Wenn ich an jene Tage mit Merlin zurückdenke, wird mir klar, dass seine berechenbarste Eigenschaft leider die Unberechenbarkeit war.
Basilgarrad war nicht überrascht, dass Merlin nach diesem brutalen Erlebnis in den Sommerländern beschloss, einige Zeit allein zu verbringen. Ebenso wenig, dass sein Freund auf Hallias Gipfel steigen wollte, einen Ort voller Erinnerungen. Doch es überraschte ihn sehr, wie lange der Zauberer dort oben auf den schneebedeckten Hängen blieb – sieben ganze Wochen.
In dieser Zeit setzte Basilgarrad nach besten Kräften das fort, was er und Merlin als Team getan hatten. Der Drache eilte von Reich zu Reich, schlichtete einen Streit zwischen zwei Familien geflügelter Drachen, verhinderte die Zerstörung eines Dorfs durch Gobsken und hielt den rachedurstigen Lo Valdearg davon ab, einen weiteren Angriff auf die Zwerge zu organisieren. Alle diese Unternehmungen waren erfolgreich, aber es war harte und einsame Arbeit für einen, der jetzt in ganz Avalon als Friedensflügel bekannt war. Besonders seit er Tag und Nacht die Kälte dieses üblen Schattens spürte, den er in Bendegeits Höhle gesehen hatte – eines Schattens, den er immer noch nicht identifizieren konnte.
Endlich, an einem frischen Herbsttag, hörte Basilgarrad die vertraute Stimme im Kopf. Sie meldete sich, als er tief über Waldwurzels Baumwipfel flog und sich davon überzeugte, dass kein Anzeichen der Seuche in seinen geliebten Wald zurückgekehrt war. Weil er kräftigen Gegenwind hatte, brauste die Luft an seinen Ohren vorbei und über seine Flügel, wobei sie klang wie ein böiger Sturm. Unter ihm peitschten und knackten laut die Äste, die vom Sturm hin und her geschleudert wurden. Dennoch fiel es ihm nicht schwer, Merlins Gedanken zu hören.
Hallo, Basil. Wie fändest du es, zu mir auf Hallias Gipfel zu kommen? Ich bin auf der Westseite, beim Sternguckerstein.
Ein neuer Windstoß schoss in Basilgarrads Ohren, während er eine scharfe Kurve flog. Bin schon unterwegs.
Doch obwohl sein Herz hüpfte vor Freude, die Stimme des Zauberers wieder zu hören, wurde er das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmte. Gar nicht stimmte. Oder war das schon wieder eine Berührung dieses flüchtigen Schattens?
Ein paar Sekunden später stieß er aus den hohen Wolkenschichten über Steinwurzels hoch aufragenden Gipfeln. Seine Drachenflügel streckten sich fast über den Hang und ließen die Steinbrocken unten viel kleiner wirken. Doch eine besondere Steinplatte konnte er nicht übersehen. Auf ihr stand ein groß gewachsener bärtiger Mann, der so robust aussah wie der Stein.
Merlin sah den Drachen näher kommen und hob seinen Stab zum Gruß. Als Basilgarrad landete und dabei Dutzende flechtenbesetzter Felsen unter seinem Gewicht zerdrückte, trat der Zauberer zurück, weil er dem Hagel aus Kieseln und zerfetzten Flechten ausweichen wollte. Der große Körper kam zum Halten, die knirschenden Steine hatten ihren Platz gefunden und Merlin sagte trocken: »Du hast schon immer gewusst, wie man sich in Szene setzt.«
»Das habe ich von dir gelernt«, gab der Drache zurück.
Aber Merlin lächelte nicht. Liebevoll und traurig zugleich sagte er: »Es tut gut, dich wiederzusehen, Basil.« Auf seinen Stab gestützt betrachtete er den Freund, dann fügte er hinzu: »Bevor ich gehen muss.«
»Gehen?«, brüllte der Drache so laut, dass mehrere Felsen vom Sims drunten brachen und den Hang hinunterpolterten. »Du bist doch erst zurückgekommen!«
»Ja, ich weiß«, sagte Merlin leise. Sein Blick fiel auf den Sternguckerstein, wo er einige Sternbilder betrachtete, die in die Oberfläche des Felsens geritzt waren. Eine Konstellation betrachtete er länger als den Rest – die leuchtende Sternenreihe, die man fast überall in Avalon sah; die Leute nannten sie Zauberstab. »Aber ich habe nach vielen Überlegungen beschlossen, dass ich gehen muss.«
»Wohin? Warum?«
»Nun …« Der Magier hielt inne und zwirbelte ein paar widerspenstigere Haare seines buschigen Barts. »Für mich ist die Zeit gekommen, Avalon zu verlassen.«
»Avalon verlassen!«, brüllte Basilgarrad mit solcher Kraft, das ein Schwarm Gänse hoch über ihnen plötzlich auseinanderstob, die Vögel flatterten in alle Richtungen davon. »Das kannst du nicht machen. Nicht jetzt – wenn so viel schiefgeht! Unsere Welt – unsere Heimat – fällt auseinander!«
»Das stimmt nicht, Basil.« Der Zauberer trat auf dem Stein einen Schritt näher und schaute hinauf in das große Drachenauge. »Ich habe Geschichten von deinen Erfolgen gehört, sogar während ich um Hallia trauerte. Von den Vögeln, von den Gipfelkobolden und auch von Rhia, die mich hier aufgesucht hat. Alle erzählten mir von der großartigen Arbeit eines Drachen, der Friedensflügel genannt wird.«
Basilgarrad schüttelte den mächtigen Kopf. »Ich bin zurechtgekommen, das stimmt, aber nicht annähernd so gut, wie es mit dir gewesen wäre.« Er runzelte die Stirn, sodass tiefe Spalten zwischen den Schuppen entstanden. »Außerdem geht es gar nicht darum. Avalons Probleme sind so groß wie zuvor! Die Gewaltausbrüche hören nicht auf. Und ich bin auf der Suche nach dem bösen Schattenbiest nicht weitergekommen. Merlin, du kannst jetzt nicht gehen!«
»Basil«, der Zauberer drehte seinen Stab auf dem Felsklotz, »und wenn diese Ausbrüche in Wirklichkeit nur sind, was ich schon an ihrem Anfang dachte – die normalen Wachstumsschmerzen einer neuen Welt? Wenn sie tatsächlich ein wichtiger Teil von Avalons Reifung sind? Eine Chance für die Geschöpfe dieser Welt, zusammenzukommen und zu lernen, wie sie triumphieren können über all ihre schlechtesten Eigenschaften: Hass, Intoleranz und Gier. Denk doch mal darüber nach, Basil! Dieser Triumph würde das Experiment Avalon noch bemerkenswerter, noch erfolgreicher machen.«
Der Drache zeigte die Zähne, als er über diese Vorstellung knurrte. Hunderte schwertscharfer Zähne schimmerten, während ein tiefes Poltern aus seiner Kehle kam und die Felsklötze rundum erschütterte. »Was ist aus deiner Vision geworden, der Avalon-Idee?«
»Diese Idee ist noch so machtvoll wie je zuvor! Sogar noch mehr, wenn unsere kostbare Welt die Möglichkeit findet, sich über diese Probleme zu erheben. Verstehst du? Mir war zuvor nicht klar, dass echter Friede – die höchste Form der Idee – nicht von einem Zauberer kommen sollte, der Frieden aufdrängt, sondern von einer Welt, die Frieden sich zu eigen macht.«
Basilgarrads Knurren wurde lauter. »Inzwischen werden zu viele Leute leiden und sterben. Und Merlin – das Schattenbiest ist immer noch irgendwo dort draußen.«
»Vielleicht. Aber hast du die Möglichkeit bedacht, dass es gar nicht hier in Avalon ist?«
»Nicht hier?«
»Ja! Was, wenn das alles ein Kniff ist, eine kluge Ablenkung, die uns beide ständig in diesen Reichen suchen lässt?« Merlins dunkle Augen funkelten mit einer neuen Idee. »Wenn dieses hinterhältige Biest überhaupt nicht in Avalon ist? Das würde erklären, warum niemand – nicht du, nicht ich, keiner – es gesehen hat.«
»Das ist verrückt!«, donnerte der Drache. »Wo sonst könnte er sein?«
Merlin beugte sich vor und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Auf der Erde. Dort könnte er sein.«
»Was? Das kannst du nicht ernsthaft glauben.«
»O doch!« Ohne auf den zweifelnden Ausdruck seines Freundes zu achten, erklärte der Zauberer: »Dagda hat mir vor langer Zeit erzählt, dass das Schicksal dieser beiden Welten, Avalon und Erde, eng miteinander verbunden ist. Nun, diese irdische Welt ist in Vielem anders als Avalon – die Landschaft, die Leute, sogar die Zeit, die in einer anderen Geschwindigkeit verläuft. Aber sie ist wie Avalon eine Welt des freien Willens. Eine Welt vieler Wunder. Und zugleich … eine Welt, die der Kriegsherr Rhita Gawr gierig begehrt.«
Basilgarrad, immer noch nicht überzeugt, richtete die Ohren auf den Zauberer. »Du hast also beschlossen, zur Erde zu gehen?«
Merlin nickte, während eine Bergbrise ihm das Haar zerzauste. »Sie mag räumlich fern sein, doch ihr Schicksal ist uns nah. Vielleicht ist das Schattenbiest wirklich dort und schmiedet Pläne gegen uns!« Er hielt inne und sagte dann: »Außerdem ist es an der Zeit, ein Versprechen zu halten, das ich einst gegeben habe – dass ich einem jungen König namens Artus helfe, auf der kriegsversehrten Insel Britannien einen Ort des Friedens zu schaffen, Camelot. Das ist eine bemerkenswerte, faszinierende Idee.«
»Avalon ist das auch!« Der Drache hob seinen gigantischen Schwanz und hieb ihn mit ganzer Macht auf den Berghang. Schneebedeckte Simse brachen vom Kamm, Lawinen schossen die Hänge hinunter und Felsklötze krachten in die Bäume drunten. Vögel stiegen in die Luft, wobei sie wütend kreischten und schrien.
Basilgarrad wartete, bis Lärm und Beben aufhörten. Dann sah er seinen langjährigen Freund genau an und fragte etwas leiser: »Weißt du genau, dass du deshalb weggehen willst? Weil wichtige Arbeit in dieser weit entfernten Welt zu tun ist?« Seine smaragdgrünen Augen blitzten. »Oder weil … der Schmerz in dieser hier einfach zu stark für dich ist?«
Der Zauberer, der darauf nicht vorbereitet war, schaute hinunter auf den Sternguckerstein. Er starrte auf die hineingegrabenen Sternbilder. Schließlich hob er den Kopf und antwortete mit einem einzigen Wort:
»Beides.«
Er schluckte, dann fügte er mit schwankender Stimme hinzu: »Ich kann es einfach nicht ertragen, hierzubleiben, Basil. Nicht jetzt. Ich habe zu viel« – er senkte die Stimme zu einem stockenden Flüstern – »verloren.«
Der Drache, der Merlins Kummer spürte, kniff die grünen Augen zusammen. »Aber Avalon braucht dich. Jetzt mehr denn je! Du bist sein Beschützer.«
»Nein.« Der Magier schüttelte den Kopf. »Avalon hat jeden Schutz, den es braucht – in dir.«
»In mir?« Basils ganzer Körper zuckte und stieß dabei weitere Felsklötze den Hang hinunter.
»Ja.«
Der Drache betrachtete lange prüfend seinen Freund. Dann sagte er mit einer Stimme, die für ein so gewaltiges Geschöpf sehr dünn klang: »Aber … ich bin noch nicht dazu bereit.«
»O doch!« Merlin trat näher an den Stein. »Du warst bereit, seit du aus deinem Ei geschlüpft bist, obwohl du kleiner warst als mein kleiner Finger und keine Ahnung von deiner Identität hattest.«
Als er den Zweifel sah, der sich auf jeder Schuppe des Drachengesichts zeigte, setzte er hinzu: »Deshalb hat Dagda sofort erkannt, was für ein besonderes Geschöpf du bist. Deshalb hat er Aylah geschickt, damit sie dich behütet. Und deshalb hat er dich ausgewählt, mich gegen das Kreelix zu verteidigen.«
Die große Stirn legte sich in Falten. »Ich verstehe immer noch nicht, warum er dazu von allen Geschöpfen in Avalon mich gewählt hat. Das ist für mich ebenso ein Rätsel wie seine Anordnung, von jedem Reich ein Sandkorn zu schlucken.«
Merlin schaute zu ihm hinauf, während eine kühle Brise die Ärmel seiner Tunika kräuselte. »Ich kenne Dagdas Gründe für diesen Befehl an dich nicht. Aber das weiß ich: Er hatte Gründe. Gute Gründe! Darauf kannst du dich verlassen.« Mit einer Handbewegung setzte er hinzu: »Vielleicht weil du mehr als jedes andere lebende Geschöpf Avalon bist. Die lebendige Verkörperung dieser Welt. Seiner Hoffnungen, seiner Wunder, seiner …«
»Ängste«, ergänzte der Drache nüchtern.
»Auch das. Aber hör auf mich, Basil. Du bist bereit.«
Der Drache seufzte und stieß dabei einen Luftstoß aus, der den Zauberer fast umwarf. Dann, als Merlin mithilfe seines Stabs das Gleichgewicht wiederhatte, fragte Basilgarrad: »Wirst du zurückkommen? Oder verlässt du uns … für immer?«
»Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht komme ich nie zurück. Das gehört zu den Dingen, die ich in diesen Wochen hier oben getan habe: Ich habe mich verabschiedet« – kurz schaute er hinauf zu Hallias Gipfel – »von Avalon.«
Basilgarrad sah die ganze Anspannung in Merlins Gesicht, besonders in den Falten um die Augen, und nickte düster. Er verstand zum ersten Mal die ganze Bedeutung – und die entgegengesetzten Kräfte – von Merlins wahrem Namen Olo Eopia. Es war nicht leicht, ein großer Mann vieler Welten, vieler Zeiten zu sein. Wie es auch nicht leicht war, in irgendeiner Welt oder Zeit so von Verlust und Leid gequält zu sein.
Merlin zog wie so oft die buschigen Augenbrauen hoch, bevor er etwas sagte, das ihm schwerfiel. »Und jetzt, alter Freund, muss ich mich von dir verabschieden.« Er trat an den Rand des Steins und legte die Hand auf die Unterlippe des Drachens. »Du weißt, wenn ich diese Welt verlasse, heißt das nicht, dass ich dich verlasse. Wir haben etwas Kostbares, kostbarer als jede Magie oder jeder Edelstein, und das wird sich nie ändern. Ich verspreche es! Auch wenn ich weit weg sein werde, bin ich bei dir – solange die Sterne hell über Avalon leuchten.«
Basilgarrad schaute dem Zauberer ins Gesicht und legte die schuppige Stirn in tiefe Falten. Zum ersten Mal, seit er ein Drache geworden war, kam er sich sehr klein vor.