Was wir sehen, ist nützlich, provokant oder inspirierend. Doch was wir nicht sehen, ist wesentlich.
Wie versprochen war der majestätische Bendegeit bereit, Basilgarrad zu helfen, nachdem er zufrieden festgestellt hatte, dass Marnya noch heil war. Er fuhr auf den glitzernden Wellen herum, spritzte Wasser in alle Richtungen und führte seine strahlende Tochter und ihren geehrten Gast zurück zu der verborgenen Höhle. Dort, wo seine Magie am stärksten war, würde er seine Belohnung gewähren.
Als sie sich dem Höhleneingang näherten, rührten sich die drei bewusstlosen Drachenwachen auf den Felsen. Gerade als Basilgarrad vorbeikam, erwachte der Drache mit der narbigen Schnauze ganz – und schnappte nach Luft. Den hinterhältigen Eindringling zu sehen, der ihn geschlagen hatte, war verstörend genug, doch zu sehen, wie dieser Eindringling zufrieden neben dem Herrscher und seiner Tochter herschwamm, war mehr, als der Wächter ertragen konnte. Er brüllte Basilgarrad zornig an und stürzte sich auf seinen Gegner, wobei er blaue Eiszapfen auf die Steine sprühte.
Leider bemerkte er nicht, dass sein Schwanz mit den Schwänzen der Gefährten verknotet war – eine kleine Vorsichtsmaßnahme von Basilgarrad, bevor er sie verlassen hatte. Jetzt wurde der springende Wasserdrache plötzlich gebremst und zurückgeschleudert. Er fiel mit noch mehr wütendem Gebrüll direkt auf seine Gefährten. Alle drei Wächter traten und bissen einander und verwickelten sich dabei immer mehr.
»Ahoi, Narbengesicht!«, rief Basilgarrad im Vorbeischwimmen. »Hast du gut geschlafen?«
Statt einer Antwort kam ein Chor von Knurren, Brüllen und zusammenknallenden Köpfen.
Gleich darauf erreichten Bendegeit und seine Tochter plus Basilgarrad die leuchtende Höhle. Fackeln mit phosphoreszierendem Meereslicht warfen die drei Drachenschatten an die Wände. Die grünen, blauen und violetten Pauamuscheln leuchteten noch strahlender als in Basilgarrads Erinnerung. Er schauderte vor Erwartung und wusste, dass er bald die Antwort auf seine – und Avalons – größte Frage erfahren würde.
Mit einem Blick zu der hohen Decke mit den farbenprächtigen Mosaiken aus Seesternen sagte er zu dem Herrscher: »Ich habe so eine Ahnung, dass bald ein neues Mosaik dazukommt.«
»Und was brrringt dich dazu, das zu sagen?«
»Es ist nur eine Annahme«, sagte der grüne Drache vergnügt. »Eine historische Szene wäre hübsch – zum Beispiel der erste Wasserdrache, der fliegt.«
Bendegeits Augen glitzerten vor Belustigung. »Vielleicht hast du rrrecht.«
Marnya gluckste entzückt. Sie richtete den himmelblauen Blick auf Basilgarrad und sah ihn dankbar an.
Der Herrscher der Wasserdrachen schwamm in die Höhlenmitte und räusperte sich mit einem tiefen Poltern, das von den Wänden widerhallte. Ernst befahl er Basilgarrad: »Stelle die Frrrage, die ich beantworrrten soll.«
Der grüne Drache zog die Augenbrauen hoch. »Was – oder wer – steckt hinter Avalons Problemen? Die Auseinandersetzungen, der schwindende Frieden, die Seuche, die sich ausbreitet. Wer verursacht das?«
Bendegeit holte tief Luft, als würde er die Frage einatmen. Dann hieb er mit einem mächtigen Flossenschlag auf die Wasseroberfläche und schickte so eine grüne Sprühfontäne in die Luft. Unzählige Tröpfchen funkelten im Fackellicht, während sie zur Decke stiegen, langsamer wurden und einen Moment schwebten, bevor sie herunterregneten.
Alle bis auf ein Tröpfchen.
Denn Bendegeit hatte dieses besondere Tröpfchen für seine Zwecke ausgewählt. Er richtete den Blick auf seine silbrige runde Form und beschwor seine innere Magie, es festzuhalten, hoch über ihren Köpfen. Wie ein einzelner Stern leuchtete es – einmalig, anmutig und einsam.
Der Herrscher kniff die orangen Augen zusammen, während er sich auf das Tröpfchen konzentrierte. Langsam, sehr langsam wurde es größer, es schwoll zu einer silbrigen Kugel, die hell vor ihnen wirbelte. Die Kugel reflektierte das Licht der Fackeln und die strahlenden Farben der Muscheln und Seesterne an den Höhlenwänden. Doch sie strahlte zugleich eine andere Art Licht aus – ein zartes, wechselndes eigenes Licht.
»Horrrche jetzt, Kugel!«, brüllte Bendegeit. Dann begann er in flüsterndem Brummen einen Sprechgesang:
Was nie geschrieben, schreib,
Ungesagtes sag,
Was fort war, hol her.
Die Schleier vertreib,
Die Mühen ertrag,
Enthüll uns noch mehr.
Zeig, was verborgen war,
Dunkel im Schatten
Von Lügen und Trug.
Mach uns die Wahrheit klar,
Die wir nicht hatten,
Das ist uns genug.
Licht und Schatten begannen in der Kugel zu wirbeln, sie kreisten und schimmerten. Einen Moment lang wurde der Kreis heller, so strahlend wie ein explodierender Stern. Dann verblasste das Licht unerbittlich. Schatten dunkelten, Schwärze vertiefte sich, kam in Ecken und Formen zusammen, die ohne Licht zu sein schienen.
Dunkler als dunkel waren die Worte, die Basilgarrad in den Sinn kamen. Ohne zu wissen, warum, schauderte er.
Eine Gestalt erschien mitten in der Kugel, schwärzer als die Schatten um sie herum. Lang und sehnig wie eine senkrechte Schlange schien sie irgendetwas zu tun – nicht zu trinken, nicht zu essen, nicht mit Geräten zu arbeiten. Was mochte sie tun? Etwas, das große Kraft und Konzentration erforderte. Vielleicht … gebären?
Etwas an der Gestalt kam Basilgarrad vage vertraut vor. Woher, hätte er allerdings nicht zu sagen gewusst. Weil der Schattenegel sein blutrotes Auge nicht zeigte, blieb seine Identität verborgen. Basilgarrad schaute angestrengt in die schimmernde Kugel und seine Ahnung verdichtete sich: Alle neuen Probleme Avalons hatten tatsächlich einen einzigen Grund, eine identifizierbare Ursache. Aber was genau diese Ursache war und wo sie in Avalon zu finden sein könnte, wusste er nicht.
Das dunkle Bild in der Kugel verblasste, es verschwamm in Schattenschichten. Gerade als es völlig verschwand, schrumpfte die Kugel, sie zog sich zusammen bis zur Größe eines einzigen Wassertropfens.
Der Herrscher nickte, sein Gesicht mit den Edelsteinen war grimmig. »Errrkennst du dieses hinterrrhältige Geschöpf?«, fragte er Basilgarrad.
Merlins großer Freund schüttelte traurig den Kopf.
»Dann sag mirrr … verrrstehst du jetzt mehrrr als zuvorrr?«
»Nur das, Herrscher«, Basilgarrads Stimme dröhnte so laut, dass die Höhle vibrierte. »Irgendwo bewirkt dieses Geschöpf Böses – genug, um unsere ganze Welt zu bedrohen. Ich kenne weder seine Pläne noch seine Kräfte, noch nicht einmal seinen Namen. Aber eins weiß ich.«
»Und was ist das?« Marnya schwamm näher.
Basilgarrad hob den Kopf hoch, er streckte ihn fast bis zur Höhlendecke. Licht aus den phosphoreszierenden Fackeln schimmerte auf seinen Schuppen und Zähnen. »Irgendwo werde ich dieses Schattending finden. Ich werde es finden – und zerstören.«
Damit neigte er den Kopf vor Bendegeit. »Dir, großer Herrscher, sage ich, regiere gut.« Er wandte sich zu Marnya, seine Augen leuchteten. »Und dir sage ich … Fliege gut!«
Basilgarrad machte kehrt und schwamm durch den Tunnel zum offenen Meer. Der Herrscher und seine Tochter sahen ihm schweigend nach. Beide ahnten, dass dieser ungewöhnte Besucher ihr Leben verändert hatte … und etwas Größeres ändern könnte.