Der Erfolgsmesser

 

An einem trüben, regnerischen Abend saßen Jossele und ich auf unserem Beobachtungsposten im Cafe, als der Dichter Tola'at Shani sich den Weg an unseren Tisch bahnte und seine Nägel zu beißen begann.

»Ich bin fürchterlich nervös«, sagte er. »Das erweiterte Dramaturgenkomitee des Nationaltheaters berät gerade über das Schicksal meines Stücks.«

Wir wandten ihm unsere aufrichtige Anteilnahme zu. Die Situation war ja auch wirklich spannungsgeladen. Wurde sein Stück abgelehnt, dann hatte er's hinter sich. Wurde es aber angenommen, dann ließ sich die Möglichkeit, daß es infolge eines technischen Versehens auch zur Aufführung käme, nicht gänzlich ausschließen. Wir versuchten den hartgeprüften Autor zu beruhigen, aber er hörte uns kaum zu, brach von Zeit zu Zeit in ein hysterisches Kichern aus und drohte zu emigrieren.

Plötzlich geschah etwas Merkwürdiges. Ein großer hagerer Mensch kam vorbei, grüßte Jossele mit einem freundlichen Winken seiner Hand, hielt direkt vor Tola'at Shani inne, legte den Kopf schräg und schien in die Luft zu schnuppern, wobei seine Nasenflügel sich blähten und sein Gesicht den Ausdruck konzentriertester Nachdenklichkeit annahm. Das Ganze dauerte höchstens eine Sekunde. Dann entspannte sich der Mann, stach mit spitzem Finger nach Tola'at Shani und ließ ein eiskaltes »Hallo« hören.

Gleich darauf verschluckte ihn der dichte Rauchvorhang, der über dem Kaffeehaus lag.

»Schade, Tola'at Shani«, sagte Jossele mit belegter Stimme. »Das Dramaturgenkomitee hat Ihr Stück abgelehnt. Ich fürchte: einstimmig!«

Der Angesprochene begann zu zittern und hielt sich mit beiden Händen am Tischrand fest:

»Aber wieso... woher wissen Sie das?«

»Vom Erfolgsmesser.« Jossele nickte in die Richtung, in die sich der Hagere entfernt hatte. »Menasche weiß es ganz genau.«

Wie aus Josseles Erklärungen hervorging, besaß Menasche eine schlechthin geniale Fähigkeit, die Erfolgsaussichten seiner Mitmenschen richtig einzuschätzen. »Menasche gibt sich immer nur mit erfolgreichen Autoren ab. Man könnte auch sagen: Ein Autor, mit dem sich Menasche abgibt, hat Erfolg. Und sowie der Erfolg ihn verläßt, verläßt ihn auch Menasche. Menasche ist die perfekte Ein-Mann-Marktforschung. Aus der Art, wie er jemanden grüßt, kann man bis auf drei Dezimalstellen berechnen, wieviel der Betreffende im Augenblick wert ist.«

Jetzt fielen auch mir ein paar Bestätigungen dafür ein. Natürlich! Vor ein paar Jahren hatte Menasche niemals versäumt, mir wohlwollend auf die Schulter zu klopfen, wenn er mich sah. Einmal geschah das kurz nachdem man mich eingeladen hatte, mein neues Stück am Broadway zu inszenieren - nein, es war einen Tag bevor die Einladung eintraf! Damals hatte Me-nasche sich sogar zu mir gesetzt und sich nach meiner Gesundheit erkundigt.

»Sein Nervensystem«, erläuterte Jossele, »arbeitet wie ein Seismograph und registriert die kleinsten sozialen Beben. Nichts entgeht ihm, kein noch so geringes Anzeichen eines Erfolgs oder Mißerfolgs. Und danach richtet er sich. Ein lautes, herzliches >Schalom!< ist das sicherste Zeichen, daß der also Begrüßte auf der Erfolgsleiter ganz oben steht oder demnächst ganz oben stehen wird. Bei Leuten mit unsicherem Erfolgsstatus beschränkt er sich auf ein mehr oder weniger gleichgültiges Winken. Und wenn ein Manager in Konkurs geht oder ein Schauspieler schlechte Kritiken bekommt, wird Menasches >Hallo< so leise, daß man die Lautverstärker eines Flughafens einschalten müßte, um es zu hören. Das Unglaubliche aber ist, daß der Erfolgsmesser sich nicht unbedingt auf den gerade gegebenen Zustand einstellt. Manchmal umarmt er einen Dramatiker, der in der letzten Nummer des >Theatermagazins< grauenhaft mißhandelt wurde. Dann hat sein Radargehirn einen Kassenschlager vorausgespürt, von dem noch niemand etwas ahnt. Oder einen Literaturpreis. Menasche ist imstande, den Erfolgs-Koeffizienten eines Menschen auf Monate hinaus zu berechnen. Verstehst du das?«

»Nein«, gestand ich.

»Ich werde es dir an dem Beispiel erklären, dessen Zeugen wir soeben waren. Menasche wirft den ersten Blick auf Tola'at Shani, und seine Meßapparatur setzt sich sofort in Bewegung. >Ein Dichter mit schwankendem Status<, signalisiert die Empfangsantenne. >Gut für Standardbegrüßung Nr. 8, mittelherzlich: Wie geht's, mein Freund? Leichte Verlangsamung des Schrittes, denn der Kritiker Birnbaum hat vor kurzem seine Gedichte lobend erwähnt.< So weit ist alles klar. Aber beim Näherkommen erinnert sich Menasche, daß Kunstetter der Große schon seit zwei Wochen mit Tola'at Shani nicht mehr am selben Tisch sitzt. Das >mein Freund< fällt weg. Andererseits hat Tola'at Shani ein neues Stück im Nationaltheater liegen; das ist ein freundliches Lächeln wert, unter Umständen sogar ein lässiges Winken beim >Wie geht's?< Als Menasches Berechnungen bis hierher gediehen sind, leuchtet auf seinem Radarschirm plötzlich die bevorstehende Ablehnung des Stücks durch das Dramaturgenkomitee auf. Folglich wird in der letzten Sekunde das freundliche Lächeln abgestellt, das >Wie geht's?< durch >Hallo< ersetzt und das Winken mit der Hand durch ein Stechen mit dem Zeigefinger. Dieses Stechen war es, aus dem ich auf die einstimmige und endgültige Ablehnung des Stücks geschlossen habe. Andernfalls hätte Menasche mindestens zwei Finger eingesetzt und nicht gestochen.«

In diesem Augenblick betrat der Sekretär des Theaters das Cafe und kam auf Tola'at Shani zu:

»Leider«, sagte er. »Ihr Stück wurde abgelehnt. Alle waren dagegen.«

Gegen Mitternacht trugen wir das, was von Tola'at Shani noch übrig war, zu einem Taxi. Plötzlich bog Menasche um die Ecke. Er blieb vor Jossele stehen, kniff ihn in die Backe und fragte mit breitem, freundlichem Grinsen:

»Wo steckst du denn die ganze Zeit, mein Alter?«

Ich zählte mit: Das Grinsen dauerte 1 - 2 - 3 - 4 volle Sekunden. Jossele begann zu zittern, riß einem gerade vorbeikommenden Zeitungsverkäufer die Morgenausgabe aus der Hand, sah unter »Gestrige Lotterieziehung« nach und stieß einen lauten Schrei aus: Er hatte 4000 Shekel gewonnen.

»Eines verstehe ich nicht ganz«, brummte er, nachdem er sich vergewissert hatte, daß er tatsächlich das Gewinnlos besaß. »Warum hat mich Menasche nicht geküßt? Bei mehr als 3000 Shekel küßt er sonst immer...« Dann schlug er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Richtig! Ich habe ja noch 1600 Shekel Schulden...«

Wir machten uns auf den Heimweg. Sicherheitshalber wandte ich mich zu Menasche um und schmetterte ihm ein fröhliches »Gute Nacht« zu.

Menasche sah durch mich hindurch, als wäre ich Luft. Was ist geschehen? Um Himmels willen, was ist geschehen?

Morgen habe ich Premiere...