Wer hat eigentlich behauptet, Unglück habe gern Gesellschaft? Ich habe mein Unglück gern für mich allein, so wie ich einen Fleischbrocken am liebsten mag: ohne Gesellschaft, nur ich und etwas Rohes zum Kauen.
Die grünen Flammen prasselten laut und teilten sich wie ein Vorhang, als sich eine Hand durchschob und nach der feuchten Luft griff. Die Hand streckte sich weiter vor, gefolgt von einem schlanken, muskulösen Unterarm und einer kräftigen Schulter. Dann kam ein Kopf, der sich zu dem eines jungen Mannes verlängerte und mit weißen Haaren gekrönt war.
Krystallus trat aus der Pforte. Er befand sich auf einer kleinen unbewohnten Insel mit Sanddünen und geflochtenen Zöpfen aus Wasserähren. Aufrecht stand er da, die Hände an den Hüften, und schaute hinaus auf den Strand mit den blauen und goldenen Seesternen und Tangfetzen, die darüber verstreut waren – und auf die riesige Weite des tiefblauen Meers dahinter. Er nahm einen tiefen Atemzug und füllte seine Lungen mit würziger Luft, die so viel Salz enthielt, dass sie fast wie ein herzhaftes Mahl schmeckte.
»Brynchilla«, sagte er ausatmend. Wohin er auf seinen Reisen auch kam, immer bevorzugte er die Namen der Einheimischen. Brynchilla, der Ausdruck der Elfen für Reich des Wassers, kam ihm viel poetischer vor als der allgemein gebräuchliche Name Wasserwurzel. Auch wenn er von seiner verachteten Rivalin, der Elfenkönigin Serella, geprägt worden war, passte er so genau wie Wasser in eine Bucht.
Während er den Horizont betrachtete, eine ununterbrochene blaue Meeresfläche, die nahtlos in das hellere Blau des Himmels überging, holte er das Notizbuch aus seiner Tunikatasche, öffnete den gerippten Lederdeckel und machte, was er immer nach seiner Ankunft irgendwo in Avalon machte: Er zeichnete eine Karte. Sekundenschnell füllten die Linien seiner liebsten Fischadlerfeder – die er in eine Phiole mit Tinte vom Tintenfisch tauchte – das Blatt, zeigten die Umrisse der Insel, die Form des Horizonts, ebenso die Stelle der Pforte, Wind, Meereswellen und sichtbare Lebenszeichen.
Während er die Karte zeichnete, nickte er grimmig. Er wusste, wo er war, obwohl er diese besondere Pforte in den fernsten Gewässern von Brynchilla noch nie entdeckt hatte. Und, noch wichtiger, er wusste, wo er nicht war. Diese Insel war so weit von der vulkanischen Feuergrube namens Rahnawyn entfernt, wie man nur kommen konnte. Doch die Erinnerungen an diesen Ort und an die bittere Auseinandersetzung mit seinem Vater gingen ihm immer noch zu nahe.
Sein Herz raste wütend. Wie konnte sein Vater für so weise gehalten werden, wenn er in Wirklichkeit so töricht war? Wie konnte er so wenig an ihn glauben, so wenig Vertrauen in seinen eigenen Sohn setzen? Krystallus ballte beide Hände, als er wieder an die Worte bei ihrer Trennung dachte – wahrscheinlich die letzten Worte, die sie je zueinander sagen würden.
»Ist mir recht«, murmelte er und drückte die Fäuste fester zusammen. »Mir macht es nichts aus, wenn ich ihn nie mehr sehe und schon gar nicht mehr mit ihm rede!« Er hatte sein eigenes Leben, seine eigenen Ziele, von denen nicht das geringste die Schaffung einer Hochschule war, die dem Kartenzeichnen und der Erforschung von Avalon gewidmet sein sollte. Und dieses Leben hatte gar nichts mit seinem Vater zu tun. Er konnte leicht seine ganze Zeit damit verbringen, die fernsten Gebiete der Welt zu erforschen – und das war seit seiner Kindheit seine größte Leidenschaft gewesen.
Eine salzige Brise blies über das Meer und zerzauste ihm das Haar. Sie streichelte sein Gesicht und teilte den Kragen seiner einfachen braunen Tunika, als lade sie ihn ein. Sofort wusste Krystallus, was er in diesem wässrigen Reich am liebsten tun wollte.
Schnell verstaute er sein Notizbuch, öffnete den Gürtel, warf die Tunika ab und schleuderte die Lederstiefel in die Sanddüne hinter sich. Als er ins Wasser watete, fühlte er den jähen Schlag flüssiger Kühle an den Beinen. Seine Haut spannte sich, die Zehen hefteten sich an die glatten, von Algen überzogenen Steine unter ihm.
Er sprang ins Wasser und spürte die kalte Umarmung an Armen und Schultern, dann im Gesicht. Mit einem Platsch tauchte er auf, spritzte Wasser rundum und holte sich die Lungen voll Luft. Dann trieb er auf dem Rücken und schwang sanft Arme und Beine. Lange Strähnen weißen Haars strahlten von seinem Kopf wie schlanke Seetanghalme.
Er spähte in den dunstigen blauen Himmel und versuchte angestrengt, die Sterne zu unterscheiden. Ohne Glück. Sie lagen verborgen hinter ihrer eigenen Tageshelle, unsichtbar bis zum abendlichen Sternenuntergang. Seltsam, dachte er, wie weniger Licht sie klarer machte, während mehr Licht sie wegwusch.
Wellen sammelten sich am Wasser auf seiner Stirn. »Es gibt einen Weg dort hinauf, das weiß ich. Den Stamm und die Äste des großen Baums hinauf – bis zu den Sternen.«
Das Wasser trug ihn, sanft schaukelte es seinen Körper. Aber Krystallus achtete nicht darauf. »Irgendwer wird irgendwann diesen Weg finden«, überlegte er. »Irgendwer, irgendwann.«
Zwei schneeweiße Seeschwalben tauchten aus dem Himmelsblau herunter und landeten platschend nicht weit von seinem Kopf. Tropfen sprühten ihm ins Gesicht. Beim tiefen Einatmen roch er den süßen Tau auf ihren Flügeln, den sie vielleicht von den blühenden Inseln hergetragen hatten, wo farbenfrohe Wasserlilien immer blühten.
Er drehte sich zur Seite und sah flüchtig einen smaragdgrünen Schatten direkt unter der Oberfläche schwimmen. Ein Tümmler? Eine Seeschildkröte? Ein Wasserschmetterling mit azurblauen Flügeln?
Während er genauer hinschaute, wandte er seine Aufmerksamkeit dem Wasser selbst zu. Diese kühle Flüssigkeit, die unter seinen Armen durchfloss und ihn am Steißbein kitzelte, enthielt mehr Farben als nur Blau. Viel mehr. Denn in diesem Meer gab es Flüsse von Regenbogen. Unterschiedliches Grün, Violett, selbst Scharlachrot und Gold durchströmten jede Welle. Vermischte Farbströme flossen überall um ihn herum, sie zitterten und funkelten im Licht.
Die Regenbogenmeere, sagte er sich. Ein treffender Name! Eine Welle schwappte über sein Gesicht, doch er merkte es kaum. Denn er selbst hatte diesen Namen geprägt, auf seiner ersten Reise zu diesem Reich. Genau wie er den Namen Nebelquell gewählt hatte für den großen Sprühwasserturm, der nicht weit von hier aus dem Ozean schoss. Der Nebelquell hob sich wie eine riesige Quelle in die Wolke darüber und sah aus wie umgekehrter Regen.
Krystallus wendete und schwamm zur Küste zurück, er fühlte sich jetzt wesentlich ruhiger, wenn ihm auch ein bisschen kalt war vom Wasser. Als er tropfnass herauskam, trocknete ihm eine Brise Rücken, Arme und Beine. Er schüttelte seine Mähne und schickte damit einen Tropfenregen über den Sand. Schnell warf er die Tunika über und legte den Gürtel an, dann setzte er sich, um die Stiefel anzuziehen.
»Ich schwimme sehr gern«, sagte er zu den Dünen, dem Himmel und dem endlosen Meer. »Fast so gern«, fügte er hinzu und zog einen Stiefel auf den nassen Fuß, »wie ich reise.«
Mit seinen scharfen Augen bemerkte er eine Reihe ungewöhnlich hoher Wellen, die so scharf wie Bergspitzen am Horizont aufragten. Nein – nicht Wellen. Segel! Die Segel von Schiffen.
Elf Schiffe, stellte er fest und wusste Bescheid. Sie mussten von ihrer Bucht im Süden hergesegelt sein. Gruppen von Elfen aus El Uriens Wäldern waren mit ihrer Anführerin gekommen, um eine neue Kolonie zu gründen, Caer Serella. Und eine neue Elfenart, vermute ich, wenn genug Zeit vergangen ist. Nicht mehr Waldelfen – eines Tages werden sie Wasserelfen sein.
Er sah zu, wie die Schiffe mit Windeseile über die Wellen glitten. Mit vollen Riesensegeln lagen die Boote schief, eigentlich flogen sie übers Wasser. Schon konnte er ihre Buge erkennen, gesäumt von großen Pauamuscheln, die blau, lavendelfarben und grün schillerten. Und dort – das Emblem von Serella auf allen Segeln aus Binsen: eine große blaue Welle in einem Kreis von Waldgrün.
»Serella!«, stieß er hervor und hob die Faust zu der Schiffsreihe. »Du magst zuerst in dieses Reich gekommen sein. Aber es gibt noch viel mehr Gegenden auf dieser Welt – mehr, als du dir vorstellen kannst. Und die besten werde ich zuerst erreichen!«
Als ihm klar wurde, dass er schon wieder grollte, schob Krystallus nachdenklich die Lippen vor. Warum ärgerte ihn die Elfenkönigin so? Was war an ihr, das sein Blut zum Kochen brachte? Die hochmütige Überlegenheit auf ihrem eleganten Gesicht vielleicht. Oder die Art, wie sie ihre Entdeckungen heraustrompetete, als gäbe es keine anderen Forscher in Avalon. Oder vielleicht … der schiere Genuss, mit dem sie ihn hochmütig verspottete, wo immer ihre Wege sich zufällig kreuzten.
»Na so was, ist das nicht Krystallus, der Amateurforscher?«, hatte sie bei ihrem letzten Zusammentreffen gesagt, einer unbeabsichtigten Begegnung an einer Pforte im nördlichen Malóch, nicht weit von der gefährlichen Höhle, die Verborgenes Tor genannt wurde. »Bist du nicht weit und breit bekannt als« – in diesem Moment hatte sie innegehalten und ihre nächsten Worte ausgekostet – »als der Sohn irgendeines Berühmten?«
Krystallus sah noch grimmiger aus, als hätte er nie die Heiterkeit des Schwimmens gekannt. Dann schwand das Düstere langsam aus seinem Gesicht. Zorn wich einer Idee, die seine Gedanken füllte wie steigende Flut.
»Serella. Vater. Jeder andere, der mich verhöhnt. Euch werde ich es zeigen! Ich werde« – in seinen dunklen Augen leuchtete die Entschlossenheit – »Gegenden und Wege finden, die keiner kennt, noch nicht einmal Dagda. Jeder Gefahr werde ich begegnen. Jedes Rätsel lösen. Und mich unbestreitbar zum größten Entdecker machen, den diese Welt je gekannt hat.«
Langsam hob er den Blick zum Himmel. »Und eines Tages, eines glorreichen Tages, werde ich einen Weg bis zu den Sternen finden.«
Einen zeitlosen Moment starrte Krystallus zum Himmel und spürte die Tiefe dieses Entschlusses. Und dann machte er etwas, das er sehr lange Zeit nicht mehr getan hatte.
Er lächelte.