Wie avant ist die Garde?

 

Seit ungefähr zehn Jahren beobachten wir eine zunehmende Modernisierung der dramatischen Kunst. Die Theaterkritiker der Welt haben sich vereinigt und haben beschlossen, auf den Trümmern des alten Theaters ein neueres und besseres zu errichten. Bisher hat die Operation zumindest teilweise Erfolg: Das alte Theater geht in Trümmer. Und alle maßgeblichen Kreise finden es einleuchtend, daß eine derart rückständige Institution, die sich seit Aristoteles und Aristophanes nicht verändert hat, in dieser überalterten Form unmöglich weiterbestehen kann.

Die Losung des neuen Theaters heißt: Nieder mit der Konvention! Weg mit den herkömmlichen Erfahrungen! Schluß mit dem lächerlichen Zwang, daß auf der Bühne etwas zu geschehen hat, während die Schauspieler sinnvolle Sätze sprechen! Wenn ein zeitgemäßes Theaterstück über die Fassungskraft schwachsinniger Papageien hinausgehen will, muß es seine Zeitgemäßheit gleich in der einleitenden Regieanweisung bekunden:

»Eine felsige Gebirgslandschaft mit spärlicher Vegetation fällt rechts auf der Bühne in einem Winkel von 38° ab. Hellgrüne Farbschattierung ist unter allen Umständen zu vermeiden. Im geometrischen Fluchtpunkt des Abfallwinkels, ungefähr in der Mitte der Bühne, erhebt sich eine 10 cm hohe Plattform von unbestimmter Farbe. Darüber ein dunkelbraunes Oval im Umfang eines nicht vollständig aufgepumpten Basketballs. Links vor der Plattform ein umgestülpter Nachttopf ohne Griff, blau und orange punktiert, dahinter eine Lokomotive. Eine mit Messingnägeln beschlagene Panzerplatte baumelt von ihrem Trichter herab, ohne jedoch den Boden zu berühren. Es ist früh am Nachmittag. Wenn der Vorhang aufgeht, ertönt ein schriller, aber keineswegs dissonanter Pfiff aus dem Fensterrahmen rechts vorne.«

Schon bei der ersten Lesung des Stücks vor dem Spiel plan Ausschuß erhob sich an dieser Stelle begeisterter Applaus. Der junge Dramaturg Eduard Bettelheim-Bildhübsch erlitt eine ejaculatio praecox und verließ für einige Minuten die Sitzung. Er versäumte nichts weiter, denn das war schon das ganze Stück. Aus dem Fensterrahmen vorne rechts ertönt ein schriller, aber keineswegs dissonanter Pfiff, der genau zwölf Minuten anhält, gefolgt vom langsamen Fallen des Vorhangs und vom weiteren Applaus. Keine Hervorrufe.

Der Kritiker I. L. Kunstetter, der dafür bekannt ist, daß er -abgesehen vom Theater im allgemeinen - nichts so sehr haßt wie das moderne Theater, verfiel nach der Premiere in überschwenglichen Jubel: »Eines der tiefsten, subtilsten Bühnenwerke, die uns in den letzten Jahren erreicht haben. Niemand sollte es versäumen!«

Die 132 Zuschauer, die das Stück während seiner einmonatigen Laufzeit sahen, wußten mit dem zwölf Minuten langen Pfiff vorerst nichts anzufangen, aber nachdem er sich herumgesprochen hatte, gewöhnte man sich an ihn und diskutierte seine Bedeutung nach Schluß noch stundenlang in den umliegenden Kaffeehäusern, wobei auch der Titel des Dramas in Rechnung gezogen wurde: »Der Lokführer hat keinen Buckel.«

Auf einer Pressekonferenz nach der Entgegennahme des Strindberg-Preises für neue Dramatik erklärte der Autor: »Bitte stellen Sie mir keine Fragen. Ich habe alles, was zu sagen ist, in meinem Stück gesagt. Deuten Sie es, wie Sie wollen. Ich selbst habe keine bestimmte Deutung. Im Grunde weiß ich gar nicht, was ich geschrieben habe...«

Schon aus diesen wenigen Worten geht klär hervor, daß es mit der antiquierten Theater-Schablone, die aus Handlung und Dialogen besteht, endgültig vorbei ist. Da und dort werden noch Versuche unternommen, an dem einen oder anderen der beiden Hilfsmittel festzuhalten, dann und wann kann es noch geschehen, daß ein Dramatiker sich im Kaffeehaus an seine Freunde wendet und sagt:

»Gestern nacht bin ich mit meinem neuen Stück fertig geworden. Dreieinhalb Akte. Es ist alles da. Nur ein Thema fehlt mir noch.«

Getrost, das Thema wird sich finden. Spätestens in den Kritiken am Morgen nach der Premiere. Wahrscheinlich wird sich dann zeigen, daß der Autor mit schlafwandlerischer Sicherheit den Generationskonflikt einer unaufhaltsam vor sich gehenden sozialen Umschichtung auf das psychedelische Bewußtsein unserer Zeit und ihrer Kommunikationsschwierigkeiten abgestimmt hat. Wer weiß?

»Kommunikationsschwierigkeiten« sind immer gut. Sie sind ja auch wirklich vorhanden, besonders zwischen dem Publikum und den Theaterstücken über Kommunikationsschwierigkeiten. Aber gerade solche Stücke dürfen mit Sicherheit auf Literaturpreise und vor allem auf enthusiastische Besprechungen rechnen. Gegen die Mafia der Avantgarde gibt es keinen Widerstand.

Es wird von Fällen berichtet, in denen man den jungen Autor eines avantgardistischen Theaterstücks vor dem Selbstmord bewahren mußte, weil ihm zu spät eingefallen war, daß sich in seinen Dialog ein klar verständlicher Satz eingeschlichen hatte. Denn das neue Drama hat - ähnlich dem alten - seine eigenen eisernen Regeln aufgestellt:

1. Keine logischen Sätze. Keine überschaubare Handlung. Zeichne ein Abbild des Lebens, wie es wirklich ist: unlogisch und unüberschaubar. Geh barfuß zur Premiere.

2. Laß minutenlang hinter geschlossenem Vorhang spielen (»Le theatre de silence«). Laß die Scheinwerfer direkt auf das Publikum richten (Blendeffekt) und jeden zehnten Zuschauer von den Platzanweisern verprügeln (»Le theatre brutal«). Laß die Zuschauer auf der Bühne sitzen und das Stück im Zuschauerraum spielen. Mach was.

3. Sei obszön. Sei noch obszöner. In einem halbwegs zeitgemäßen Stück müssen die folgenden Ausdrücke mindestens je zehnmal vorkommen: pissen, scheißen, Arsch, Schwanz, ficken, vögeln. Die Kritiker verlangen das als Zeichen deines künstlerischen Wagemuts. 4. Brich dein Stück unerwartet ab, in der Mitte eines Satzes, womöglich in der Mitte eines Wortes. Bring noch rasch einen Seitenhieb gegen die Kritiker an. Sie werden dann erst recht ihre Objektivität beweisen wollen.

Nachstehend offerieren wir den Liebhabern des modernen Theaters einen Musterdialog auf Grund erprobter Vorlagen. Er kann in jedes Avantgarde-Produkt an jeder beliebigen Stelle eingefügt werden, ohne zu stören oder auch nur aufzufallen. Mehr davon auf Wunsch. Herstellungsdauer: 15 Minuten mit der linken Hand.

GOGO: Stille ist mir zuwider. Sie geht mir auf die Nerven. Sie erinnert mich an den Tod.

CHERIE: Unfall?

GOGO: Nein. Gift.

CHERIE: Hast du einen Bart, Cheri?

GOGO: Weiß nicht. Hab mich seit zwei Jahren nicht mehr angerührt. Ich kann es nicht finden.

CHERIE: Was?

GOGO: Gog: Den Ton. Oj...!

CHERIE: Zahnschmerzen?

GOGO: Wurzel. CHERIE: Wo?

GOGO: Galerie.

CHERIE: Tut's weh?

GOGO: Immer.

CHERIE: Doktor?

GOGO: Alles, nur kein Zahnarzt, Veronika! Dieses Leiden gehört mir organisch, mir ganz allein. Ich leide, wenn ich nicht leiden kann. Gib mir Zeit. Die Zeit heilt alles.

CHERIE: Aber sie ist ein schlechter Kosmetiker.

GOGO: Deine Brüste sind viel zu klein. Zieh dich aus.

CHERIE: Der Reißverschluß klemmt, Schorsch.

GOGO: Du lügst!

CHERIE: Der Reißverschluß klemmt, Schorsch.

GOGO: Zieh dich aus.

CHERIE: Der Reißverschluß klemmt, Schorsch.

GOGO: Ich heiße nicht Schorsch.

CHERIE: Dann warst du mir also niemals treu.

GOGO: Sogar sehr oft. Komm, gib mir deinen schönen stinkenden Körper, du Stück Pferdemist. Klemmt dein Reißverschluß wirklich?

CHERIE: Ich habe keinen Reißverschluß, Cheri.

GOGO: Warum nicht?

CHERIE: Das weiß ich nicht.

GOGO: Ich will einen Reißverschluß in dich hineinreißen. Marsch ins Bett! Bett. Couch! Sofa! Kanapee! Reißverschluß! Weib! Frau! Sterben! Mit einer Frau im Bett sterben! Ich wurde von einer Frau im Bett geboren. (Kratzt seine linke Fußsohle durch den Strumpf hindurch) Endlich allein, Rosalie.

CHERIE: Mein Name ist Friedmann.

GOGO: In meiner dunklen Jauchegrube habe ich von dir geträumt, Friedmann. Um deinetwillen bin ich während der langen Nachtwache entflohen. Sie haben mich gefangen. Ich entfloh abermals. Wieder fingen sie mich. Wieder entfloh ich. Wieder fingen sie mich. Wieder entfloh ich. (Schreiend) Sie fingen mich nicht.

CHERIE: Warum nicht, Cheri?

GOGO: Kommunikationsschwierigkeiten. Keine zwischenmenschlichen Beziehungen. Wo ist dein Mann?

CHERIE: Auf Reisen!

GOGO: Revolver?

CHERIE: Zwei.

GOGO: Merkwürdig.

CHERIE: Was ist merkwürdig?

GOGO: Daß er zwei Revolver hat. Nicht nur merkwürdig, sondern kindisch, wenn du gestattest. Genügt denn nicht ein Revolver mit sechs Schuß, um einen unbewaffneten Menschen zu töten? Gut, ich will nicht streiten. Nehmen wir an, daß er beim erstenmal danebenschießt, weil er aufgeregt ist. Ich sage: Nehmen wir an. Aber selbst dann hat er noch fünf Kugeln übrig. Und jetzt setzen wir um des lieben Friedens willen den Fall, daß er zwei weitere Kugeln zu früh abschießt, wegen einer Ladehemmung. Bleiben immer noch drei. Das macht mit den zwei vorzeitig abgeschossenen sieben, und mit der einen danebengegangenen, der ersten, acht. Davon ziehen wir die sechs Kugeln ab, mit denen wir angefangen haben. Bleiben zwei Kugeln. Je eine für jeden von uns. Eine in deinen Arsch, eine in meinen Arsch. Wie lange haben wir noch zu leben?

CHERIE: Eine Stunde, Cheri.

GOGO: Sagtest du: eine Stunde?

CHERIE: Nein, ich sagte: eine Stunde.

GOGO: Sonderbar. Ich hörte deutlich: eine Stunde.

CHERIE: Diesmal sagte ich: eine Stunde.

GOGO: Wie lange dauert eine Stunde, Cheri?

CHERIE: Das hängt von der Uhr ab.

GOGO: Trotzdem.

CHERIE: Zehn Minuten.

GOGO: Hure! Wenn du jemals...

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