17

Eine ferne Glocke

Drachen haben ein feines Gehör, so fein, dass sie Geräusche über viele Meilen hinweg hören können. Aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was mit dem Herzen gehört werden kann.

Die grünen Flammen der Pforte flackerten, schwankten, wölbten sich nach außen und drängten dann weg von den beiden Steinsäulen, die das Feuer begrenzten. Während die Wölbung sich dehnte, zitterte sie vor Anstrengung, als wollten die Flammen den kostbaren Schatz nicht hergeben, den sie bargen. Doch sie konnten ihn nicht länger zurückhalten. Mit einer lauten Funkenexplosion gab die flammende Mauer nach. Eine erschöpfte Gruppe Reisender – Merlin, Rhia, Nuic und Lleu – stolperte heraus auf den nackten Boden.

Nuic, der mit seinem kleinen runden Körper ein Stück weit über staubige Erde gerollt war, bevor er schließlich anhalten konnte, setzte sich missmutig auf. Seine Haut zeigte graue und braune Streifen – ob von Schmutz und Staub oder als Zeichen seiner Stimmung, konnte keiner sagen. »Hmmmpff«, brummte er. »Erinnert mich daran, dass ich nie mehr durch eine Pforte reise.«

Rhia rollte sich auf den Rücken und schaute kurz auf die flackernden Flammen neben ihnen. »Wenn wir nichts gegen die Verbreitung dieser Seuche tun, wird es keine Pforten zum Reisen mehr geben.«

»Aber wir haben die Lösung!«, rief Lleu triumphierend. Neben ihr hüpfte er auf die Füße, rückte seine fadenscheinige braune Tunika, das einfache Priestergewand, zurecht und fügte hinzu: »Dein Bruder hat den Kristall aus reinem Élano, weißt du nicht mehr? Die Seuche ist so gut wie vorbei.«

»So ist es nicht, Lleu.« Die Stimme des Zauberers, der noch erschöpft von der Gewinnung des Kristalls war, klang voller Zweifel. »Ich habe den Kristall, ja. Aber er wird uns nicht helfen, wenn wir ihn nicht an den richtigen Ort bringen.«

Die anderen wandten Merlin die Köpfe zu. Langsam, mit zitternden Beinen stand er auf. Er stützte sich schwer auf seinen Stock und betrachtete die trostlose Umgebung. Bis auf die flackernden grünen Flammen zwischen den Steinsäulen gab es keine Bewegung, kein Lebenszeichen. Denn so weit er sehen konnte, bestand die Landschaft aus Baumgerippen ohne Blätter, leeren Gräben ohne ein Rinnsal von Wasser und aschiger Erde.

»Was meinst du mit dem richtigen Ort?«, fragte Rhia, während auch sie mühsam aufstand. Ihr Gewand aus gewebten Ranken, die jetzt fast ganz braun waren, knisterte dabei. Blätter, brüchig und trocken, zerkrümelten und fielen auf den Boden neben ihren nackten Füßen.

Merlin fuhr zu ihr herum. Er drehte die Spitze seines Stabs in die unfruchtbare Erde und sagte grimmig: »Die Seuche hat sich ausgeweitet und verstärkt, seit wir abgereist sind. Schau dich nur um – diese Verwüstung!«

Erschöpft seufzte er. »Damit der Kristall hilft, müssen wir ihn genau in die Mitte der Seuche bringen. Ich meine nicht die physische, sondern die magische Mitte. An den Ort, wo die Seuche wirklich begann, an ihren eigentlichen Ursprung. Das ist der einzige Ort, an dem diese dunkle Magie ganz ausgelöscht werden kann. Und das ist weit von hier, sehr weit.«

»Woher weißt du das?«, fragte seine Schwester.

»Ich spüre es.« Er legte sich die Hand auf die Brust. »Genau hier.«

»Nun«, Lleu kam näher, »können wir nicht einfach dorthin gehen? Zu einer Pforte, die der Mitte näher ist?« Er schaute auf das Feuer, das erschöpft zwischen den Säulen flackerte. »Das ist nicht die gleiche, durch die wir die Reise zum weißen See angetreten haben. Wenn wir einfach zu jener Pforte zurückreisen, könnten wir …«

»Ich weigere mich«, brummte Nuic und ballte die kleinen Hände zu Fäusten.

»Selbst wenn wir das versuchen würden«, sagte Merlin, »bezweifle ich, dass es gelingt. Diese Pforten rund um Waldwurzel leiden alle unter der gleichen dunklen Magie, die das Land getroffen hat. Wir sind schon so kaum hierhergekommen! Ich möchte keine andere Pforte betreten, solange sie nicht ihre Kraft wiedergewonnen haben – sonst kommen wir vielleicht nie mehr heraus.«

»Endlich«, murmelte Nuic, »redest du vernünftig.«

Rhia betrachtete ihren Bruder. »Und deine Kraft des Springens? Könntest du dich mit dem Kristall dorthin bringen?«

Langsam schüttelte Merlin den Kopf und schwang dabei die schwarzen Haare über die Schultern. »Nein, Rhia, ich kann kaum stehen und schon gar nicht springen! Dieses Erlebnis am See … ich bin so ausgelaugt, das geht einfach nicht.«

Er griff in die Tasche und holte den Kristall heraus. Seine sieben Facetten mit ihren Strahlen leuchteten wie reines Licht in seiner Hand. Er schloss die Finger darum und murmelte: »Es muss eine Möglichkeit geben. Es muss einfach.«

Dann hielt er den Atem an. »Es gibt eine Möglichkeit! Das heißt, wenn Basil nicht in Schwierigkeiten gekommen ist.«

Rhia nickte. »Ruf ihn! Auf ihm können wir zur Mitte der Seuche reiten.«

Nuic rutschte über den staubigen Boden, seine Farbe wurde dunkler. »Vielleicht sollten wir es doch noch mit der Pforte versuchen. Auf dieser schwerfälligen Schlange zu reiten ist wie der Ritt auf einem Albtraum.«

»Psst.« Rhia hob ihn auf. »Das ist unsere größte Chance.«

»Dann sind wir so gut wie tot«, brummte er und machte es sich in ihrer Armbeuge bequem.

Merlin schaute zum Himmel. Die buschigen Brauen zogen sich zusammen, angestrengt runzelte er die Stirn. »Basil, alter Junge …«, bat er, »bist du irgendwo in der Nähe von Waldwurzel? Ich könnte eine Fahrgelegenheit brauchen. Bald. Sehr bald.«

»Wie wäre es mit sofort?«, dröhnte eine donnernde Stimme aus dem südlichen Himmel.

Während alle herumfuhren, erschien ein Schatten in einer hohen, spiraligen Staubwolke. Der Schatten verfestigte sich, dann brach Basilgarrad aus der Wolke, Avalons mächtigster Drache. Seine enormen Schwingen wirkten wie Zwillingsinseln, die in der Luft schwebten, auch wenn keine Insel sich mit solcher Anmut und Gewandtheit biegen und drehen konnte. Er machte einen Schwenk, die Schuppen auf seiner Brust glitzerten grün. Er bog Rücken und Schwanz, während er neben Merlin und den anderen landete.

»Hmmmpff«, knurrte Nuic. »Warum hast du so lange gebraucht?«

Basilgarrad sah die Dringlichkeit in Merlins Gesicht und antwortete nicht. Innerhalb von Sekunden hatte die Gruppe seine feste Stirn erklettert und flog rasch nach Norden. Merlin, der sich an einem Ohr des Drachen festhielt, überschaute die leblose Landschaft unten, während der Wind vorbeirauschte. Er suchte … und wirkte wie in tiefe Konzentration gehüllt.

»Dort!«, rief er schließlich. »Das ist der Ort!«

Er deutete vor sich auf einen runden, grauen Flecken Land. Noch nicht einmal ein toter Baum oder ein blattloser Busch wuchsen dort. Die Erde schien noch ausgetrockneter zu sein als überall sonst – ganz entleert von Nährstoffen, wie ein blutleerer Leichnam. Ein schaler, modriger Geruch wehte zu ihnen herauf, sodass Basilgarrad das Gesicht verzog

Dennoch landete er mitten auf dem tödlichen Fleck. Staubwolken stiegen bei der Landung rundum hoch und verstopften die Luft. Doch niemand, noch nicht einmal der Kobold, beschwerte sich. Zu viel stand auf dem Spiel. Basil hatte kaum angehalten, da kletterte der Zauberer schon herunter.

Merlin ging zu einem besonders aschigen Fleck. Er sah abgespannt aus, viel älter, als er war. Wie Rhias bröckeliger Rankenanzug litt er mit diesem einmal so fruchtbaren Reich. Behutsam nahm er den leuchtenden Kristall aus seiner Tunika.

Auf den Stab gestützt, kniete er nieder und legte den Kristall auf den Boden. Er schaute in die strahlenden Facetten und sagte leise: »Bring Leben zurück in dieses Land … ich flehe dich an.«

Langsam stand der Zauberer auf. Unsicher schaute er Rhia, dann Basilgarrad an. Gespannt drehte er den Stab in den trockenen Boden. Sekunden vergingen, sie erschienen wie Stunden. Nichts geschah.

Noch mehr Zeit verging. Nichts geschah.

Basilgarrads Ohren zitterten. Aus großer Entfernung glaubte er etwas zu hören – einen schwachen Klang, wie eine ferne Glocke.

Das Geräusch schwoll an, wurde stärker, bis auch alle anderen den vollen Klang hören konnten. Rhia hielt den Atem an, sie merkte, dass die dürren Ranken auf ihrem Arm sich bogen und drehten, als würden sie von einer sanften Brise gestreichelt. Nur war das keine Brise, zumindest nicht die physische Art, die sich in der Luft regt. Das hier war mehr eine Regung der Seele, ein Erwachen des Lebens.

Mit einem Mal begann der Kristall zu vibrieren. Eine Fülle von Licht, weiß und grün, brach aus seiner Mitte – und dehnte sich in leuchtenden Kreisen aus, die sich verbreiteten wie Wellen auf einem Teich. Die Wellen erstreckten sich immer weiter, sie brachen durch den Boden und strebten zum Horizont.

Inzwischen bewegten sich die Ranken von Rhias Anzug weiter, sie drehten sich dem Kristall zu wie Blumen dem Licht. Die Ranken wurden elastischer, sogar ein Hauch von Grün erschien auf den Stängeln und Blättern. Rhias Augen tanzten, sie spürte, wie ihre Lebenskraft zurückkam. Selbst der mürrische alte Nuic in ihrer Armbeuge zeigte eine zarte Nuance von Grün.

Das Glockenläuten wurde stärker, es ertönte rundum und vibrierte in der Luft. Aus der Erde brach inzwischen ein einzelner grüner Trieb, er drängte himmelwärts und strebte nach Freiheit. Immer höher wuchs er, und noch höher. Mehrere Triebe sprossen in der Nähe, immer mehr, bis der Boden vor Grün zu brodeln schien. Hunderte von Pflanzen, dann Tausende schoben sich nach oben, sie wanden sich vor Vitalität und feierten neues Leben.

Laub in Fülle wuchs an den Ästen und Zweigen der zuvor abgestorbenen Bäume. Ein neuer Laut füllte die Luft – das Drängen strömenden Wassers, das aus unterirdischen Quellen brach und in Bachbetten floss. Jetzt regte sich der Wind in den Ästen des wiederbelebten Waldes, rauschte in den Blättern und strich über Büsche und Gräser. Allmählich verschmolzen alle diese Klänge – von Glocken, Wasser und Wind – zu einem melodischen Lied.

»Lebendig«, flüsterte Merlin mit heiserer, aber erneut energischer Stimme. Er wandte sich der dunkler werdenden Waldlandschaft zu, die sich auf allen Seiten bis zum Horizont erstreckte.

»Lebendig«, wiederholte Rhia und fuhr mit der Hand über die lebenden Ranken, die sich an ihren Arm schmiegten.

Jetzt, dachte Basil und erinnerte sich an das Bild der sich windenden schwarzen Gestalt, das er im Bau der Wasserdrachen gesehen hatte. Dunkler als dunkel erschien es – und selbst jetzt, zwischen so viel neuem Leben, warf es einen Schatten auf sein Herz. So tief in Gedanken war der Drache, dass er wie die anderen den kleinen schwarzen Egel nicht bemerkte, der nicht weit von dem Kristall aus dem Boden kroch. Zitternd vor Qual gelang es dem Egel nur kurz, sein blutrotes Auge blitzen zu lassen und eine Art Botschaft zu schicken, bevor er starb.