Die Kritiker

 

Kunstetters Kritik am nächsten Morgen war der pure Mord, angesichts des großen Ensembles geradezu ein Massenmord. Der weitblickende Theaterleiter hatte alle irgend erdenklichen Faktoren in seine Berechnung einbezogen - bis auf den Titel des Stücks: »Der Milchmann erhängte sich um sechs«. Und folglich überschrieb I. L. Kunstetter seine Kritik: »Er hätte sich zwei Stunden früher erhängen sollen.«

Diese kaltblütige Niedertracht könnte nur einen völligen Naivling überraschen. Kenner der Sachlage wissen, daß der normale Theaterkritiker seine Kritik nicht etwa deshalb schreibt, damit über das Stück, den Autor, die Schauspieler oder den Regisseur gesprochen wird. Über ihn selbst soll gesprochen werden, über ihn ganz allein. Und das erreicht er am besten dadurch, daß er die gesamte Produktion mit einem einzigen messerscharfen Satz umbringt. Am nächsten Tag ist dann die ätzende Kritik I. L. Kunstetters in weiten Kreisen der Bevölkerung das beherrschende Gesprächsthema.

Hier zeigt sich übrigens ein zutiefst humanitärer Aspekt des Verrisses: statt sich durch eine lobende Kritik bei einer Handvoll Leute, die berufsmäßig mit dem Theater verbunden sind, beliebt zu machen, zieht es der Kritiker vor, durch ein witziges Massaker das ganze Land in einen Freudentaumel zu versetzen.

Aus dem vorliegenden Fall ergibt sich für jeden Theaterleiter die wichtige Lehre, niemals, wirklich niemals, ein Stück herauszubringen, dessen Titel dem Kritiker Gelegenheit zur Entfaltung seines Witzes bietet. Kein Kritiker auf Erden kann dieser Versuchung widerstehen. Ich führe einige Beispiele an.

Titel des Stücks: »Wie es euch gefällt«. Titel der Kritik: »So nicht«.

Titel des Stücks: »Der Rabbi blieb zu Hause«. Titel der Kritik: »Das hätte auch ich tun sollen«.

Titel des Stücks: »Sie flohen in der Dämmerung«. Titel der Kritik: »Ich floh in der Pause«.

(Ich möchte gleich an dieser Stelle anmerken, daß es ein überaus banaler, dürftiger und humorloser Einfall wäre, eine Besprechung des vorliegenden Buches »Kein Applaus für Kishon« zu betiteln.)

Als ebenso ergiebig erweist sich der geringste sachliche Irrtum, der dem Autor unterläuft und den der Kritiker, nachdem er zu Hause die Encyclopedia Britannica konsultiert hat, genießerisch annagelt. Kommt etwa in einem historischen Drama, das den Zusammenstoß des spanischen Conquistadors Cortez mit dem Aztekenkönig Montezuma behandelt, die Münzbezeichnung »Peseta« vor, dann wird die Kritik am nächsten Morgen zu drei Vierteln aus dem überlegen geführten Nachweis bestehen, daß zur Zeit der Eroberung Mexikos die gesetzliche Scheidemünze nicht »Peseta« hieß, sondern bekanntlich »Quetzal« oder, wie es die Einheimischen bekanntlich aussprechen, »Quitzil«. (Siehe auch: »Die Entwicklung Lateinamerikas«, Bd. 9, S. 345.)

Auch ein verstecktes, von ihm jedoch prompt aufgespürtes Plagiat dient dem Kritiker zur Demonstration seiner außergewöhnlichen Bildung. Wenn I. L. Kunstetter während der Vorstellung plötzlich aufhört, das Programmheft auf seinen Knien in einer nur ihm geläufigen Kurzschrift mit unflätigen Schimpfworten zu bedecken und glasig vor sich hinzustarren beginnt, darf man sicher sein, daß er oben auf der Bühne einen Plagiatsanklang entdeckt hat und daß man am nächsten Tag ungefähr folgendes zu lesen bekommen wird:

»Die Struktur dieses jämmerlichen Machwerks ähnelt auf schamlos deutliche Art einer byzantinischen Komödie des Orlando Servatius Lampedusa (527-565). Auch dort war die Bühne zweigeteilt, und die kostümierten Darsteller vollzogen abwechselnd ihre Auftritte und Abgänge, meistens durch seitliche Kulissen. Man muß über die Unverfrorenheit unserer Autoren staunen...« Und natürlich auch über das profunde Wissen unserer Kritiker, die eine Encyclopedia Britannica besitzen.

Bisweilen kann es geschehen, daß Kritiker wie I. L. Kun-stetter ein ganzes Theater ruinieren, indem sie Woche für Woche, dem großen römischen Volkstribunen Cato nacheifernd, unbeirrbar den einen Satz wiederholen:

»Dieses vorgebliche Avantgarde-Theater, das sich >Der Eiserne Besen< nennt, ist vom ideologischen Standpunkt ein Alpdruck, vom erzieherischen Standpunkt ein Verbrechen, vom künstlerischen Standpunkt eine Schande; man sollte es möglichst rasch schließen.«

Zehn Jahre nach der Zerstörung Karthagos - das heißt: nach der Schließung des »Eisernen Besens« - wird unter dem Titel »Die Zahnbürste« ein neues Theater eröffnet, und Kunstetters Anhänger sind am Morgen nach der Eröffnungspremiere nicht wenig verblüfft über das Lamento, das er da anstimmt:

«... und während wir vergebens über die Frage nachgrübelten, warum ein so klägliches Unternehmen wie die >Zahn-bürste< überhaupt gegründet wurde, schweiften unsere Gedanken zu den seligen Zeiten des >Eisernen Besens< zurück. Welch ein Jammer, daß es diese hervorragende Pflegestätte wahrhaftiger Kunst, untadeliger Ideologie und erzieherischer Wirkungskraft nicht mehr gibt. Weshalb, um alles in der Welt, wurde der >Eiserne Besen< geschlossen?«

Und so geht es weiter, in regelmäßig wiederkehrenden Zyklen. Zehn Jahre, nachdem er ihren Ruin verschuldet hat, wird Kunstetter sich nach der »Zahnbürste« zurücksehnen, und selbst wenn er 120 Jahre leben sollte, was zu befürchten ist, wird er für seine Nostalgien immer neue Nahrung finden.

Aus alledem darf nun nicht etwa der Schluß gezogen werden, daß es keine vernünftigen, integren und verantwortungsbewußten Kritiker gebe. Es gibt sie, ich weiß es genau, und ich kenne sie sofort aus der Menge heraus. Es sind die Kritiker, die meine Stücke loben. Mit ihnen habe ich keinen Streit. Meine Verachtung gilt jenen, die den schöpferischen Künstler dahingehend zu beeinflussen versuchen, daß er so schreiben, so spielen oder so inszenieren soll, wie sie, die Kritiker, es täten, wenn sie schreiben, spielen täten, wenn sie schreiben, spielen oder inszenieren könnten.

Mit der jetzt unfehlbar fälligen Phrase: Man müsse ja schließlich nicht selbst ein Ei legen können, um die Qualität einer Omelette zu beurteilen - mit diesem Blödsinn bleibe man mir gefälligst vom Leib. Wie kommen die wahrhaft Theaterbegeisterten dazu, ihre Omeletten von Leuten beurteilen zu lassen, die an Magengeschwüren leiden?

Auch hier erhebt sich die ewig unlösbare Frage, was zuerst da war: das Ei oder das Magengeschwür.