Glückwunschologie

 

Schon wieder so ein neumodischer Unsinn.

Was soll's?

Es handelt sich um folgendes:

Während die Vorstellung andauert, kann der Premierenbesucher machen, was er will. Er kann mit ausgestreckten Beinen in seinem Sitz lümmeln, kann vor sich hindösen, kann sogar ein kleines Nickerchen einlegen oder Pläne für den morgigen Tag entwerfen. Aber wenn die Vorstellung zu Ende ist und die Darsteller sich verbeugen, muß er applaudieren wie alle anderen Freikartenbesitzer, die sich heimlich beobachtet wissen; und dann, es hilft nichts, muß er nach hinten gehen und gratulieren.

Wenn es ein halbwegs gutes Stück und eine halbwegs passable Aufführung war, ergeben sich keine besonderen Probleme. Ich weiß aus langjähriger Erfahrung, wie einfach es ist, sich von der nach hinten flutenden Menge mitschwemmen zu lassen, auf den Autor zuzutreten und ihm ungehemmt die Wahrheit ins Gesicht zu sagen:

»Ein Markstein in der Geschichte des zeitgenössischen Dramas! Bravo!«

Daraufhin entringen sich den blutleeren Lippen des Autors die zittrigen Worte:

»Erzähl mir nichts, die Sache ist komplett danebengegangen.«

Und daraufhin läßt man den Autor stehen, reißt die nächstbeste Garderobentür auf, entschuldigt sich (»Pardon, ich dachte, es wäre eine Herrengarderobe!«) und umarmt auf dem Korridor den Schauspieler Jarden Podmanitzki:

»Eine unvergeßliche Leistung! Ich danke Ihnen!«

Auch dieser Glückwunsch kommt nicht so recht an:

»Lassen Sie mich in Ruhe«, erwidert Jarden Podmanitzki, »ich habe hohes Fieber und bin im letzten Akt beinahe ohnmächtig geworden.«

Natürlich widerspreche ich:

»Fieber? Ohnmacht? Davon hat man im Zuschauerraum nichts gemerkt. Sie waren hinreißend, Herr Podmanitzki!«

Und so geht es weiter, so schwebt man von einer Blüte des Ensembles zur nächsten, tränkt sie mit Superlativen und mischt sich dann beim Bühnenausgang unter die übrigen Gratulanten, um sich dem allgemeinen Urteil anzuschließen:

»Eine Katastrophe... «

Das gilt, wie gesagt, für ein mäßiges Stück in einer durchschnittlichen Aufführung.

Erst wenn's wirklich schlecht war, indiskutabel schlecht, beginnen die wahren Probleme. Natürlich muß man auch da nach hinten gehen, sonst kommen die Schauspieler und der Regisseur vielleicht auf den absurden Gedanken, daß es einem nicht gefallen hat. Also geht man nach hinten und hofft verzweifelt auf einen Einfall. Bei Gastspielen ausländischer Ensembles kann man sich ja noch helfen. Man ergreift die Hand irgendeines der fremdsprachigen Akteure, schüttelt sie kräftig und sagt in fließendem Hebräisch:

»So einen monumentalen Abstinker hat es in diesem Land seit Jahrzehnten nicht mehr gegeben. Ich mußte mich kolossal anstrengen, um wach zu bleiben!«

Der Gast aus dem Ausland versteht nur die Worte »monumental« und »kolossal«, murmelt dankbar »Merci, merci«, und die Sache ist erledigt.

Aber was macht man nach einer einheimischen Premiere, an der lauter gute Freunde mitgewirkt haben? Hier einige Anleitungen.

Hypnose

Als erstes empfehlen wir dem geneigten Leser den sogenannten »Blick Nr.9«. Wenn der Vorhang zum letztenmal gefallen ist, lassen Sie die anderen hinter die Bühne eilen und folgen der Kavalkade erst nach zehn Minuten. Um diese Zeit sind die Schauspieler von der Menge der empfangenen Glückwünsche und geschüttelten Hände schon ein wenig groggy und wissen nicht mehr ganz genau, was ringsherum vorgeht. Das machen Sie sich zunutze, indem Sie festen Schritts auf einen nach dem anderen zutreten, mit ausgestreckter Hand und einem kleinen Aufleuchten im Gesicht, ganz so, als wären Sie nur seinetwegen nach hinten gekommen. Dabei halten Sie den Blick unverwandt auf ihn gerichtet, denn auf diesen Blick kommt es an.

Während Sie mit hartem, männlichem Druck die Hände des Schauspielers schütteln, bohrt sich Ihr Blick in den seinen. Sie öffnen die Lippen, bringen aber keinen Ton hervor und beginnen vor Verlegenheit zu schlucken, weil Sie nicht die richtigen Worte finden, weil Sie nicht ausdrücken können, was Sie ausdrücken möchten. Sie sind überwältigt. Und damit überwältigen Sie auch den Schauspieler. Er spürt aus Ihrer Hilflosigkeit sofort den Glückwunsch heraus und flüstert:

»Danke, danke. Zu gütig.«

Blitzkrieg

Der soeben geschilderte Vorgang erfordert perfektes Timing und ein gewisses schauspielerisches Talent. Pantomimisch minder Begabten raten wir zu der sogenannten »AnsatzMethode«. Sie gleicht im wesentlichen dem »Blick Nr. 9«, nur mit dem Unterschied, daß Sie nicht als letzter, sondern als erster auftauchen müssen, dem Autor oder Schauspieler die Hände hinhalten und mit vibrierender Stimme zu einer unverkennbaren Lobeshymne ansetzen, etwa:

»Also ich muß wirklich sagen...«

Aber was Sie wirklich sagen müssen, sagen Sie nicht. Schon drängt von hinten die Horde der übrigen Gratulanten heran, und es bleibt Ihnen gerade noch Zeit, Ihr Gegenüber stumm zu umarmen. Vielleicht gelingt es Ihnen noch, den Autor - wir nehmen an, daß er es ist -herzhaft auf die Schulter zu schlagen und ihm schelmisch zuzuraunen: »Na was, du kleiner Lump! Wirst du denn niemals lernen, wie man ein Stück schreibt?!«

Leicht möglich, daß Ihnen der Autor daraufhin schluchzend um den Hals fällt, und daß er Sie späterhin in seiner Selbstbiographie erwähnen wird, als einen der wenigen, die ihn wirklich verstanden haben. Sie können ihm, ehe Sie vor den Andrängenden zurückweichen, sogar einen Tritt in den Hintern verpassen.

Die reine Wahrheit

Die folgende Methode empfiehlt sich besonders für Premierenbesucher mit schwachen Nerven, für Schwächlinge oder Gehemmte, die unter der Zwangsneurose leiden, etwas Konkretes äußern zu müssen, gleichzeitig aber das unentrinnbare Gefühl haben, daß bei der geringsten Lüge die Mauern des Hauses auf sie herniederstürzen würden. In solchen Fällen wendet man sich am besten an den Regisseur und macht mit respektvoll gedrosselter Stimme von einer folgenden Wendung Gebrauch:

»Ein schweres Stück Arbeit!«

»Das muß ein Erfolg werden, das muß ein Erfolg werden!« (Immer zweimal.)

»Die Leute waren begeistert.«

Unter gar keinen Umständen darf man Ausdrücke wie »hübsch« oder »reizend« verwenden, die viel zu unverbindlich sind und in Theaterkreisen längst als Gemeinplatz, ja fast als Beleidigung gelten. Ein bekannter Bühnenbildner soll vor kurzem auf einen Gratulanten, der das Bühnenbild »hübsch« genannt hatte, mit Faustschlägen losgegangen sein.

Kompliment in Fragestellung

An dieser Variante werden vor allem Sadisten Gefallen finden. Sie besteht darin, daß man den Arm um die zitternden Schultern des Intendanten legt und ihn vertraulich beiseite zieht:

»Warum sind alle gegen Sie?« beginnt man. »Erst vor ein paar Minuten hatte ich Ihretwegen eine schwere Auseinandersetzung mit einigen Besuchern. Halten Sie den Mund, habe ich ihnen gesagt. Was heißt hier Durchfall? Was heißt hier künstlerischer Abstieg? Es war eine sehr kultivierte Vorstellung! Daran halte ich fest, auch wenn das ganze Publikum anderer Ansicht ist. Jawohl, das habe ich gesagt...«

Diese Art der Anerkennung läßt den Empfänger völlig ratlos zurück und wird ihn etwas später möglicherweise in den Selbstmord treiben, aber das ist dann nicht mehr Ihre Sache.

Annähernd ähnliche Wirkung kann auch dadurch erzielt werden, daß man den von Gratulanten Umringten aus dem Kreis der Händeschüttler herauszerrt, sich nahe zu ihm beugt und fragt:

»Was halten Sie eigentlich von der Dollarkrise?« Es gibt noch eine letzte, kindisch einfache Methode: die Wahrheit zu sagen. Sie eignet sich indessen nur für blutige Anfänger. Und dieses Buch ist nicht für Anfänger geschrieben.