Anleitungen zur Bühnenlaufbahn

 

Junger Mann, Sie stehen im Begriff, die ersten Schritte  auf jene Bretter zu unternehmen, von denen allgemein behauptet wird, daß sie die Welt bedeuten. Was Sie da vorhaben, ist ein Wahnsinnsakt und sichert Ihnen unsere tiefe Anteilnahme. Wir werden Ihre Laufbahn aufmerksam verfolgen und hoffen, Sie in großen Rollen zu sehen, die Ihrem Talent einigermaßen entsprechen. Da Art und Auswahl dieser Rollen für Ihre Karriere entscheidend sind, möchten wir Ihnen aus dem reichen Born unserer an den Ufern des Mittelmeeres gesammelten Erfahrung einige wertvolle Ratschläge zuteil werden lassen.

Vor allem müssen Sie versuchen, in Durchfällen aufzutreten, die Ihre kostbare Zeit nicht weiter in Anspruch nehmen - was bei Erfolgsstücken sehr leicht geschehen kann. Ganz zu schweigen davon, daß es eine ebenso langweilige wie unwürdige Beschäftigung ist, Abend für Abend im selben Kostüm und auf derselben Bühne denselben Text herunterzuleiern. Dafür sollten Sie sich zu gut sein, junger Mann. Sie sind ja kein Papagei. Legen Sie's darauf an, in erfolglosen Stücken erfolgreiche Rollen zu spielen. Dann werden Sie persönlich von der Presse gelobt, und das Stück wird abgesetzt. Für diesen Zweck sind nebulose moderne Stücke besonders empfehlenswert, die einen frischen Wind auf die Bühne bringen, während im Foyer nach jedem Akt eine neue Serie von Freikarten verteilt werden muß. So sichern Sie sich künstlerische Anerkennung und freie Abende. Eine ideale Lösung.

Für einen jungen Schauspieler ist es andererseits ratsam, in klassischen Bühnenwerken aufzutreten, deren größtenteils in Versen geschriebene Dialoge durch die meisterhaften Übersetzungskünste zeitgenössischer Bühnenautoren restlos unverständlich werden. Nun gibt es aber in beinahe jedem Drama der klassischen Weltliteratur zwei oder drei kleine Rollen mit Prosatext. Tun Sie alles dazu, eine solche Rolle zu ergattern.

Sie werden zu den wenigen Darstellern des Abends gehören, die sich dem Publikum verständlich machen können, die Kritiker werden Ihre Sprechkultur und Ihre klare Diktion preisen, und Sie sind ein gemachter Mann.

Wenn keine Klassiker, dann wenigstens Brecht. Die bläßliche, temperamentlose Interpretation, die Sie Ihrer Rolle angedeihen lassen, wird von den Experten als vorbildliche »Verfremdung« erkannt und gelobt werden. Auch das ist ein zuverlässiger Weg zum Erfolg.

Hingegen sollten Sie sich unbedingt von den Stücken noch lebender Autoren fernhalten, insbesondere von Uraufführungen. Bei solchen Originaldarbietungen laufen Sie Gefahr, für die privaten Versionen der Kritiker gegen den Autor büßen zu müssen. Die beiden sollen sich untereinander ausmachen. Sie selbst haben da nichts verloren.

Soviel zur Problematik der Stücke. Jetzt zu den Rollen. Stanislawski soll einmal gesagt haben: »Es gibt keine kleine Rollen, es gibt nur kleine Schauspieler.« Kann sein. Aber Stanislawski ist tot, und Sie leben. Deshalb sollten Sie sich möglichst große Rollen aussuchen, Rollen mit viel Text, mit noch mehr Text, Rollen, in denen Sie fast unausgesetzt auf der Bühne stehen und reden, während die anderen dazu verurteilt sind, Ihnen hingerissen zu lauschen.

Sie müssen auch lernen, zwischen den Zeilen zu lesen, junger Mann. Bevor Sie sich mit einem Textbuch vertraut machen -das heißt: mit den Szenen, in denen Sie vorkommen -, untersuchen Sie Ihre Rolle auf Umfang und Monolog-Gehalt. Monologe sind erstrebenswert, aber der Gesamtumfang bleibt entscheidend. An einem fortschrittlich ausgerichteten Theater, und es gibt fast nur noch solche, gilt die marxistische Theorie vom Umschlag der Quantität in Qualität. Wenn Sie zwischen einer großen kitschigen und einer kleinen, künstlerisch wertvollen Rolle zu wählen haben, wählen Sie die große kitschige. Sollte eines Tages Sir Laurence Olivier in einer Dramatisierung der »Brüder Karamasow« einen Gerichtsdiener spielen, dann können Sie sich die Sache nochmals überlegen. Bis dahin laute Ihr Motto: »Kleine Rollen gibt es nur für kleine Schauspieler.«

Selbstverständlich müssen Sie die Art des von Ihnen darzustellenden Charakters sorgfältig prüfen und dürfen sich nicht von Äußerlichkeiten hinters Licht führen lassen. Übernehmen Sie niemals - hören Sie, junger Mann: niemals - die Rolle eines jungen, gutaussehenden, ehrlichen, sympathischen und womöglich reichen Mannes, der obendrein - fast schäme ich mich es auszusprechen -auch noch verliebt ist. Eine solche Rolle kommt einem Todesurteil gleich. Im wirklichen Leben ist man entweder jung oder reich oder gut aussehend oder ein Schauspieler, aber man kann unmöglich alles auf einmal sein. Versucht man's trotzdem, dann kommt ein hohler, hölzerner Popanz heraus, der dem Publikum maßlos auf die Nerven geht. Verkörpern Sie alte Menschen, junger Mann, oder häßliche oder primitive. Schönheit ist dilettantisch, Häßlichkeit ist künstlerisch. Alle internationalen Schauspielerpreise gehen seit Jahren an Darsteller von Trunkenbolden, Wahnsinnigen oder sexuell Abseitigen. Das wirkt.

Da wir körperliche Gebrechen erwähnt haben: Sie sollten sich einen kleinen Sprachfehler zulegen, ein leichtes Stottern, ein verquältes Atemholen. Nichts klingt auf der Bühne so unnatürlich wie eine natürliche Ausdrucksweise. Man ist auch besser in Lumpen gekleidet als in einen Anzug nach Maß. Man tut besser, schwach und herabgekommen auszusehen, als vor Gesundheit zu strotzen. Als Blinder haben Sie das Publikum sofort für sich, als Hinkender, Zitternder oder gar Taubstummer spielen Sie das gesamte Ensemble an die Wand. Ein rauschgiftsüchtiger Mörder, der in finsterer Nacht aus dem Gefängnis flieht, um die verwaiste Tochter seines Opfers zu adoptieren, wird sich den Zuschauern für alle Zeiten einprägen. Eine etwa nachfolgende Vergewaltigung der adoptierten Tochter macht ihn zum aussichtsreichen Anwärter auf den Schauspielerpreis der Stadt Tel Aviv, und wenn er sich nach vollzogener Vergewaltigung freiwillig den Behörden stellt, hat er gute Chancen, nach Hollywood engagiert zu werden. Im

Falle eines Freispruchs - weil sich herausstellt, daß die adoptierte Waise seit Jahren als Prostituierte tätig ist - sind seiner Karriere überhaupt keine Grenzen mehr gesetzt.

Nehmen Sie sich das zu Herzen, junger Mann. Das Leben gehört den Debilen und Defekten. Sie sind es, denen die allgemeine Zuneigung gilt. Die Starken und Gesunden sorgen für sich selbst. Spielen Sie Diener und keine Herren, einfache Soldaten und keine Offiziere, spielen Sie den hustenden Hausierer und nicht den fetten Millionär, der ihm die Türe weist.

Auch das Bühnenbild ist wichtig. Eine Freitreppe im Hintergrund einer Schloßhalle kann Wunder wirken. Aber Sie müssen sich's so einrichten, daß Sie die Treppe heruntersteigen, nicht hinauf. Eine Stiege zu erklimmen, bietet keinen majestätischen Anblick und läßt selbst die imposanteste Gestalt eher kümmerlich erscheinen. Aufs Herabsteigen kommt es an. Laufen Sie hinter der Bühne nochmals zur Treppenmündung hinauf, und steigen Sie nochmals herab! Wenn keine Stufen da sind, tut's unter Umständen auch ein Bücherregal oder die breite Rückenlehne eines Fauteuils. Hauptsache, daß Sie Ihre Mitspieler überragen.

Wie immer das Bühnenbild beschaffen sei - sterben Sie auf der Bühne, womöglich eines unnatürlichen Todes. Ein qualvoller Todeskampf an der Rampe sei Ihr Ziel. Er ist das überhaupt Höchste, was das Theater bietet. Niemand wußte das besser als Shakespeare, der seine Helden eben darum in Mörder und Ermordete eingeteilt hat. Man stelle sich nur das Gähnen des Publikums vor, wenn König Richard seine Feinde zu drei Jahren Gefängnis mit Bewährungsfrist und zum Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt hätte, oder zu einer Geldstrafe von 150 Shekel, zahlbar in monatlichen Raten...

Was schließlich den Text betrifft, junger Mann, so gibt es auch hier ein paar eiserne Grundregeln. Zum Beispiel sollten Sie auf der Bühne keine Fragen stellen, sondern Fragen beantworten. Achten Sie ferner auf die eingeklammerten Regiebemerkungen, die der Autor einer Figur mitgibt. Je reichlicher sie vorhanden sind, desto bedeutender die Rolle. Aber für ihre wirkliche Bedeutung bleibt immer wieder der Umfang des Textes maßgebend. Lassen Sie mich das an einem leicht faßlichen Beispiel demonstrieren.

In der Weltgeschichte und folglich auch in der dramatischen Weltliteratur wimmelt es von hingerichteten Königinnen. Heinrich VIII. von England hat auf diesem Gebiet ebenso Bemerkenswertes geleistet wie späterhin die Franzosen, und seine Amtskollegin Elisabeth hat mit der Gestalt Maria Stuarts einen besonders ergiebigen Beitrag zum Thema geliefert. Im Durchschnitt spielt sich die letzte Szene vor der Hinrichtung einer Königin ungefähr folgendermaßen ab:

KÖNIGIN: Nun denn, die Stunde schlägt. Mein Erdendasein Neigt sich dem Ende zu. Bald wird es Nacht. Der Himmel sei mir gnädig. Ich will beten. (Sie sinkt mit gefalteten Händen auf die Knie und bewegt stumm die Lippen. Die anderen umstehen sie erschüttert.)

HOFMARSCHALL: Habt Ihr noch eine Botschaft, gnäd'ge Frau?

KÖNIGIN (beendet ihr Gebet, erhebt sich langsam): Wie schön, daß Ihr noch »gnäd'ge Frau« mich nennt! Mag auch im Angesicht des bleichen Todes Der ird'sche Titel sich als Tand erweisen, Es tut doch wohl, ihn einmal noch zu hören. Habt Dank, Herr Hofmarschall.

HOFMARSCHALL: Und keine Botschaft?

KÖNIGIN: Nein. Oder doch. Sagt meinem Ehgemahl - Denn ach, er gilt mir immer noch als solcher, Obschon er mich jetzt grausam von sich stößt - Sagt meinem Herrn und König...

(Die Stimme bricht ihr. Man hört leises Schluchzen der Umstehenden. Unterdessen hat sich die Königin wieder gefaßt und spricht weiter.) Sagt ihm denn:

Ich weiß mich schuldlos, weiß mich frei von Fehle Und trete reinen Herzens vor den Schöpfer. (Sie blickt zum Himmel auf) Dort oben will ich dann Fürbitte tun Um seiner Seele willen. Sagt ihm das. Und sagt ihm, daß ich ihm verziehen habe. HOFMARSCHALL: Sehr wohl, Madame.

KÖNIGIN (zieht ihren Ring vom Finger, betrachtet ihn lange, reicht ihn dem Hofmarschall): Und gebt ihm diesen Ring, Den er dereinst, in wahrlich bessern Tagen, Mir liebreich an den Finger hat gestreift Als Unterpfand und Zeichen seiner Huld. Den gebt ihm, und das sagt ihm.

HOFMARSCHALL: Ja, Madame.

KÖNIGIN: Es ist getan. Nun komme, was da soll. Ich geh von euch, doch geh ich ohne Groll. (Sie übergibt sich den beiden Henkersknechten und geht hocherhobenen Hauptes ab)

Verstehen Sie, was ich meine, junger Mann? Spielen Sie immer die Königin. Den Hofmarschall soll Stanislawski spielen.

Die gleichzeitige Anwesenheit von anderen Ensemblemitgliedern läßt sich - außer bei Monologen - schwerlich umgehen. Je weniger, desto besser. Wenn man Ihnen ein Zweipersonenstück anbietet - greifen Sie zu, ohne es zu lesen.

Vermeiden Sie nach Möglichkeit, zusammen mit Kindern auf der Bühne zu stehen. Kinder sind fast so gefährlich wie Blinde. Und neuerdings müssen Sie sich auch vor der Gesellschaft mangelhaft bekleideter Frauenspersonen hüten; sie lenken ab.

Im übrigen müssen Sie sich darüber klar sein, junger Mann, daß Ihre Karriere nicht nur auf der Bühne entschieden wird, sondern auf vielen Nebenkriegsschauplätzen, von Redaktionen und Massenmedien, in Filmbüros und Kaffeehäusern. Auf der Bühne, vergessen Sie das nicht, werden Sie bestenfalls von ein paar hundert müden, mißmutigen, in unbequeme Sitze gepferchten Zuschauern gesehen, die an den Babysitter denken oder an ihre geschäftlichen Sorgen. Aber Ihr Bild in der Illustrierten oder Ihre Erscheinung im Fernsehen prägt sich Millionen Augenpaaren ein, von deren Besitzern es abhängt, ob Sie Erfolg haben werden oder nicht. Tun Sie das Ihrige dazu! Freunden Sie sich mit weiblichen Journalisten an, ungeachtet der Breite ihrer Hüften, und machen Sie männliche Starjournalisten mit jungen Schauspielerinnen bekannt. Lassen Sie jedoch die Klatschkolumnisten nicht in Ihrem Privatleben herumwühlen. Liefern Sie ihnen freiwillig ausgesuchte Leckerbissen über sich selbst. Seien Sie zur Stelle, wenn irgendwo eine Kamera surrt. Seien Sie wendig, männlich und sonnengebräunt. Fragt Sie ein Interviewer, ob Hamlet Ihrer Meinung nach ein Verhältnis mit Ophelia hat, dann antworten Sie: »Wenn ich ihn spiele - ja.«

Den Kritikern gegenüber verhalten Sie sich respektvoll, aber nicht servil. Hält einer von ihnen einen Vortrag über das irische Theater, dann sitzen Sie in der ersten Reihe und machen Notizen. Gelegentlich befragen Sie den einen oder anderen um seine Meinung zu einem möglichst entlegenen Thema; er wird sich wundern, wie weit Ihre Interessen reichen, und wird Sie dementsprechend einstufen.

Heiraten Sie keine Schauspielerin. Heiraten Sie überhaupt nicht. Die Einsamkeit ist das Los des wahren Künstlers.

Und sollte es einmal geschehen, daß Sie in dieser Einsamkeit von tiefer Depression befallen werden, weil das Publikum Sie ausgepfiffen oder die Kritik Sie verrissen hat, weil die Rolle, die Ihnen zugesagt war, von einem anderen gespielt wird (und noch dazu mit Erfolg), oder sollten Sie aus sonstwelchen Gründen der Verzweiflung nahe sein - dann, junger Mann, bedenken Sie, daß Sie trotz allem den schönsten, aufregendsten, faszinierendsten Beruf haben, den es gibt, daß Sie mit einer einmaligen, einzigartigen Institution verbunden sind, mit dem herrlichsten Irrenhaus der Welt: dem Theater.

Das war's, wovon dieses Buch gehandelt hat.