Ich mag Geheimnisse, das war schon immer so. Aber nur, wenn ich sie kenne.
Der robust wirkende Mann mit den langen weißen Haaren bis auf die kräftigen Schultern nickte zum Gruß. »Schön, dich zu sehen. Bist du gekommen, um eine unserer magischen Karten zu betrachten?« Bevor der Drache antworten konnte, hob er eine violette Phiole hoch. »Diese neue vielleicht? Sie ist gerade nach achtzehn Tagen magischer Destillation in Flaschen gefüllt worden – ein kleiner Trick, den ich bei meinen Reisen aufgeschnappt habe.«
»Also …«, fing Basilgarrad an. Er zögerte, er wollte sicher sein, dass Krystallus in guter Stimmung war, bevor er das heikle Thema seines Vaters anschnitt. »Was genau ist denn in dieser Phiole?«
»Ah!«, sagte der Forscher jubelnd. »Ich habe gehofft, dass du genau das fragen würdest.« Er schaute über die Schulter den jungen Elf Tressimir an, der zurückgekommen war, um länger bei Basilgarrad zu sein. »Könntest du eine Schale oder eine Schüssel holen, mein guter Freund? Ich brauche etwas, das die Flüssigkeit aufnimmt.«
Tressimir griff in den abgetragenen Rucksack, der von seiner Schulter hing. Er zog eine grobe Holzschüssel heraus und fragte: »Genügt das?«
»Perfekt.« Krystallus trat näher zu dem Drachen, damit er den Leuten nicht im Weg war, die ins Zelt kamen oder hinausgingen. Tressimir ging mit und reichte ihm die Schüssel.
»Ich verstehe nicht«, sagte der Drache, »was diese Phiole mit einer Karte zu tun hat.«
»Schau nur zu.« Mit einer schnellen Bewegung entkorkte Krystallus die Phiole und goss den Inhalt in die Schüssel. Als die violette Flüssigkeit aus dem Behälter gurgelte, befahl er: »Regenbogenmeere.«
Zum Erstaunen von Basilgarrad und Tressimir wurde die Flüssigkeit in der Schüssel kristallklar und füllte sich dann mit Linien – schwarze für die Umrisse von Inseln und Küsten und silberne zur Angabe von Höhen im Land und Tiefen im Wasser.
»Wirklich«, rief der Drache, »es ist eine Karte! Eine flüssige Karte.«
»Von den Regenbogenmeeren«, fügte Tressimir hinzu. »Schau, da ist das Schloss der Königin Serella.«
»Ja«, sagte Krystallus mit einem schwachen Grinsen, »das kenne ich gut.«
»Eindrucksvoll.« Basilgarrads Aufmerksamkeit galt jetzt einer anderen Stelle auf der Karte – einer steilen Küste, von Höhlen durchlöchert, und eine war als Bau des Herrschers der Wasserdrachen bezeichnet. Unwillkürlich stellte er sich vor, wie aus dem Wasser bei der Höhle der Kopf eines Drachen mit himmelblauen Augen auftauchte.
»Ich bin froh, dass sie euch gefällt.« Krystallus strahlte. Er neigte die Schüssel behutsam und schüttete die Flüssigkeit zurück in die Phiole. »Könnte sehr nützlich für Unterwassererkundungen sein.«
»Unterwasser?«
»Ja, natürlich, Basil. Das ist das nächste Neuland.« Er deutete auf das sich drehende Modell des großen Baums mitten im Zelt. »Das heißt, nachdem ich einen Weg gefunden habe, die Äste zu erforschen. Und, natürlich …«
»… die Sterne.« Basilgarrad zwinkerte ihm zu. »Ich bin froh, dass du dieses Ziel nicht aus den Augen verloren hast.«
»Aus den Augen verloren? Ich habe nie aufgehört, darüber nachzudenken!« Krystallus zog den besonderen Sternenkompass aus seiner Tunikatasche und betrachtete ihn sehnsüchtig. Die Kugel schien mit eigener Strahlkraft zu leuchten wie ein ferner Stern.
Nach einigen Sekunden wies der junge Forscher auf eine Sternenkarte, die von einer der Zeltwände hing. »Seht ihr diese Karte der Sternbilder? Jede Nacht, wenn ich hier bin, studiere ich sie. Jede Nacht. Nur für den Fall, dass sie mir ein paar neue Ideen gibt, wie ich dort hinaufkommen könnte.«
Doch Basilgarrad hörte nicht zu. Er konzentrierte sich auf den dunklen Streifen auf der Karte, wo eine lange geschätzte Konstellation verschwunden war. »Krystallus, ich muss …«
»Und dort drüben«, sprudelte Krystallus begeistert hervor, »ist ein besonderer Schatz – die Karte einer anderen Welt.« Er deutete auf eine Kugel, vorwiegend blau, mit seltsam geformten Kontinenten zwischen großen Ozeanen. »Merkwürdig, nicht wahr, eine Welt zu sehen, die völlig rund ist statt wie ein Baum geformt! Das war ein Geschenk meiner Tante Rhia, bevor sie ging, sie hatte es von ihrem Bruder bekommen.«
»Deinem Vater.«
Basilgarrads Worte unterbrachen ihn abrupt. Sein Gesichtsausdruck verhärtete sich, alle Begeisterung schwand. »Ich möchte nicht über ihn sprechen.«
Die großen Augen des Drachen weiteten sich noch mehr. »Krystallus, wir müssen über ihn sprechen.«
Er verschränkte die Arme über der Brust. »Bist du deshalb hergekommen?«
»Ja, deshalb.« Basilgarrad drehte die Ohren hin und her. »Wir brauchen ihn, Krystallus. Wir brauchen ihn wieder hier! Du weißt durch all deine Reisen vielleicht nicht, wie schlimm dieser Krieg geworden ist, schlimmer denn je! Allein kann ich ihn nicht beenden und glaub mir, ich habe es versucht. Ich brauche Merlins Hilfe, um mich durchzusetzen. Deshalb, Krystallus … musst du ihn suchen. Bevor es zu spät ist.«
Der Forscher schüttelte langsam den Kopf, sein weißes Haar wehte. »Das ist dein Problem, Basil. Nicht meins.«
»Nein!«, brüllte der Drache so laut, dass alles Treiben in und um das Zelt plötzlich eingestellt wurde. Die Leute hörten auf zu reden, zu studieren, die Karten zu bewundern, sie drehten die Köpfe, um zu sehen, was geschah. Doch Basilgarrad achtete nicht auf sie, er konzentrierte sich ganz auf Krystallus.
Er glitt vor, um sein Gesicht direkt vor das des Mannes zu bringen, und sagte leise grollend: »Das ist Avalons Problem. Nicht nur meins, nicht nur deins. Avalons. Jeder, der in dieser Welt lebt, vom kleinsten Sprudelfisch bis zum größten Drachen, ist davon betroffen.«
Krystallus sagte nichts.
»Wir brauchen deine Hilfe. Avalon braucht deine Hilfe.«
Der Forscher machte ein grimmiges Gesicht. »Es war sein eigener Wunsch zu gehen.«
»Ja, nachdem du mit ihm gesprochen hast – wie du es für richtig hieltst. Danach wusste er, dass er euch beide verloren hatte, dich und deine Mutter. Wie hätte er bleiben können bei so viel Verlust, so viel Schmerz?«
Obwohl Krystallus bei diesen Worten zusammenzuckte, war sein Gesicht weiter düster. »Nein, Basil. Ich hetze nicht hinter ihm her wie ein junges Hündchen.«
Die grünen Augen wurden schmal. »Dein Stolz ist also wichtiger als Avalons Überleben?«
»Ich habe dir gesagt, ich gehe nicht.«
Basilgarrad legte den großen Kopf schief, sodass die Spitze eines Ohrs gegen die Zeltseite stieß. »Betrachte es nicht als eine Reise auf der Suche nach deinem Vater. Sieh es stattdessen als eine Erkundung. Als deine Chance, zu den Sternen zu reisen! Und zu einer Welt dahinter, der Welt, die Erde genannt wird.«
Zum ersten Mal entspannte sich die Miene des Forschers. So ausgedrückt schien ihn die Vorstellung zu faszinieren. Finster erklärte er: »Nein. Ich bin nicht der Mensch, der ihn findet.«
»Du bist der einzige Mensch«, entgegnete der Drache.
»Das stimmt nicht, Basil.« Krystallus sagte mit größter Bestimmtheit: »Du könntest ihm nachreisen. Du könntest ihn suchen.«
Basilgarrad runzelte die große Stirn. »Wenn ich das mache, zerfällt unsere ganze Welt! Du hast wirklich keine Ahnung, stimmt’s? Ich hetze täglich von einer Krise zur nächsten, die ganze Zeit, endlos!«
Tief in seiner Drachenkehle knurrte er: »Etwas steckt hinter alldem, Krystallus. Etwas ganz und gar Böses. Und es verbirgt sich irgendwo hier in Avalon! Davon bin ich überzeugt. Falls ich gehe, wenn auch nur kurz, gewinnt es die Oberhand. Wenn ich bleibe, könnte ich das verhindern – wenigstens bis Merlin zurückkommt.«
Der Forscher verzog den Mund, er war immer noch nicht überzeugt. »Wenn du gehst, würde er vielleicht wenigstens auf dich hören. Aber wenn ich es bin« – er räusperte sich – »hört er nicht zu.«
Der Drache sah entmutigt aus, er öffnete die gezackten Flügel, dann zog er sie wieder an seinen Rücken. »Ich muss jetzt gehen, Krystallus. Erst gestern habe ich gehört, dass die Feuerdrachen sich zusammenrotten, um Waldwurzel anzugreifen.«
»El Urien!«, rief Tressimir, seine waldgrünen Augen blitzten. »Sie könnten das ganze Reich in Brand setzen!«
»Das haben sie vor, da bin ich mir sicher. Aber ich will sie davon abhalten. Und ich werde Hilfe haben. Viele von Waldwurzels tapfersten Bewohnern sammeln sich im Quellgebiet des unaufhörlichen Flusses.«
Der junge Elf richtete sich auf. »Dann sollte ich auch dort sein.«
»Wirklich, Tressimir?«, fragte Krystallus. »Was ist mit der Geschichte der Hochschule, an der du schreibst?«
»Die wird warten müssen.« Der Elf sah ihm gerade in die Augen. »Bei der großen Göttin Lorilanda, das ist meine Heimat, über die wir reden! Ein Land, in dem ich jeden Baum beim Namen kenne. Ich muss tun, was ich kann, um es zu beschützen.«
Über ihm nickte der Drache. »Das müssen wir alle.«
Grimmig schaute Krystallus von einem zum anderen. Er legte die Hände auf Tressimirs Schultern und sagte: »Nun gut. Aber achte auf deine Sicherheit. Du hast schon mehr Wissen in deinem jungen Kopf als ich in allen meinen Karten.«
Dann senkte er die Hände und trat näher an den Elf. »Hier. Nimm das mit. Es ist etwas Wertvolles – so wertvoll, dass ich es immer bei mir habe. Aber jetzt« – er griff in eine Tasche am Hals seiner Tunika und holte ein kleines zusammengefaltetes Stück Pergament heraus – »gebe ich es dir.«
Krystallus schob das Pergament in Tressimirs Ranzen. Dann beugte er sich vor und flüsterte dem Elf etwas ins Ohr. Tressimir zog überrascht die Augenbrauen hoch.
Als Krystallus schwieg, fragte er: »Bist du dir sicher?«
»Ja, mein Freund, ich bin mir sicher. Denk nur daran, was ich dir gesagt habe.« Er warf dem Drachen, der sie fragend anschaute, einen raschen Blick zu. »Wenn die Zeit dafür gekommen ist.«
»Für mich ist die Zeit gekommen zu gehen«, erklärte Basilgarrad. »Krystallus, bleibst du bei deiner Entscheidung?«
»Ich bleibe dabei.«
»Dann überlasse ich dich deinen Erkundungen – solange diese Welt noch besteht.«
Krystallus sah empört aus, sagte aber nichts.
»Und du, Tressimir, möchtest du nach Waldwurzel gebracht werden?«
»Natürlich!« Als der Drache sein Ohr zum Boden senkte, kletterte der Elf hinauf.
Basilgarrad und Krystallus schauten einander mehrere Sekunden lang an. Dann zog sich der Drache ohne ein weiteres Wort vom großen Flickenteppichzelt zurück, öffnete die großen Flügel und sprang in die Luft. Er kreiste einmal, gewann mit jedem Flügelschlag an Höhe und verschwand in den Wolken.
Die scharfen Augen des Forschers verfolgten ihn und betrachteten den Himmel auch noch, als er nicht mehr zu sehen war. So leise, dass nur er selbst es hörte, wiederholte Krystallus die Abschiedsworte des Drachen: »Solange diese Welt noch besteht.«
Schließlich drehte er sich um und ging ins Zelt.