Worte sollten mit größerer Behutsamkeit gewählt werden als Kleider oder Waffen. Denn sie können viel länger halten als Erstere und viel tiefer schneiden als Letztere.
Aus jedem Reich kamen die Trauergäste. Allein oder in Gruppen, mit Flügeln oder Hufen oder zu Fuß, schluchzend oder still, sie alle sammelten sich auf der innersten Wiese der Sommerländer, dem Ort, den Hirschmenschen das grüne Herz von Avalon nannten. Doch das Gras war bereits vom ersten Frost des Herbstes berührt worden.
Der Wind wehte böig und blies Ahorn-, Eichen- und Birkenblätter über die Wiese. Basilgarrad beobachtete ernst auf seinem Platz bei den Bäumen, wie sich manche unter der Kraft des Windes duckten. Einen Moment lang fragte er sich, ob auch seine alte Freundin Aylah, die Windschwester, unter den Trauergästen sein könnte. Nein, fand er, wo immer Aylah heute sein mag, hier ist sie nicht.
Er sah, wie Leute aller Art sich Merlin näherten. Der Zauberer trug eine einfache schwarze Tunika und stand am moosigen Ufer einer Quelle, die aus dem Boden sprudelte und einen grün gesäumten Teich bildete. Basilgarrad wusste, das war einer von Hallias Lieblingsplätzen, ein Fleck, wo Merlin und seine Braut viele Nächte unter den Sternen verbracht hatten.
Einige Trauergäste, wie der Traumfinderelf vom schäumenden Meer, der an jeder Hand sieben Finger hatte und hinkte, waren Basilgarrad unbekannt. Andere, wie die große Lehmbildnerin Aelonnia von Isenwy und die wolkenähnliche Sylphe, die über die Wiese schwebte, erkannte er wieder, sie waren vor Jahren auf der Hochzeit von Merlin und Hallia gewesen. Und andere kannte er gut – mindestens gut genug, um ihre Trauer zu fühlen. Da war Rhia, die ihren Bruder weinend umarmte. Und Nuic, dessen leblose graue Farbe mehr verriet als alle Worte, die der Kobold hätte sagen können. Da war Shim, der mit seinen donnernden Schritten die Wiese zum Schaukeln brachte. Zorgat der Zwerg kam auch, er sah viel älter und vergrämter aus. Und da war Gwynnia – die als junger Drache von Hallia gesund gepflegt worden war.
Gwynnia kam langsam durch das Gras und hinterließ eine flache Spur, die von silbrigen Drachentränen funkelte. Auch wenn sie mit den fest gefalteten Flügeln auf dem Rücken viel kleiner als Basilgarrad war, strahlte sie in ihren Bewegungen die Majestät und Kraft eines Drachen aus. Und entsprechend war ihr Umfang – weshalb sie darauf achten musste, dass sie nicht jemanden mit ihrem Schwanz zerdrückte. Dicht hinter ihr kam ihr Sohn Ganta. Die orangen Augen des kleinen Drachen blitzten, als sein Blick den von Basilgarrad traf. Vielleicht fürchtete er sich plötzlich, vielleicht gingen ihm immer noch die merkwürdigen Worte seines Onkels über die wahre Bedeutung von Größe nach. Das ließ sich unmöglich sagen.
Nur eine Gästegruppe näherte sich Merlin nicht: die Hirschmenschen von Hallias Clan, die Mellwyn-bri-Meath. Wie Basilgarrad hatten sie schon zuvor ihre Trauer mit Merlin geteilt. Jetzt waren sie zufrieden, beieinanderzustehen wie ein Hirschrudel und schweigend vom Rand der Wiese herüberzuschauen.
Einige, bemerkte Basilgarrad, standen in ihrer Hirschgestalt da – jedenfalls ein Hirsch mit breiter Brust und mehrere anmutige Hirschkühe. Oder waren sie vielleicht Verwandte der Hirschmenschen, echte Hirsche, die in diesen Lichtungen lebten? Einige Hirsche wirkten neblig, durchscheinend, als wären sie aus der alten Heimat ihres Volkes im versunkenen Fincayra gekommen – dem Land des legendären Teppichs Caerlochlann, in dem jeder Faden aus den liebsten Geschichten des Hirschvolks bestand.
Krystallus kam als Letzter auf die Wiese. Er sah seinen Vater kaum an und sprach mit niemandem, stand lieber allein bei einer Birkengruppe. Er hielt den Kopf gesenkt, das Gesicht vom weißen Haar verdeckt, und wirkte so isoliert, als stünde er in einem anderen Reich.
Als schließlich jeder, der mit Merlin sprechen wollte, das getan hatte, bückte sich der Zauberer und hob etwas aus dem Gras – eine besonders geformte Schale. Sie war aus Splittern von Hirschhufen und Geweihen gemacht und funkelte mit der zarten Magie von Hallias Volk. Darin befand sich ein kleiner silbriger Hügel – Hallias sterbliche Überreste, nachdem sie auf die traditionelle Art der Hirschmenschen eingeäschert worden war.
Merlin hielt sich die Schale an die Brust, sodass er ihr Gewicht spüren konnte, und sprach. Seine Stimme war zwar nur das raue Flüstern eines Mannes, der in den letzten Tagen zu viel geredet hat, doch seine Worte schallten über das Gras.
»Wir werden dich vermissen, Hallia, immer und ewig.« Er hielt inne und schluckte. »Wo immer dein Geist umherzieht … sollst du grüne Wiesen finden. Tiefe Lichtungen. Und liebende Herzen.«
Damit hob er die Schale und schleuderte die silbrige Asche in die Luft. Der Wind hob sie hoch wie einen springenden Hirsch, dessen Hufe nie wieder den Boden berühren. Dann, mit der Anmut eines sanften Regens, trieben sie nach unten und beleuchteten den klaren Teich, die schwankenden Bäume und das kastanienbraune Gras.
Die Asche landete auch auf allen, die sich zu Hallias Gedenken versammelt hatten. Ein silbernes Stäubchen geriet auf Basilgarrads Wimpern. Er blinzelte und es schwebte hinüber zu seiner großen Nasenspitze. Als es sie berührte, empfand er ein warmes, erregendes Gefühl – als hätte Hallia selbst die Hand auf ihn gelegt und ihm Gutes gewünscht.
Mit der Brise, die übers Land fegte, gingen langsam die Trauergäste. Einer nach dem anderen schied, die Stimmen waren gedämpft. Bald war niemand mehr da außer Merlin, der noch bei der Quelle stand, und Basilgarrad, der ihn beobachtete, still, wie je ein Drache war. Und … eine andere Person.
Endlich hob Krystallus den Kopf. Er schaute über die Wiese seinen Vater an – nicht mit Trauer oder Mitgefühl. Nein, Basilgarrad sah sofort, dass da etwas völlig anderes war: Zorn.
Bebend vor Wut ging Krystallus hinüber zu dem Zauberer, seine Stiefel zerdrückten das Gras unter ihnen. Er hatte die Fäuste geballt, als wollte er losschlagen. Doch er traf den Vater mit seinen Worten.
»Du hast gesagt, es sei falsch von mir, schrecklich gefährlich, sie nach Feuerwurzel zu bringen. Doch für dich, den großen Zauberer, war es völlig in Ordnung, das Gleiche zu tun.«
»Krystallus, ich …«
»Lass deine Entschuldigungen!«, rief der junge Mann. »Davon habe ich genug gehört für ein ganzes Leben.«
Merlin, der schuldbewusst aussah, versuchte es wieder. »Aber sie hat gebeten – sie flehte …«
»Das ist mir egal«, unterbrach ihn Krystallus. Ein Windstoß zerzauste seine weiße Mähne und blies sie ihm über eine Schulter, so wie seine Mutter oft ihr Haar getragen hatte. »Tatsache ist, dass du recht hattest mit der Gefahr. Ja, recht! Aber du hast dich aus deinen eigenen selbstsüchtigen Gründen entschieden, diese Gefahr zu missachten.« Seine Stimme sank zu einem Knurren. »Und so hast du sie umgebracht. Nicht irgendeiner mit seinem Pfeil. Du.«
Merlin schwankte, als hätte ihn ein Hammer getroffen. »Mein – mein Sohn …«
»Nenne mich nicht deinen Sohn! Ich will das nicht sein, nie wieder. Betrachte uns von diesem Tag an als …«
»Nicht, Krystallus«, brüllte der Drache und schüttelte den großen Kopf. Aber der junge Mann achtete nicht auf ihn.
»Fremde.«
Krystallus drehte sich abrupt um und ging über die Wiese davon. Bald verschwand er zwischen den Bäumen und hinterließ kein sichtbares Zeichen, dass er je da gewesen war. Doch das letzte Wort, das er gesprochen hatte, schien in der Luft zu hängen und nicht weichen zu wollen.
Basilgarrad sah den gequälten Gesichtsausdruck seines Freundes und wusste, er würde bleiben.