Es gibt viele Möglichkeiten, sich zu verirren. Manchmal kann keine Karte helfen.
Wo, überlegte Basilgarrad, sollte er Krystallus suchen? Der beste Ort für den Anfang war das Forschungszentrum, das Merlins Sohn gegründet hatte – die Eopia Hochschule für Kartenzeichner. Dieses Institut stand an einer mächtigen Pforte am östlichen Ende von Brynchilla und konnte sich jetzt rühmen, die größte Kartensammlung in Avalon zu besitzen. Seine weit gereisten Bewohner besuchten regelmäßig die sieben Wurzelreiche und auch (so wurde gemunkelt) die nebligen Küsten des versunkenen Fincayra im Geisterreich.
Viele Leute wohnten in der Hochschule, entweder um das Kartenzeichnen zu lernen oder um ihre neuesten Entdeckungen festzuhalten. Unter ihnen war Krystallus. Niemand war so weit gereist wie er – auf einer neuen Reise hatte ihn eine geheime Route in den Stamm des Baums zu einer inneren Höhle geführt, die er die große Kernholzhalle nannte. Doch diese Entdeckung vergrößerte nur seinen Appetit auf mehr, genau wie alle anderen Funde in seiner sagenumwobenen Laufbahn.
Basilgarrad stieß aus den Wolken herunter und sah zum ersten Mal die Hochschule. Was ist denn das für ein Gebäude?, fragte er sich und schaute auf einen vielfarbigen Flickenteppich aus alten Decken, verblassten Tuniken und Bodenplanen, wie man sie in Zelten brauchte. In manchen Tuchstücken schimmerten glitzernde magische Fäden, anderen gab der Schmutz von vielen Reisen die jetzige Farbe.
Verwirrt flog er tiefer. Als die kantigen Schatten seiner Flügel über die Hochschule glitten, verstand er es plötzlich. Das ist ein Zelt! Ein riesiges Zelt. Entweder hatte Krystallus beim Bau der Hochschule an das Leben eines umherwandernden Forschers erinnern wollen, der oft in einem Zelt oder im Freien schlief, oder er hatte einfach nicht die Zeit gefunden, etwas Stabileres zu konstruieren.
Basilgarrad landete neben der riesigen Einzäunung, wobei er auf den losen Steinen rutschte, die auf der Klippe lagen. Langsam näherte er sich dem Zelt, den riesigen Schwanz zog er hinter sich her und gab acht, dass er den Vortrag einer Frau in einem Hemd aus Haaren nicht störte, die ihre Abenteuer in Trolldom beschrieb. Fasziniert von ihrem Bericht (und von dem zahmen einäugigen Troll, der neben ihr stand und versuchte, vorbeifliegende Vögel mit der Zunge zu fangen), achteten die Zuhörer kaum auf Basilgarrad. Er war schließlich ein vertrauter Anblick in Avalon, während ein Troll als etwas wirklich Exotisches galt. Als der Drache vorbeikam, hielt das Publikum den Atem an, weil der Troll schnell die Zunge herausgestreckt und sich eine unglückliche Möwe geschnappt hatte.
An der offenen Wand des Zelts, die zu einem großen Eingang hochgerollt war, legte Basilgarrad den enormen Kopf auf den Boden davor. Leute wuselten hinein und heraus, sie gingen mit kaum einem Blick auf ihn um seine Schnauze herum, als wäre nichts Besonderes daran, einem Drachen auf dem Hochschulgelände zu begegnen. Manche waren tief in ein Gespräch über ferne Orte vertieft wie zwei junge Männer mit Federhüten, die über die Zusammensetzung eines Wolkenkuchens in Luftwurzel stritten. Andere trugen so hohe Rollenstapel auf den Armen, dass häufig etwas herunterfiel. Wieder andere plauderten oder sangen in Sprachen, die selbst Basilgarrad auf all seinen Reisen nie gehört hatte.
Dieser Ort kommt mir mehr wie ein Zirkus vor, einer Hochschule gleicht er bisher kaum, dachte er beim Anblick einer Zwergengruppe, die einen Elefanten mit großen Schlappohren in das Zelt führte.
Neugierig schaute er hinein. Von der Zeltspitze hing ein großes blaues Banner mit dem Emblem, das er gut kannte: ein Stern in einem Kreis, das alte Symbol für Reisen zwischen Orten und Zeiten. Direkt darunter stand etwas, das ihn überrascht schnauben ließ – ein maßstabgetreues Modell des großen Baums von Avalon, das sich langsam auf seinem Sockel drehte. Die Darstellung der sieben Wurzelreiche ging wunderbar auf Einzelheiten ein und zeigte Wälder, Seen, Moore, Siedlungen sowie Erkennungszeichen aller Art. Beschreibungen standen auf der Oberfläche. Aber die noch unerforschten Äste zeigten kaum irgendwelche Merkmale.
»Verzeih, Meister Drache.«
Basilgarrad senkte den Blick und sah neben seinem Unterkiefer einen jungen Elf stehen, der zwar größer war als andere Elfen, aber kaum bis an die Unterlippe des Drachen reichte. »Ja?«, dröhnte die umfangreiche Stimme.
»Bist du nicht Friedensflügel?«, fragte der Elf und schaute mit seinen waldgrünen Augen hinauf in die viel größeren Augen in ähnlicher Farbe.
»Der bin ich«, antwortete die ungeheuer tiefe Stimme. »Obwohl es in diesen Tagen schwer ist, Frieden zu finden.«
Der Elf nickte. Offenbar interessierte ihn die Vergangenheit mehr als die Gegenwart, denn er fragte: »Stimmt es, dass du im Moment von Avalons Entstehung aus dem Ei geschlüpft bist?« Er runzelte die Stirn und setzte hinzu: »Obwohl du deine Drachengestalt erst später angenommen hast – als du siebenunddreißig Jahre alt warst, um genau zu sein.«
Basilgarrads Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln. »Ja, das stimmt. Und du bist wohl Tressimir – der junge Historiker unter den Waldelfen.«
Der Elf wurde rot und fragte: »Hast du von mir gehört?«
»Drachen haben große Ohren.« Er lachte rumpelnd in sich hinein. »Jetzt sag mir, Tressimir, hast du eine Ahnung, wo ich Krystallus finden kann?«
Der Elf strahlte. »Aber ja! Er war gerade heute Morgen hier, er arbeitet an dieser neuen Kartenidee. Du weißt schon, eine Karte, die …«
»Ich weiß es nicht«, unterbrach ihn Basilgarrad. »Aber könntest du ihn für mich suchen?«
»Natürlich.« Tressimir eilte ins Zelt zu den vielen Leuten.
Basilgarrad schaute ihm nach und beschloss, sich näher zu betrachten, was da drin vor sich ging. An einer Wand entlang sah er mehrere Trennwände, die kleinere Räume herstellten. Klassenzimmer, erkannte er. In jedem Raum unterrichtete jemand eine Gruppe Zuhörer. Um das Wichtige zu unterstreichen, brachen die Dozenten häufig in Sprechgesang, Lieder oder wilde Schreie aus. Dann wieder hielten sie Zeichnungen hoch, Musterstücke von Kleidung, Gipsabdrücke von Fußspuren oder (in einem Fall) eine riesige goldfarbene Klaue.
An der Wand auf der anderen Seite des Zelts, hinter dem Modell des Baums, saßen Dutzende von Studenten an individuellen Schreibtischen. Jeder hielt einen Adlerfederkiel in der einen und eine Karte mit ungefährer Skizze in der anderen Hand, während er auf die Papierrolle zeichnete, die auf dem Schreibtisch ausgebreitet war. Tintenflaschen, weitere Federkiele, Löschtücher und Kompasse waren überall verstreut.
Ein edles Handwerk, dachte der Drache beifällig. Man muss sehr geschickt sein, wenn man eine anständige Karte zeichnen will.
Basilgarrad kroch näher. Überall auf dem Boden sah er andere Arten von Karten – von manchen hatte er Gerüchte gehört, von anderen hätte er sich nicht träumen lassen. Da, neben dem sich drehenden Baum, hielt ein Ständer eine große Karte, die tatsächlich sprechen konnte! Sie war berühmt für ihre tiefe Baritonstimme – sowie die Neigung, jederzeit zu pfeifen – und war ein Geschenk von Krystallus an die Hochschule. Doch er hatte nie verraten, wo genau er sie gefunden hatte. Barden aus jedem Reich kamen, um vor dieser Karte zu stehen und Fragen über ferne Länder zu stellen. Gerade jetzt flatterte eine Gruppe Waldfeen um die Karte herum und fragte, wo sie leben könnten ohne die Gefahr von Kriegen, Feuern oder Explosionen.
Basilgarrad streckte die Ohren vor und horchte sehr interessiert auf die Antwort. Doch zu seiner Bestürzung – und dem Zorn der Feen – blieb die Karte still. Sie sprach nicht, sie pfiff noch nicht einmal. Die Feen sausten beleidigt davon und flogen Basilgarrad beinah in die Nase, als sie das Zelt verließen.
Genau wie ich erwartet habe, dachte er betrübt. Und deshalb müssen wir Merlin zurückholen.
Er überschaute wieder das rege Treiben im Zelt und suchte nach Spuren von Krystallus. Als er keine fand, wandte er sich den ungewöhnlichen ausgestellten Karten zu. Was ihm als Erstes in die Augen fiel – oder eigentlich in die Ohren –, war eine Karte der Lieder. Eine Museofamilie hatte sie der Hochschule gestiftet, sie konnte die Musik von jedem Ort in Avalon hören lassen. Gerade drückte eine Elfe den Finger auf die Spitze von Luftwurzel. Sofort ertönte der rauschende, wehende Gesang von Sylphen, die zwischen den Wolken schwebten.
Basilgarrad schaute sich im Zelt um und bemerkte eine weitere Karte, die wie ein Fernrohr arbeitete. Nach der richtigen magischen Formel bot sie den Benutzern eine Nahaufnahme von irgendeinem Ziel in der Landschaft. Dreißig oder vierzig Leute standen Schlange und warteten auf ihre Chance – darunter eine gebückte Alte mit verknotetem Haar, Armen wie knorrigen Ästen und Füßen wie Baumwurzeln.
Ein Bäumling, erkannte der Drache. Ich hatte geglaubt, es gibt keine mehr.
Das faszinierte ihn, doch eine andere Karte nahm ihn gefangen, die einer schwach beleuchteten Kugel glich. Sie war aus einer Art Kristall gemacht, in ihr wirbelten schattenhafte Gase, als würde sie einen kleinen, aber magischen Sturm enthalten. Basilgarrad runzelte die massige Stirn, denn sie erinnerte ihn an die magische Kugel von Bendegeit – und die dunkle Erscheinung, die er darin gesehen hatte.
Gerade da näherte sich eine Frau mit einem schweren Schal über den gebeugten Schultern der Kugel. »Sag mir«, verlangte sie mit heiserer Stimme, »wie wird meine Heimat in zweihundert Jahren aussehen?«
Eine Karte, die die Zukunft zeigt! Basilgarrad rutschte ein bisschen weiter vor, er wollte hören, welchen Ort die Frau im Sinn hatte. Und wie er nach zwei weiteren Jahrhunderten aussehen würde. Er schauderte, plötzlich fragte er sich, ob irgendetwas von Avalon nach so langer Zeit noch übrig sein würde, wenn man all die Kriegszerstörungen bedachte.
»Meine Heimat«, krächzte die Frau, »liegt am westlichsten Punkt von Lastrael – in einer neuen Siedlung, die meine Leute bauen. Bis sie fertig ist, wird mehr Zeit vergehen, als ich noch vor mir habe, doch ich will wissen, wie sie aussehen wird.«
Lastrael? Das ist Schattenwurzel. Immer dunkel, immer gefährlich. Warum würde jemand dort siedeln wollen? Basilgarrad zog mitleidig die Nase hoch. Arme Frau, sie wird nichts als Dunkelheit sehen.
In der Kugel wirbelten Schatten. Das Bild wurde immer dunkler, bis es nichts als tintige Schwärze zeigte. Das passte zum Reich der endlosen Nacht.
Plötzlich – strahlte die ganze Kugel Licht aus. Feuer loderten überall in einer Küstenstadt – einer Stadt, die mehr aus Licht bestand als aus festen Materialien. Das Gesicht der Frau wurde von der Kugel beleuchtet, als sie beifällig nickte.
Basilgarrad hielt den Atem an. Eine Stadt des Lichts? Er betrachtete die Alte genauer. Wer ist sie?
Er erkannte sie nicht, stellte aber rauchigen Schwelgeruch fest, als sie näher kam. Dann bemerkte er etwas – zwei Buckel, die nicht wie Schultern wirkten. Könnten sie vielleicht die oberen Ränder von Flügeln sein?
Gerade wollte er sie fragen, wer sie wirklich war und woher sie kam, da tippte jemand an die Unterseite seines Kinns. »Na so was«, sagte eine tiefe Stimme. »Was in Dagdas Namen bringt dich hierher?«
Widerstrebend löste Basilgarrad den Blick von der Alten, die jetzt das Zelt verließ – und richtete ihn auf den Sprecher. »Hallo, Krystallus!«