23

Ein unerwartetes Geschenk

Am meisten fürchte ich, was ich am wenigsten kenne.

Nach wenigen Minuten zog sich Krystallus leise über das Geländer von Königin Serellas Balkon. Einen Moment blieb er stehen und horchte auf das ständige Klatschen der Wellen weit unten, dann schlich er verstohlen näher an ihr Zimmer. Er duckte sich unter ein offenes Fenster und konnte hineinspähen, ohne entdeckt zu werden.

Was er sah, bestätigte seine Hoffnungen. Alle Wände waren mit poliertem Treibholz bedeckt und enthielten Dutzende von Regalen, die sich unter unzähligen Schätzen aus Serellas Reisen bogen. Da gab es drei kostbare Feuersteine, die leuchteten wie flüssige Lava, aus Rahnawyns Vulkanen, ein Stück singendes Holz aus den Höhlen von El Urien und eine luftig wirkende Blume, die rosa leuchtete und aus den Wolkengärten von Y Swylarna stammen konnte. Dazu kamen komplizierte Schnitzereien, bemalte Masken, glänzende Perlenschnüre, mindestens drei mit Edelsteinen besetzte Schwerter, ein magischer Drachen, der ohne Wind über dem Bord schwebte, eine Jadeharfe mit Saiten aus Einhornmähnen, sieben dicke Bücher mit goldenen Runen auf ihren Einbänden, ein riesiger Bogen und ein Köcher voll Pfeile mit den orangen Federn pfeilschneller Falken, eine Phiole, in der die wirkungsvollen Säfte von Vogelbeeren brodelten, mehrere Krüge mit schillerndem Lehm von den Hochebenen in Malóch, der Augapfel eines Ogers (der in einer klaren Glasblase trieb), der spiralförmige Elfenbeinstoßzahn eines Geschöpfs, das Krystallus nicht kannte, ein komplizierter und detailreicher Kompass, wie er noch keinen gesehen hatte, ein schlaffer, aber luxuriöser grüner Schal, der von den Spinnenfeen aus Crystillia gewoben sein musste, ein seltenes Stück kastanienbraunen Bernsteins, der – wie er gehört hatte – seine Farbe bei jeder Schicksalsänderung wechseln konnte, ein hoher Stapel schön gearbeiteter Silbermünzen, das größte Tritonshorn, das er je gesehen hatte, ein Kristallkelch mit dem nach Lavendel duftenden Wasser des Elfenflusses, ein Stoß zerfledderter Karten und noch vieles andere.

Nicht schlecht, dachte er mit einer gewissen missgünstigen Bewunderung.

An einer Wand befand sich eine kleine Feuerstelle in einem Fischbeinherd. Hinter einem goldenen Gitter brannte ein kräftiges Feuer, das schwankendes Licht in den Raum warf. An der Wand gegenüber stand ein massives Bett mit farbenprächtigen Seesternen an Gestell und Pfosten. Auf dem Bettpfosten, der dem Feuer am nächsten war, saß ein Eulchen mit silbernen Flügeln. Und unter einem Berg aus blauen und grünen Decken, aus den feinsten Strängen von Tiefseetang gewoben, lag Serella.

Sie hatte den Kopf auf mehrere Kissen gestützt, ihr silbrig blondes Haar floss an den spitzen Ohren vorbei und über die Schultern. Nach dem Tablett mit Speisen und Getränk auf dem Tisch neben ihr zu schließen, hatte sie vor Kurzem gegessen. Und nach ihrem missmutigen Gesichtsausdruck zu urteilen, war sie kein bisschen glücklich. Krystallus konnte das ohne jeden Zweifel feststellen. Denn sie schaute, wie er plötzlich merkte, ihm direkt ins Gesicht.

Er fuhr zusammen und fiel fast rücklings auf den Balkon. Sie starrte ihn nur weiter an, Feuerschein tanzte in ihren tiefgrünen Augen.

»Nun?«, fragte sie mit heiserer Stimme. »Kommst du herein oder nicht?«

Krystallus richtete sich auf, ging hinüber zu einer reich geschnitzten Tür und drehte den silbernen Knopf. Er betrat das Zimmer der Königin und erwiderte unentwegt ihren Blick. Serella wich ebenfalls nicht aus, doch sobald er im Raum war, klapperte das Eulchen auf dem Bettpfosten laut mit dem Schnabel.

»Ruhig jetzt, Clowella«, sagte sie mit einem kurzen Blick auf das Eulchen. Dann fügte sie lässig hinzu: »Er ist nur hereingekommen, um mich zu töten.«

Krystallus schaute sie finster an. »Wenn ich dich töten wollte, hätte ich nicht die Mühe auf mich genommen, dich von Lastrael herzubringen. Du warst fast tot, als ich dich fand.«

Serella schnaubte verächtlich. »Und das soll ich glauben! Meine Wachen haben mir gesagt, du wolltest mich erwürgen, als sie dazugekommen sind.«

Kopfschüttelnd ging Krystallus zu dem schwebenden Drachen und schnalzte ihn mit dem Finger an. Er stieg höher in die Luft, und obwohl es keinen Wind gab, drehte er einen anmutigen Kreis durch den Raum, bevor er wieder über dem Bord schwebte.

»Genau genommen«, antwortete Krystallus schließlich, »habe ich gerade nach deinem Puls gesucht, weil ich wissen wollte, ob du noch lebst.« Er funkelte sie wütend an. »Ich habe geglaubt, du bist tot. Mein zweiter Fehler.«

Ihre Augenbrauen rutschten hoch. »Und was war dein erster?«

»Der Versuch, dich zu retten«, antwortete er kühl. Dann fragte er stirnrunzelnd: »Woher hast du gewusst, dass ich da draußen auf deinem Balkon war?«

Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem Grinsen. »Der braune Bernstein. Er hat die Farbe gewechselt.«

Krystallus drehte sich um und sah, dass der Bernstein auf dem Bord wirklich nicht mehr kastanienbraun war, wie er ihn gesehen hatte. Jetzt zeigte er eine bedrohliche Schattierung von Schwarz, fast wie die Landschaft in Schattenwurzel.

»Eindrucksvoll.« Krystallus wandte sich ihr wieder zu. »Ich enttäusche dich nur ungern, aber ich bin nicht hergekommen, um dich zu töten. Du magst eine arrogante, gnadenlose Tyrannin sein und eine hinterhältige Rivalin … aber du hattest es nicht verdient, auf dem Boden eines weit entfernten Reiches zu sterben. Und du verdienst es nicht, heute Nacht zu sterben.«

Zum ersten Mal seit er das Zimmer betreten hatte, blinzelte Serella. Das Feuerlicht warf flackernde Schatten auf ihr Gesicht. »Warum bist du dann gekommen? Bestimmt hättest du bis jetzt fliehen können. Und meine Wachen werden …«

»… mich töten wollen, ich weiß.« Ruhig trat er an die Bettseite. Ohne auf das Eulchen zu achten, das ihn scharf beobachtete, beugte er sich näher zu Serella. »Willst du wirklich wissen, warum ich gekommen bin?«

»Ja«, sagte sie, aber nicht so herrisch wie sonst. Mit großen Augen schaute sie zu ihm hinauf. »Warum?«

Er beugte sich tiefer und küsste sie auf die Lippen. Sie zuckte zusammen, fuhr aber nicht zurück. Stattdessen legte sie die Hände auf beide Seiten seines Kopfs, zog ihn näher heran und küsste ihn leidenschaftlich.

Schließlich trennten sie sich. Nach einer Pause sagte Krystallus: »Darum.«

»Du … weißt du …« Sie schob ihr Haar zurück, dann räusperte sie sich. »So eine Unverschämtheit könnte dich das Leben kosten.«

»Schreib sie auf meine Liste der Verbrechen«, sagte er grinsend. Er beobachtete sie ein paar Sekunden lang, dann wandte er sich ab, bereit, das Zimmer zu verlassen. Aber er blieb noch einmal stehen und warf einen Blick auf das Stück Elfenbein, das jetzt goldgelb schimmerte.

»Warte«, sagte sie – nicht im Befehlston einer Königin, sondern im flehenden einer Liebenden. »Ich will dir etwas geben.« Sie lächelte fast. »Das heißt, etwas anderes.«

Er drehte sich um und legte fragend den Kopf schief.

»Dort drüben.« Sie deutete auf einen Gegenstand auf einem der Regale. »Dieser Kompass. Ich möchte, dass du ihn hast.«

Er schüttelte den Kopf mit der weißen Mähne. »Aber den brauchst du. Für deine Entdeckungen.«

»Nein«, sagte sie ein wenig traurig. »Ich glaube, du brauchst ihn mehr. Verdienst ihn jedenfalls mehr.« Sie biss sich auf die Lippe, dann fuhr sie fort: »Verstehst du nicht, warum ich dich so oft verspottet habe? Warum ich dich gedemütigt habe, so oft ich konnte?«

Krystallus schwieg. Er schaute ihr nur wie bisher in die Augen.

»Ich wollte dich damit drängen, du selbst zu sein! Aus dem Schatten deines Vaters zu treten.«

Nach einer langen Pause fügte sie flüsternd hinzu: »Du hast damit angefangen. Und jetzt … wirst du der größte Entdecker sein, den Avalon je gesehen hat.« Sie grinste. »Außer mir natürlich.«

»Natürlich.« Er grinste ebenfalls. »Aber der Kompass …«

»… gehört dir. Du hast mir das Leben gerettet – und außerdem möchte ich, dass du ihn hast.« Ihre Augen funkelten wissend. »Du wirst ihn bestimmt immer wieder gebrauchen können.«

Krystallus schluckte. Er wollte hinübergehen und sie wieder küssen, aber er widerstand dem Impuls und nahm behutsam den Kompass vom Regal. Er war wie eine Glaskugel in einem Lederriemen geformt. Innerhalb der Kugel waren, von haardünnen Drähten gehalten, zwei Silberpfeile. Als Krystallus die Kugel leicht drehte, hielt er den Atem an. Denn er hatte gerade erkannt, was dieses Instrument wirklich konnte.

»Ein Pfeil zeigt nach Westen wie bei jedem Kompass«, stellte er fest. »Zum Herzen von El Urien, der ersten Heimat der Elfen.« Er schaute zu ihr hinüber. »Passend.«

Dann fuhr er mit Blick auf die Kugel fort: »Aber der andere Pfeil, der zusätzliche – der dreht sich auf einer vertikalen Achse. Er deutet also immer sternwärts

Serella nickte. »Wo du auch bist – unter den Wurzelreichen, im Stamm des großen Baums oder irgendwo sonst –, kannst du also immer deinen Weg finden.«

Sein Herz war voller Dankbarkeit, doch er konnte keine Worte finden.

»Jetzt«, sagte sie, »kannst du der erste Entdecker sein, der bis zu den Sternen steigt.« Mit spitzbübischem Funkeln fuhr sie fort: »Falls ich nicht vorher hinkomme.«

»Ich nehme die Herausforderung an.« Ruhiger sagte er: »Ebenso dein Geschenk.«

»Gut. Ich will nicht, dass dir etwas geschieht. Du bist mein … Lieblingsrivale.«

Das erinnerte Krystallus daran, wie er sie in Schattenwurzel gefunden hatte, und er wurde plötzlich ernst. »Nach Lastrael solltest du nicht zurückgehen. Dort stimmt etwas nicht. Was der Ort dir und den Elfen angetan hat – so etwas habe ich noch nie gesehen.«

Ihr Gesichtsausdruck wurde düster. »Ich weiß. Etwas hat uns ganz plötzlich angegriffen. Die Oberheilerin hat mir gesagt, sie glaube, dass es eine Art Seuche ist – Dunkeltod hat sie es genannt.«

»Dunkeltod?«

»Ja. Aber wenn das stimmt, stellt es mehr Fragen, als es beantwortet. Wie verbreitet sich diese Seuche? Wer wird davon befallen – nur Elfen oder jedes Geschöpf? Wie kann man das verhindern? Ich muss zurück und es herausfinden.«

»Nein«, bat er und hob den Arm. »Riskier das nicht. Geh nicht dorthin zurück.«

»Warum?«, schoss sie spielerisch zurück. »Damit du alle Wunder dieses Reichs selbst entdecken kannst?«

»Nein«, antwortete er sanft. »Damit niemand meiner« – er hielt inne und wählte mit Bedacht seine Worte – »Lieblingsrivalin etwas antun kann.«

Sie strahlte ihn an. »Gut, ich gehe nicht. Das heißt, bis ich es mir anders überlege.«

»Das Recht jeder Königin.« Er verbeugte sich spöttisch. »Aber zuerst …«

Stiefelschritte, mit jeder Sekunde lauter, unterbrachen ihn. Sie stapften die Treppe herauf, die zur Turmspitze führte.

»Meine Wachen.« Serella seufzte. »Sie kommen, weil sie mir melden wollen, dass du geflohen bist.«

»Sie werden sich nicht freuen, wenn sie mich hier bei dir finden.« Er schaute hinüber zum Bernstein, dessen goldene Farbe sich rasch verdunkelte. »Sie könnten denken, ich bin hier, um dich zu ermorden.«

»Oder mir einen Kuss zu rauben.«

Krystallus grinste fast, doch das Stapfen wurde lauter. Jetzt waren die Wachen nur noch Sekunden entfernt. Er wollte zum Balkon, dann hielt er inne und schaute zu ihr zurück. »Ich bin froh, dass ich dich nicht getötet habe.«

Flüsternd erwiderte sie: »Ich auch.«

Krystallus rannte zur Tür und kletterte über das Balkongeländer, als drei bewaffnete Wachen in das Zimmer der Königin stürmten. Obwohl er nicht alle ihre wirren, atemlosen Worte hören konnte, musste er in sich hineinlachen, als er Serellas strenge Zurechtweisung verstand: »Ihr habt was? Ihr habt ihn fliehen lassen?«

Leise kletterte er die Turmwand hinunter, wobei er die Zehen in die Spalten zwischen den Steinen drückte. Der Kompass, sicher in der Brusttasche seiner Tunika, schien sein Herz zu berühren.