14

Blaues Eis

Warum sind andere so darauf versessen, mit mir zu kämpfen? Ich vermute, sie legen nicht viel Wert auf mein Leben. Oder auf ihres.

Ein ungeheures Platschen war zu hören, Wasserstrahlen stiegen zum Himmel. Meilenweit im Umkreis zerstreuten sich Fische, Wasservögel und Meeresbewohner, die dem zu entkommen versuchten, was mit solcher Gewalt das Meer getroffen hatte. Selbst Seetang und Treibholzsplitter, die von den kräftigen Wellen zur Seite geschoben wurden, schienen davonzuschwimmen.

Basilgarrad war in den Regenbogenmeeren angekommen.

Er musterte den Ozean ringsum, der von schimmernden Farbstreifen durchzogen war, dann atmete er die salzige Luft tief ein. Er paddelte mit den Flügeln, als wären sie riesige Flossen, gebrauchte den mächtigen Schwanz als Ruder und drehte sich zu der zerklüfteten Küste herum. Indem er der Klippenlinie folgte, sah er direkt vor sich die Öffnung einer großen Höhle. Farbige Muscheln säumten den Eingang, Tausende Krebse klammerten sich an die Felsen und die Luft roch nach Fisch, Ottern und Robben.

Basilgarrad spähte zu dem aufgerissenen Höhlenmaul und hoffte, dass er an seinem Ziel angekommen war. Doch seine Gedanken waren schwer von Zweifeln. Das ist nicht, was ich erwartet habe.

Er wusste, dass er nicht viel Zeit hatte, und runzelte die Stirn. Tage um Tage auf der Suche nach Bendegeits Höhle zu verbringen, konnte er sich nicht leisten. Die Seuche breitete sich aus – und was sie und Avalons andere Probleme verursachte, wurde bestimmt stärker.

Plötzlich spritzte direkt vor ihm Meerwasser hoch. Drei große Köpfe kamen aus den Wellen – Köpfe mit massiven, zähnebesetzten Kiefern, tiefblauen Augen und flossenähnlichen Ohren. Die Köpfe von Wasserdrachen. Als das Trio sich höher aus dem Wasser hob, schossen Fontänen aus Ohren und Schnauzen und flossen über Schuppen, die wie blaues Gletschereis gefärbt waren.

Die Drachen rückten zusammen und schoben die mächtigen Schultern aneinander. So versperrten sie den Weg zum Höhleneingang und sahen dabei aus wie ein undurchdringlicher Wall, der sich plötzlich aus dem Meer gehoben hatte. Ein Wall mit unzähligen blau gefärbten Zähnen.

»Komm nicht näher«, brüllte der Drache in der Mitte, der etwas größer als seine Gefährten war. »Sonst musst du sterben.«

Gegenüber diesen wilden Höhlenwachen sagte sich Basilgarrad: Das habe ich erwartet.

Das Trio trat mit den Flossen und kam eng verbunden näher. »Entferne dich sofort!«, befahl der mittlere Drache, auf dessen Gesicht sich eine tiefe Narbe über die Schnauze zog.

»Ich komme in Frieden«, erklärte Basilgarrad und beobachtete sie vorsichtig. »Ich muss mit eurem Herrscher Bendegeit sprechen.«

»Niemand spricht mit dem Herrscher, wenn er es nicht befiehlt. Jetzt entferne dich.«

»Aber ich …«

Der mittlere Drache warf ungeduldig den Kopf zurück und bespritzte dabei seine Gefährten. Die Narbe auf seiner Schnauze färbte sich silbern, die Farbe des Drachenbluts. »Verschwinde! Ich zähle auf drei. Eins.«

»Ich habe euch gesagt, ich will nichts Böses.« Er erinnerte sich an Merlins ernste Mahnung – vermeide alle Kämpfe – und wiederholte: »Ich komme in Frieden.«

Die Wachen kamen näher. »Zwei.«

»Ehrlich, ich …«

»Drei. Angriff!«

Auf den Befehl des Drachen schwammen alle drei Wachen mit erstaunlicher Geschwindigkeit vorwärts. Mit aufgerissenen Kiefern und funkelnden Augen schossen sie auf den Eindringling zu, der sich weigerte zu verschwinden.

Doch Basilgarrad bewegte sich schneller. Er zog seine Flügel – die viel länger waren als die Flossen, denen Wasserdrachen normalerweise begegneten – aus dem Meer und so schnell wie mit zwei Peitschen hieb er auf die Köpfe der beiden äußeren Drachen. Ihre Schädel schlugen auf beiden Seiten mit dem des mittleren Drachen zusammen, sodass es ein lautes Krannntsch gab. Rundum spritzte das Wasser, die beiden äußeren Drachen taumelten und fielen besinnungslos zur Seite.

Der narbige Drache, der stärker war als die anderen (oder nur dickschädeliger), schaffte es, aufrecht zu bleiben. Er war zwar benommen, brüllte aber zornig und griff an, wobei er einen Schwall blaues Eis aus seinen Nüstern blies. Ruhig löste Basilgarrad dieses Problem mit einem Schwung seines mächtigen Schwanzes. Als der dicke Knüppel einen weiteren Schlag auf dem Kopf des Wasserdrachen landete, fiel der Narbige wie seine Gefährten zur Seite.

Um sicherzugehen, dass sie nicht ertranken, schlang Basilgarrad seinen Schwanz um ihre Hälse und hob ihre Köpfe aus dem Wasser. Er schwamm zum Höhleneingang und zog sie an Land, wie ein größeres Boot drei kleinere in den Hafen zieht. Er legte sie auf die krebsbedeckten Felsen und betrachtete sie nachdenklich. »So viel zu keine Kämpfe

Er wandte sich von den bewusstlosen Wachen ab und segelte in den Höhleneingang. Den Kopf eines anderen Drachen, der hinter ihm aus den Wellen kam, bemerkte er nicht. Die Augen dieses Verfolgers, von einem tieferen, leuchtenden Blau, das funkelte wie wassergespültes Azur, beobachteten Basilgarrads Bewegungen genau. Als er in die Höhle kam, folgte der versteckte Drache.

Zu Basilgarrads Überraschung wurde die Höhle nicht dunkler, als er tiefer eindrang. Eher im Gegenteil: Je weiter er in den Tunnel schwamm, umso heller wurde er. Dann, ganz plötzlich, dehnte er sich zu einer weiten Höhle mit hohem Dach, die in ein perliges Licht gebadet war. Die Lichtquelle war eine Reihe von Fackeln an den Felswänden. Doch diese Fackeln waren anders als alle, die er je gesehen hatte. Sie trugen keine Flammen, sondern klare Blasen von Seeglas mit phosphoreszierendem Wasser aus den Tiefen des Meeres.

Von den leuchtenden Fackeln erhellt, wölbten sich die Höhlenwände hoch. Schillernde Pauamuscheln in Violett und Blau säumten die unteren Flächen. Auf den Ecken, die aus den Muscheln ragten, saßen Dutzende von Seetauchern, Seeschwalben, Silberreiher und fliegende Krabben – alle gurrten, pfiffen und schnappten. An der Decke waren goldene, blaue, grüne und rote Seesterne zu einem Mosaik mit vielen Szenen arrangiert: Drachen segelten mutig hinaus aufs Meer, Wasservögel kreisten am nebligen Himmel, aus Tang gewebte Netze zogen Massen von Fischen und ein riesiger Drache trug eine Krone, die mit Meereskorallen und Edelsteinen besetzt war.

Bendegeit, dachte der grüne Drache, während er zur Mitte der Höhle schwamm. Seine Nüstern blähten sich. Im Gemisch der starken Gerüche von Wasservögeln, Algen, Meeressalz, Tang und Krebsen entdeckte er einen weiteren Duft. Flüchtig, aber unverkennbar wirkte dieses Aroma so üppig und tief wie das Meer selbst.

Er nickte grimmig. Es war der Geruch von Drachen – besonders von einem Drachen. Einem Drachen, der diese Höhle genau wie dieses Unterseereich zu seinem Besitz gemacht hatte.

Das Wasser vor ihm begann zu brodeln, gegenläufige Strömungen wühlten es auf. Plötzlich hob sich ein riesiger Kopf aus der Oberfläche, Wasserflüsse strömten von seiner ungeheuren Schnauze und Stirn. Eine Krone aus goldenen Korallen, besetzt mit Diamanten und Smaragden, saß auf seinem Kopf. Weitere Edelsteine, vor allem Rubine, waren in Rankenfußkrebse an den Kiefern voller Zähne eingesetzt. Doch kein Edelstein strahlte so hell wie die Augen des Drachen. Anders als die himmelblauen des Drachen, der Basilgarrad gefolgt war – und ihn weiter von der entfernten Höhlenseite aus beobachtete –, glühten die Augen dieses Drachen orange, von Scharlachrot durchsetzt, als stünden sie in Flammen.

»Du trrrraust dich in meine urrreigene Höhle?«, polterte er. »Die Höhle von Bendegeit, Herrrscherrr der Wasserrrdrrrachen?«

»So ist es«, antwortete Basilgarrad und hielt den Kopf hoch. Er war zwar immer noch größer als dieser Herrscher, aber nicht viel, und er hatte nie zuvor einen anderen Drachen getroffen, der seiner Größe so nahe kam. »Aber ich bin in friedlicher Absicht auf Ersuchen von Merlin hier.«

»Du kennst also den Zauberrrerrr?« Die flossenähnlichen Ohren des Wasserdrachen, von blauen Schuppen gesäumt, stellten sich am Rand seiner Krone hoch. »Du musst Merrrlins Magie benutzt haben, um meinen Wachen zu entkommen.«

»Eigentlich nicht.« Basilgarrad spielte mit der Zunge an seiner Zahnlücke zwischen den Schneidezähnen. »Sie wirkten … ein bisschen müde. Besonders Narbengesicht. Deshalb habe ich sie nur zu einem Mittagsschlaf überredet.«

Die Feuer in den Augen des Herrschers loderten mit neuer Helligkeit – ob aus Zorn oder Belustigung, ließ sich nicht sagen. »Dann sag mirrr, grrroßer Mittagsschlafbrrringerrr, wie heißt du, was ist dein Anliegen? Darrrauf werrrde ich überrr dein Schicksal entscheiden.«

Auf der anderen Höhlenseite hob sich der versteckte Kopf des blauäugigen Drachen ein wenig höher aus dem Wasser. Die Ohren waren vorgespitzt, er horchte.

»Ich heiße Basilgarrad. Und ich bin gekommen, großer Herrscher, weil ich dich um Hilfe bitten muss. In Avalon gibt es Ärger, Probleme mehren sich! Steckt jemand dahinter? Wer? Wir müssen das wissen, und zwar bald!«

Er brachte sein Gesicht näher an das des Regenten, sodass ihre Kiefer sich fast berührten. »Ich bitte um deine Hilfe, um deine Kraft der Durchsicht – nicht um meinet- oder um Merlins willen. Ich erbitte das für Avalon.«

Der große Wasserdrache grollte tief in der Kehle, sodass Basilgarrad zurückwich. Dann blähte Bendegeit die Nüstern. Zwei Ströme blauen Gletschereises schossen heraus, platschten ins Wasser und bildeten zwei kleine Eisberge. Die Eisberge wiegten sich auf den Wellen, kenterten fast und trieben dann zur nächsten Höhlenwand.

»Du hast deine Zeit vergeudet, indem du herrrgekommen bist«, brüllte Bendegeit, »und schlimmerrr, meine auch! Ich bin derrr konkurrrenzlose Herrr von Wasserrrwurrrzel. Warrrum soll ich mich um das übrrrige Avalon kümmerrrn, weit hinterrr den Grrrenzen meines Rrreiches?«

Basilgarrads grüne Augen schossen Blitze. »Weil«, erklärte er mit einer Stimme, die von den Höhlenwänden widerhallte, »das, was in einem Teil von Avalon geschieht, die anderen Teile ebenso betrifft! Wenn ein Fisch am Schwanz verletzt wird, kann er dann noch schwimmen und springen? Wenn ein Vogel am Flügel verwundet ist, kann er dann noch steigen und segeln? Dieses Übel hat dich vielleicht noch nicht erreicht, aber wenn ihm nicht Einhalt geboten wird, kommt es bestimmt.«

»Wirrr sprrrechen nicht von Fischen und Vögeln! Wirrr sprrrechen von meinem Rrreich!« Bendegeits Zähne, von grünen Algen gestreift, schimmerten im Fackellicht. »Jetzt, grrrünerrr Besucherrr, musst du verrrschwinden – bevorrr ich meine übrrrigen Wachen alarrrmierrre.«

»Aber großer Hersch…«

»Verrrschwinde!« Der Wasserdrache brüllte so laut, dass Dutzende Seesterne am Deckenmosaik abbrachen und ins Wasser stürzten.

Als das Echo verklang, funkelten die beiden Drachen einander zornig an, der eine unwillig zu gehen und der andere unwillig, es sich anders zu überlegen. Wieder knurrte Bendegeit, tiefer als zuvor, während dolchscharfe Eissplitter von seiner Nase spritzten. Jetzt schienen seine wilden Augen gleich zu explodieren.

Inzwischen überlegte Basilgarrad blitzschnell, was er tun könnte – nichts schien ihm empfehlenswert zu sein. Was würde er gewinnen, wenn er mit dem Wasserdrachen kämpfte? Selbst wenn er siegte, könnte Bendegeit seine Hilfe verweigern. Und wenn er ging, wie der andere befahl, was würde er damit erreicht haben? Wie konnte er Merlin berichten, dass er völlig versagt hatte? Er bewegte beklommen die Flügel im Wasser – denn er spürte, dass ein Kampf bevorstand. Die Nervosität nahm zu. Die Muskeln in Hals, Rücken und Schwanz beider Drachen wurden angespannt. Die Eisströme des Herrschers wurden stärker; Basilgarrads Schwanz hob sich höher, bis er fast durch die Wasseroberfläche brach.

Sekunden vergingen. Die Höhle schien sich mit Druck anzufüllen wie eine Blase – eine Blase, die gleich bersten würde.

»Wartet!« Diese neue Stimme, höher und klarer als die der beiden gegnerischen Drachen, tönte durch die Höhle.

Basilgarrad und Bendegeit ließen einander nicht aus den Augen, doch beide wandten sich der Stimme zu. Auf der anderen Seite der Höhle hob sich ein weiterer Kopf rasch aus dem Wasser. Die Gesichtszüge waren zarter, doch der Kopf war fast so groß wie der des Herrschers. Und die Augen, himmelblau leuchtend, brannten mit einem Licht, das an Stärke dem jedes anderen Drachen glich. Wasser floss von funkelnden blauen Schuppen, bis sich der ganze Kopf und Hals in die Luft gehoben hatten.

»Marrrnya«, knurrte der Regent grollend, »du solltest nicht hierrr sein!«

»O doch, Vater«, antwortete sie kurz. »Denn ich muss mit dir sprechen.«

»Jetzt, Tochterrr?«

»Jetzt.«

Gewandt, fast ohne das Wasser zu kräuseln, kam Marnya näher. Sie richtete den himmelblauen Blick auf ihren Vater und schmeichelte: »Liebster Vater, mein Herr, ich bitte dich um einen Gefallen. Nur einen.«

Bendegeit runzelte die Stirn, sodass seine Krone vorrutschte. »Was fürrr einen Gefallen wünscht meine Tochterrr?«

In den Sekunden bevor sie antwortete, überlegte Basilgarrad das Gleiche. Was könnte sie nur wollen? Den aufgespießten Kopf dieses grünen Eindringlings? Die Möglichkeit, den tödlichen Schlag selbst auszuteilen?

»Ich habe dein Gespräch mit diesem Drachen gehört.« Sie winkte mit einer Flosse Basilgarrad zu und bespritzte ihn dabei mit Meerwasser. »Und ich wünsche mir, dass du seine Bitte erfüllst.«

Bendegeit fuhr überrascht hoch – genau wie der grüne Drache ihm gegenüber. »Warrrum, meine Tochterrr, bittest du mich um so etwas? Was bedeutet dirrr dieserrr jämmerrrliche Eindrrringling?«

Langsam richtete sie den himmelblauen Blick auf Basilgarrad. »Er«, erklärte sie bestimmt, »ist der Drache, auf den ich gewartet habe. Er wird mich das Fliegen lehren.«