Drachen leben lange Zeit. Sehr lange Zeit. Aber einiges, tiefer als Erinnerung, lebt länger.
Krystallus stürzte vor und wankte aus der lodernden Pforte. Er rollte auf den harten Boden und roch sofort dessen seltsamen Geruch, wie zerstoßene Minze, aber herber. Er setzte sich auf und blinzelte. Hinter dem Boden, der von den flackernden grünen Flammen beleuchtet wurde, sah er nichts.
Nichts als Schwärze. Dunkler Himmel und noch dunklere Umrisse von Hügeln umgaben ihn. Bis auf die Pforte hinter ihm war nirgendwo ein Licht. Noch nicht einmal eine Spur von einem Lagerfeuer. Oder einem Wohnhaus. Oder Leben irgendeiner Art.
»Willkommen in Schattenwurzel«, flüsterte er sich zu und zog die Knie näher an die Brust, als er auf dem nach Minze duftenden Boden saß. Gewiss war in seiner Stimme ein Anklang von Triumph. Aber da war noch etwas – das mehr der Furcht glich.
Denn es gab hier tatsächlich Leben. Wenn er den Geschichten der Museos glaubte – der durchsichtigen, tränenförmigen Geschöpfe, die wunderbare, tief betrübte Lieder sangen –, dann enthielt das Reich, dem sie entflohen waren, unvorstellbare Schrecken. Welches Böse die Museos auch gezwungen hatte, vor Jahren aus Schattenwurzel zu fliehen, es verfolgte sie noch heute und gab ihren Liedern einen Unterton von Bedrohung. Und dieses Böse war zweifellos bis jetzt in diesem Reich geblieben … irgendwo hinter dem schwachen Lichtring der Pforte.
Vielleicht warte ich diesmal ausnahmsweise bis später, um meine Karte zu zeichnen! Sie würde sowieso nicht viel zeigen. Es sei denn, ich könnte eine neue Art Karte erfinden, die enthält, was nicht zu sehen ist. Er fand, das sei eine hübsche Idee, grinste – und nahm sich vor, sie seiner Liste hinzuzufügen.
Langsam stand er auf. Er spähte in die Dunkelheit ringsum und versuchte, irgendetwas Erkennbares auszumachen. Etwas Lebendiges. Doch alles, was er sehen konnte, waren Schichten um Schichten von Dunkelheit. Reich endloser Nacht, das hatte ein Barde in seiner Ballade über die Flucht der Museos geschrieben. Wie hieß es da? Er erinnerte sich nur an einen Vers:
Dunkel spukt in jedem Traum
Was zur Flucht gebracht:
Fieber, Schreie, Höllenraum,
Reich endloser Nacht.
Etwas streifte sein Handgelenk, er fuhr zusammen. In dem schwankenden grünen Licht der Pforte sah er einen winzigen dreieckigen Fleck auf seiner Haut. Schwarz wie das Reich um ihn herum. Plötzlich verängstigt schüttelte er den Arm und versuchte, den Fleck abzuschütteln – samt allem Üblen, das er enthielt.
Zu seiner Überraschung hob sich das schwarze Dreieck von seinem Handgelenk und flatterte in die Luft. Im Zickzackkurs flog es an seinem Gesicht vorbei, bevor es in der Dunkelheit verschwand. Eine Motte! Er sah ihr nach – und fing wieder den Duft zerstoßener Minze auf.
Er hob die Hand an die Nase und schnupperte. Minze flutete in seine Nasenlöcher – herb, aber zugleich bemerkenswert süß. Er grinste über diese Entdeckung – und seine Dummheit. Also enthält dieses Reich voller Dunkelheit und Gefahr auch eine duftende kleine Motte!
Die Neugier packte ihn, mehr von Schattenwurzel zu erkunden, und er schaute über die Schulter zur flammenden Pforte. Das Eingangstor, das offenbar er, Krystallus Eopia, als Erster entdeckt hatte. Und er war der Erste, der unverletzt hindurchgekommen war. Ein weiterer Sieg über diese Angeberin Serella! Dann schaute er geradeaus und ging über den harten Boden an den Rand des Pfortenlichts.
Dunkle Hügel, die sich kaum vom lichtlosen Himmel abhoben, erstreckten sich weiter, als er sehen konnte. So dunkel war die Aussicht, dass er noch nicht einmal sagen konnte, was im Vordergrund lag und was weit dahinter. Alles vermischte sich in einer dicken Nachtsuppe. Eine Suppe, die zweifellos mehr als ihren Anteil an ungewöhnlichen Gewürzen enthalten würde … und an tödlichen Giften.
Doch anders als einen Moment zuvor ließ diese Szene sein Herz nicht vor Angst rasen. »Irgendwo dort draußen«, sagte er leise, »ist eine kleine, nach Minze duftende Motte.«
Plötzlich veränderte sich der Himmel. Feuerpfeile, orange und golden, fuhren hoch oben darüber und zerrissen den Schleier aus Dunkelheit. Blitze? Fallende Sterne? Krystallus hielt den Atem an und betrachtete ehrfürchtig die feurigen Bögen.
Nein! Das sind keine Blitze. Das sind –
Er hielt inne, seine Gedanken rasten und versuchten, die Worte hervorzurufen, mit denen seine Mutter die Geschöpfe beschrieben hatte, die zur Hochzeit der Eltern gekommen waren. Geschöpfe, die Männern mit riesigen Flügeln ähnelten – Flügel, die mit hellen orangen Flammen brannten.
Feuerengel.
Er beobachtete gebannt, wie die flammenden Geschöpfe oben flogen und glühend orange Spuren am Himmel hinterließen. Dutzende Feuerengel flogen dort und beleuchteten das verdunkelte Reich. Wohin ziehen sie?, fragte er sich. Und warum sind sie hier?
Als schließlich das letzte dieser leuchtenden Geschöpfe vorbeiflog, senkte Krystallus den Blick, um zu sehen, was der momentane Lichtausbruch von den Ländereien ringsum enthüllen konnte. Jetzt sah er deutlicher die zerklüfteten Hügel, die diesen Fleck umgaben. Sie ragten zu Bergen auf, die anscheinend in den Himmel stachen. Immerdunkle Gipfel, sagte er sich und hatte damit bereits den Namen, den er in seine Karte dieses Reichs schreiben wollte.
Unter den Hügeln lag ein See, die Oberfläche war so unbewegt wie ein Spiegel. Selbst mit den orangen Flammenspuren, die sich im Wasser spiegelten, wirkte der See wie aus flüssiger Dunkelheit gemacht. Unter der Oberfläche bewegten sich bedrohliche, schattige Formen, die noch dunkler waren. Schattensee, dachte Krystallus.
Gerade als das letzte orange Licht vom Himmel verschwand, sah er noch etwas – etwas, das ihm zuvor ganz entgangen war. Gestalten! Gestalten von – konnte das sein? – Elfen!
Nur wenige Schritte vom Lichtring der Pforte entfernt lagen die Elfen bewegungslos auf dem Boden. Sie waren verdreht, als würden sie sich noch winden, der Todesschmerz war in ihre Gesichter gegraben. Mehrere hatten die Arme zur Pforte ausgestreckt. Griffen sie suchend nach einer Fluchtmöglichkeit? Flucht wovor?
Ohne auf die vordringende Dunkelheit zu achten, lief Krystallus zu ihnen hinüber. Es waren fünf, sechs, insgesamt sieben – und alle waren sichtlich tot. Er biss die Zähne zusammen, teils aus Mitgefühl wegen ihres schrecklichen Todes, dessen Ursache er nicht kannte. Und teils, gestand er sich ein, aus Enttäuschung, dass andere die Pforte zuerst gefunden hatten.
Im letzten Lichtschein der Feuerengel bemerkte er eine kleine Bewegung. Eine der Elfen – eine Frau mit silberblondem Haar – regte sich ganz leicht. Ihre Finger griffen in die Luft, während aus ihrer Kehle ein schwacher, ersterbender Atemzug drang.
Krystallus starrte sie auch noch an, als ihre Gestalt vom Dunkel verschluckt wurde. Denn er kannte diese Elfe, kannte ihr Haar und ihre Stimme und ihre arrogante Art, die ihn schon in seinen Träumen gequält hatte.
»Serella«, knurrte er. Eifersucht und Groll drangen so unaufhörlich in sein Herz wie die zurückkehrende Nacht in die Landschaft.
Doch … tief innen, in seinem innersten Selbst, spürte er eine andere Empfindung. Eine, die er nie erwartet hätte, bestimmt nicht für Serella. Mitgefühl. Nicht für sie als eine Forscherkollegin, sondern auf einer tieferen Stufe: als ein Lebewesen, genau wie er.
Ohne länger zu zögern, eilte er zu ihr. Weil er über einen der dunklen Körper stolperte, verlor er fast das Gleichgewicht und erreichte sie gerade, als völlige Dunkelheit einsetzte. Er kniete nieder, legte die Hand auf ihren Rücken und spürte eine winzige Atembewegung. Dann schob er die Arme unter sie, stand auf und hob ihren schlaffen Körper.
Während Krystallus zu den Pfortenflammen wankte, konzentrierte er sich angestrengt auf sein nächstes Ziel – Wasserwurzel, die Heimat von Serellas Volk. Wenn er sie in ihr Reich zurückbrachte, wo Elfenheiler sich um sie kümmern würden, könnte sie überleben. Wasserwurzel, dachte er und beschwor Erinnerungen an schimmernde Wellen, kühle Ströme und salzige Luft herauf.
Doch noch als er in den Ring aus grünem Licht trat, konnte er nicht ganz den seltsamen Platz aus seinen Gedanken verdrängen, den er gerade verließ. Und auch nicht, während er den Körper in seinen Armen hochhob, den seltsamen Preis, den er mit sich nahm.