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Sternenlicht

Ah, was gäbe ich für einen guten Schlaf! Ich erinnere mich, dass ich einmal eine ganze Nacht lang geschlafen habe … es ist eine Ewigkeit her. Ich rede nicht von einem gelegentlichen Albtraum. Es geht darum, aufzuwachen und etwas Schlimmeres zu sehen als jeden Traum.

Leb wohl, mein Freund.«

Mit diesen Worten reiste Merlin ab, seine Kraft des Springens brachte ihn in eine andere Welt. Basilgarrad sah traurig, wie er verschwand, in der funkelnden Luft schien er sich aufzulösen. Eben noch hatte der Zauberer mit seinem Stab auf dem Sternguckerstein gestanden und den Drachen angeschaut, im nächsten Moment war die Steinplatte leer.

Beinah leer. Als Merlin schon verschwunden war, blieb sein Stab ein paar Sekunden lang zurück. Er stand aufrecht und bebte zwischen den magischen Funken. Basilgarrad musterte ihn, er erinnerte sich an Merlins Glauben, der Stab würde über eine Art Intelligenz verfügen, einen geheimnisvollen eigenen Willen. Langsam fing der Stab an, unter seinen Augen zu verblassen. Dann, im letzten Augenblick, blitzte eine der Runen, die in das Holz geschnitzt waren, in einem jähen grünen Lichtschwall auf – und der Stab verschwand völlig.

Seltsam. Basilgarrad spitzte verwirrt die Ohren. Das war nicht das Symbol für Springen. Er kannte diese Rune gut: ein Stern in einem Kreis, den Merlin vor langer Zeit bei den sieben Schritten zur Weisheit gewonnen hatte. Nein, zu seiner Überraschung war die Rune aufgeblitzt, die wie ein Drachenschwanz geformt war.

Trotz seiner Trauer musste Basilgarrad fast lächeln. Denn er spürte ohne jeden Zweifel, dass der Stab sich gerade von ihm verabschiedet hatte.

Während er die riesigen Flügel streckte, beschloss er, die Nacht auf dem Hang beim Sternguckerstein zu verbringen. Er machte es sich bequem, wobei er mehrere Gipfel umstieß und Dutzende Felsklötze hinunterdonnern ließ. Es war zwar nicht der bequemste Fleck, doch er wollte hierbleiben, hoch auf dem felsigen Kamm von Hallias Gipfel, nur von seinen Gedanken begleitet.

Wenige Stunden später fuhr er aus dem Schlaf. Avalons Sterne erleuchteten den Himmel und warfen ein schönes, ätherisches Licht auf die Gipfel rundum. Doch irgendetwas stimmte nicht … genug, um das Drachenherz in seiner Brust hämmern zu lassen und dabei die Steine unter ihm zusammenzudrängen. War es der Kummer, den er über Merlins Abschied empfand? Die Befürchtung, dass er unmöglich allein Avalon retten konnte? Oder die anhaltende Angst, dass irgendwo dort draußen ein Schattengeschöpf noch mächtiger wurde?

Um sich zu beruhigen, wandte er sich dem Sternguckerstein zu. Dank der Berührung des Zauberers glühten die eingeritzten Sternbilder auf dem Felsen, Spiegelbilder der wirklichen hoch über ihnen. Basilgarrad fuhr die Umrisse der Konstellationen nach – zuerst auf dem Stein, dann am Himmel. Da war Pegasus, der über den Horizont galoppierte. Darüber sah er die Brücke, gekräuselte Wasser des Lichtstroms. Und im Westen die mit Sternen übersäten Wiesen, auf denen der verdrehte Baum stand.

Basilgarrad wandte sich dem Zauberstab zu – dem meistumjubelten Sternbild in Avalon und eine Lieblingskonstellation von Merlin. Plötzlich blähte er die Nüstern. Er brüllte vor Entsetzen, ein Gebrüll, das über die Gipfel hallte und viele Geschöpfe zur gleichen schrecklichen Entdeckung weckte.

Die Sterne des Zauberstabs waren verschwunden! An ihrem Platz am Himmel, wo sie seit Avalons Entstehung geleuchtet hatten – war nichts geblieben. Nichts als bodenlose Löcher der Schwärze.

Wieder brüllte der Drache. Es klang wild und verzweifelt zugleich und ließ sogar die Berge beben. Schließlich verklang es in der Nacht.

In den folgenden Wochen und Monaten mehrten sich die Katastrophen und verbreiteten sich über die sieben Reiche wie eine neue Art Seuche. Basilgarrad eilte zu jedem Unglücksort, doch selbst seine breiten Flügel konnten die steigende Flut der Gewalt nicht aufhalten. Spannungen zwischen Feuerwurzels Zwergen und Drachen steigerten sich zum Kampf, als die Drachen schließlich entdeckten, wo sich die lange gesuchten flammenden Edelsteine befanden. Der Angriff führte bald zu weiteren Attacken, dann zu einem größeren Krieg, schließlich zum Irrsinn.

Trotz Basilgarrads heldenhaften Anstrengungen erschien das Ziel des Friedens immer mehr als eine schwer fassbare Illusion. In die Auseinandersetzungen in Feuerwurzel wurden rasch auch andere Völker hineingezogen. Es gab immer mehr Verluste, die Verbitterung wuchs und überall kam es zu Zornausbrüchen. Allianzen bildeten sich, welche die Zwerge, die meisten Elfen und Menschen, Riesen von den hohen Gipfeln und viele Adlermenschen gegen die Kohorten der Feuerdrachen mitrissen – die fleißigen, aber kriegerischen Flamelons, dunkle Elfen, Gnome, gierige Menschen und Horden von Gobsken. Selbst einige Clans von Feen, die zu den friedlichsten Geschöpfen in Avalon gehörten, beteiligten sich an den Kämpfen, als Drachen ihre Waldbehausungen anzündeten. Während der Konflikt sich bis weit über Feuerwurzel hinaus ausdehnte, nutzten räuberische Ogerbanden und zornige Bergtrolle das Chaos aus, indem sie Dörfer plünderten und Getreidefelder verwüsteten, wo es ihnen gerade gefiel.

Der Krieg der Stürme, wie er später genannt wurde, griff auf jedes Reich über und zwang Basilgarrad, ständig umherzufliegen. Trotz des zunehmenden Schreckens um ihn herum versuchte er sein Bestes – beendete einen Kampf, bevor der ein reizvolles Tal zerstörte, zerstreute eine Horde Oger, zerschmetterte die Waffen von Flamelons und rettete ein Dorf, das von Drachen angezündet worden war. Doch auf jeden Erfolg schien ein Dutzend Misserfolge zu kommen – mehr Kämpfe, mehr Oger, mehr Waffen und mehr Brände, als er kontrollieren konnte. Ein paar tapfere Geschöpfe halfen ihm, manchmal auf Kosten ihres Lebens. Auch andere erfüllten ihre Aufgabe – solche wie Bendegeit, der Herrscher der Wasserdrachen, der jedem Versuch der Feuerdrachen widerstand, eine Allianz zu bilden. Aber die schwierige Aufgabe, den Frieden zu sichern, lastete zum größten Teil auf Basilgarrads Schultern.

Breit waren diese Schultern – ungeheuer breit. Er war unstreitig das mächtigste Geschöpf, das je in Avalon gelebt hatte. Doch in diesem zunehmenden Chaos fühlte er sich manchmal so schwach wie eine neugeborene Elfe.

»Merlin!«, brüllte er eines Nachts zum Himmel und zu den Sternen hinauf. Er lag erschöpft auf den Ebenen von Isenwy in Lehmwurzel. Nach einer schier endlosen Reihe von Kämpfen war er hier gelandet und hatte gehofft, ein bisschen lange entbehrte Ruhe zu finden. Doch obwohl das Land um ihn herum zur Abwechslung friedlich erschien, ballten sich in seinem Kopf die Gedanken über diesen schrecklichen Krieg und was er für Avalon bedeutete – und auch an diese besondere Person, die ihm mehr denn je fehlte.

»Wo bist du nur in dieser ganzen Katastrophe?«, rief er, klopfte mit seinem riesigen Schwanz auf die lehmigen Flächen und ließ das Land im Umkreis von Meilen beben. »Die Welt braucht dich. Die Leute brauchen dich. Und, Merlin … ich brauche dich!«

Keine Antwort. Nicht dass er eine erwartet hätte. Doch er hatte noch gehofft. Könnte die hinterhältige Schattenbestie irgendwo fern von Avalon sein, wie Merlin vermutet hatte? Oder war das nur eine Ausrede für ihn abzureisen, ein Grund, diese Welt zu verlassen, die ihm so viel Schmerz gebracht hatte?

Basilgarrad musterte den dunklen Himmel. Als sein Blick auf dem leeren schwarzen Spalt ruhte, dort, wo einst der leuchtende Zauberstab gewesen war, schnitt er eine Grimasse und schlug die Zahnreihen aufeinander. Und er dachte an die Abschiedsworte des Zauberers: Ich werde bei dir sein – solange die Sterne hell über Avalon leuchten.

Niedergeschlagen senkte Basilgarrad den massigen Kopf, bis er in den Schlamm patschte. Dieses Ungeheuer ist irgendwo hier in Avalon. Ich spüre es! Aber wo? Und was genau ist es eigentlich? Welche Kräfte hat es? Welche Pläne?

Er kämpfte mit diesen Fragen und fiel schließlich in einen unruhigen, sorgenvollen Schlaf. Doch seine Träume schenkten ihm wenigstens eine kleine Fluchtmöglichkeit. Er träumte von seiner Jugend in den Wäldern von Waldwurzel – als er sich nur darum kümmern musste, wie er einen weiteren Tag überlebte, ohne dass ihn ein anderer fraß.