?« Nuics raue Stimme hallte von den Wänden und wurde vom ständigen Tropfen und Platschen unterstrichen. »Einen Schluck trinken und im Mund aufbewahren, bis wir zurückkommen?«

»Nein«, kam unbeirrt die Antwort. »Ich habe eine bessere Idee.«

Ruhig ging er an den Rand des Sees. Schimmernde weiße Flüssigkeit schlug an die Spitze seiner Stiefel – niemand bemerkte es zwar, doch mehrere Löcher in dem abgetragenen Leder reparierten sich auf magische Weise. Langsam hob Merlin seinen leuchtenden Stab, wobei er sich an den Tag erinnerte, an dem er ihn zum ersten Mal umfasst und seinen Tannenduft eingeatmet hatte. So lieb war ihm der Stab in den Jahren seit jenem Tag geworden, dass er ihm einen eigenen Namen gegeben hatte: Ohnyalei, das bedeutete Geist der Gnade.

Er hielt den Stab aufrecht, dann senkte er ihn vorsichtig, sodass die Spitze fast die Oberfläche des weißen Sees berührte. Er sah die Maserung des Holzes an, wie jemand das Gesicht eines alten Freundes betrachtet, und begann einen Sprechgesang:

Élano, Seele des Baums, horch und sei

Bereit für den Zauber, den Stab Ohnyalei.

Mit höchster Konzentration senkte er die Stabspitze in den See. Wo Holz und Wasser aufeinandertrafen, breiteten sich winzige weiße Wellen aus. Rasch wurden sie zu brodelndem, quirlendem Schaum. Der See schien um die Spitze herum zu kochen, während der Stab in Merlins Händen heftig zitterte. Die ganze Zeit drückte er den Stab fest – so fest, dass seine Knöchel weiß wie das schaumige Wasser wurden.

Schließlich ließ das Brodeln nach. Das Wasser wurde wieder still, nur ein paar Wellchen blieben zurück. Bleich und erschöpft hob der Magier den Stab vom Wasser. Dort, an der Spitze, leuchtete ein perfekt geformter, siebenseitiger Kristall. Er funkelte mit weißen Strahlen, so hell wie ein Stern – ein Kristall aus reinem Élano.

So müde Merlin auch war, es gelang ihm, schwach zu lächeln. Dem Stab in seinen Händen flüsterte er zu: »Wir haben es geschafft, mein Freund.«

Doch es blieb keine Zeit, den fantastischen Kristall an der Spitze seines Stabs zu bewundern oder am See zu trödeln. Mit einem raschen Blick zu Rhia drehte Merlin sich um und fing an, durch die Höhle zurückzulaufen, obwohl seine Beine schwer wie Stein waren. Keuchend vor Erschöpfung, hin und wieder stolpernd, zwang er sich zu möglichst schnellem Tempo. Die anderen rannten mit ihm, ihre Schritte hämmerten.

Wenig später erreichten sie die Pforte – gerade als der letzte zarte Hauch einer Flamme zischte und verschwand. Wo das grüne Feuer gebrannt hatte, war nur noch ein verkohltes Loch in der Höhlenwand.

Mehrere Sekunden lang konnten die Gefährten dieses dunkle Loch nur anstarren. Merlin schwankte und lehnte sich an Rhia. Seine Blicke schossen von der toten Pforte zu dem kostbaren Kristall, den sie so mühsam gefunden hatten. Sie waren so weit gekommen, wie konnte ihnen jetzt die Heimkehr verwehrt sein? Jetzt, wo sie vielleicht Waldwurzel – und das übrige Avalon – von der schrecklichen Seuche retten konnten, sollten sie da nie diese Höhle verlassen?

So schwach Merlin auch war, in seinem Kopf funkte plötzlich ein Gedanke, der schnell zu einer eigenen Flamme heranwuchs. Der Magier hob seinen Stab und pflückte den Kristall von der Spitze. Behutsam legte er das wunderbare Ding auf den Steinboden, direkt vor das Loch, in dem vor so kurzer Zeit das magische Feuer gebrannt hatte. Dann sprach er mit einer Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war.

»Bitte«, sagte er. »Entfache wieder das Feuer. Erleuchte wieder die Pforte.«

Einen quälenden Moment lang geschah nichts. Dann … stieg ein murmelndes, zischendes Geräusch aus dem Loch. Der Geruch von Baumharz zog durch die Luft. Plötzlich prasselte es und die strahlend grünen Flammen der Pforte brachen aus.

»Rasch!«, rief Merlin. »Solange es andauert!«

Er hob den Kristall auf und legte ihn in die Tasche seiner Tunika, dann schob er den Stab in seinen Gürtel. Er streckte eine Hand Lleu, die andere Rhia mit Nuic auf dem Arm entgegen und holte tief Luft. Sowie sie sich an den Händen hielten, sprangen sie gemeinsam in die Flammen. Das Feuer prasselte laut und schluckte sie.

Stille kehrte in die unterirdische Höhle zurück. Kein Geräusch hallte zwischen den leuchtenden Wänden bis auf das ständige Prasseln von Flammen und das unaufhörliche Wassertropfen – Laute, die begonnen hatten, als die Welt von Avalon entstand.