Das drahtlose Theater

 

Man könnte es ebenso gut »Die unsichtbare Bühne« nennen, weil man es nicht sieht, sondern nur hört, meistens auf einsamen Autofahrten. Ich spreche vom Hörspiel, das ungefähr um die Mitte dieses Jahrhunderts von der teuflischen Erfindung des Fernsehens kaltblütig umgebracht wurde. Es ist ein Jammer, daß es das Hörspiel nicht mehr gibt, daß dieser unendliche Tummelplatz der Phantasie, der noch die schlechteste Vorlage zu einem eindrucksvollen akustischen Erlebnis aufmöbeln konnte, der Vergangenheit angehört.

»Jetzt brauche ich einen Wirbelsturm und das Geräusch von sechzig untergehenden japanischen Kriegsschiffen«, sagte der Hörspielregisseur zum Tonmeister. Und Weinreb antwortete: »Einen Wirbelsturm hab ich nicht. Nur einen leicht angekratzten Schirokko.«

Das alles ist, wenn man so sagen darf, im Winde verweht. Zwar kämpft der Rundfunk immer noch um seinen Platz unter den Massenmedien, zwar sendet er immer noch Hörspiele wie in vergangenen Tagen, aber das unerläßliche Merkmal aller wirklich hochklassigen Kunst hat er eingebüßt: das Budget. Techniker und Schauspieler sind der Lockung des Geldes in Richtung Fernsehen gefolgt. Das Hörspiel stellt keine künstlerischen Probleme mehr, nur noch organisatorische. Wenn man die nötige Anzahl mittelmäßiger, schlecht bezahlter Schauspieler zusammenbekommt, wenn die Mikrophone funktionieren und das Tonband nicht reißt, dann sind die Voraussetzungen für einen drahtlosen Triumph gegeben.

Mir selbst ist er nur ein einziges Mal geglückt.

Wie fast alle bedeutenden Ereignisse, begann auch dieses mit einem ohrenbetäubenden Klingelsignal kurz nach Mitternacht.

Ich kroch zum Telephon, hob den Hörer ab und sagte: »Falsch verbunden.« Aber es war der Direktor der GedenktagAbteilung unseres Rundfunks, der dringend mit mir zu sprechen wünschte. Er hatte vergessen, daß am Wochenende die 39. Wiederkehr des Todestages von Mendele Mocher Sfarim fällig war, und deshalb sollte ich jetzt in größter Eile ein Hörspiel über Leben und Werk dieses hervorragenden jiddischen Erzählers zusammenstellen, sehr lustig, sehr unterhaltend und auf sehr hohem literarischem Niveau.

»Sie müssen das Manuskript bis morgen fertig haben«, sagte der Abteilungsdirektor. »Wir lassen es dann sofort von unserer Sekretärin abschreiben, haben am Donnerstag Probe und am Freitag um 17 Uhr Aufnahme. Um 17.45 Uhr senden wir. Nehmen Sie die besten Schauspieler, die Sie finden können. Die nahezu unbegrenzten finanziellen Mittel des Rundfunks stehen Ihnen zur Verfügung.«

Ich machte mich unverzüglich an die Arbeit und durchstöberte in meiner Bibliothek sämtliche Werke von Mendele Mocher Sfarim, ohne auch nur ein einziges mit Geräuscheffekten zu finden. Erst im Morgengrauen fiel mir die Lösung ein. Vor zwei Jahren hatte ich einen köstlichen Sketch für das Unterhaltungsprogramm geschrieben, der damals mit irgendeiner idiotischen Begründung - »nicht lustig genug« oder so - abgelehnt worden war. Dieser Sketch schien mir genau das richtige für die Gedenktag-Sendung zu sein. Er handelte von einem jungen Mechaniker, der in die Wohnung einer Mittelstandsfamilie gerufen wird, um die Schreibmaschine zu reparieren, dort aber nur den taubstummen Großvater und die Hausgehilfin antrifft, in die er sich zum Schluß verliebt. Ich will nicht behaupten, daß diese Geschichte zu den Meisterwerken der zeitgenössischen Literatur zählt, aber mit dem Verfassernamen Mendele Mocher Sfarim würde sie zweifellos durchkommen.

Der Direktor der Gedenktag-Abteilung bestätigte meine Zuversicht und fügte hinzu, daß wir von unseren Klassikern noch eine Menge lernen könnten. Er verlangte nur eine ganz kleine Änderung. Dem jüngeren Teil des Publikums zuliebe sollte ich mit einem positiven Ausklang schließen und den Mechaniker sagen lassen:

»Hoffentlich wird uns das nächste Jahr den Frieden bringen, nach dem wir uns alle sehnen!« Ich akzeptierte seinen Vorschlag und führte die gewünschte Änderung an Ort und Stelle durch. Dann suchten wir zusammen die Sekretärin auf. Sie wog das Manuskript in der Hand und erklärte:

»Frühestens in zwei Wochen. Ich habe noch sechzehn Sendungen für die Reihe >Lebendige Anatomie< zu tippen.«

Der Direktor zog daraus die einzig mögliche Konsequenz und nahm das Manuskript mit nach Hause, wo er es selbst tippen wollte. Ich meinerseits begab mich ins Schallplattenarchiv, um eine passende Hintergrundmusik auszusuchen. Ein nervöser junger Mensch, offenbar fremd in dieser Abteilung, empfing mich. Die eigentlichen Schallplatten-Experten, zwei an der Zahl, waren für die erkrankten Nachrichtensprecher eingesprungen. Der Fremdling erkundigte sich nervös nach meinen Wünschen. Kaum hatte ich »Mendele« gesagt, als er mich jubelnd unterbrach:

»Hab ich, hab ich! Die Ouvertüre zu >Hochzeit im Schnee< von Amadeo Pizzicati. Pam-pam-papam-pam...«

Ich teilte ihm mit, daß ich außerdem noch das Geräusch einer Schreibmaschine sowie etwas Vogelgezwitscher brauchte, und erhielt die feste Zusage, daß er mir auch das verschaffen würde.

Die folgenden drei Tage verbrachte ich mit dem Warten auf das Manuskript (der Direktor konnte nur mit einem Finger tippen).

Am Mittwoch eilte ich mit dem fertigen Manuskript ins Cafe Noga und engagierte die drei Schauspieler, die für die drei Rollen am besten geeignet und außerdem als einzige im Cafe Noga anwesend waren, nämlich Jarden Podmanitzki (Mechaniker), Mitzi Ben-Ziegler (Stubenmädchen) und einen unter dem Namen »Trask« bekannten Chargenschauspieler (taubstummer Großvater). Alle drei freuten sich sehr über das Engagement und ließen keinen Zweifel daran, daß sie es nicht der erbärmlichen Gage wegen annahmen, sondern um mir einen persönlichen Gefallen zu tun, sonst könnte ich vielleicht einmal schlecht über sie schreiben.

Wir legten den Probenplan fest. Jarden Podmanitzki war am Donnerstag bereits ab 6 Uhr früh beschäftigt, Mitzi Ben-Ziegler war immer nur am Morgen frei. Einzig Trask konnte beliebig disponieren, verlangte jedoch 20 Shekel Vorschuß. Wir einigten uns schließlich auf Donnerstag 5.25 Uhr im Studio 5, wo wir die erste der insgesamt vier Proben abhalten wollten.

Am nächsten Morgen um 4.30 Uhr besuchte ich auf dem Weg ins Studio den Gedenktag-Direktor. Er stellte gerade die Sportsendung zusammen, weil der Sportredakteur den politischen Kommentator ersetzen mußte, der für den Kapellmeister des Blasorchesters eingesprungen war. Der Direktor zeigte sich von meinem Bericht über den bisherigen Ablauf der Dinge vollauf befriedigt, bis auf die 20 Shekel Vorschuß, die er wörtlich als »hellen Wahnsinn« bezeichnete. Möglicherweise würde ich nur 8,50 Shekel ersetzt bekommen und den Rest aus meiner eigenen Tasche draufzahlen müssen. Das möge ich mir eine Lehre sein lassen, sagte er.

Ich ließ sie es mir sein und ging ins Studio 5, wo die Probe stattfinden sollte, aber es war niemand dort, und es kam niemand. Um 11 rief ich im Theater an. Der Portier hob den Hörer ab, brummte: »Sie ist nicht hier!« und legte auf. Zu Mittag ging ich in die Kantine, um eine Kleinigkeit zu essen, und fand dort meine drei Schauspieler versammelt.

Warum sie nicht gekommen wären, fragte ich.

Weil ich ihnen kein Taxi geschickt hätte, antworteten sie.

Das traf zu. Ich hatte vergessen, daß zu den Gewohnheitsrechten der vom Rundfunk engagierten Schauspieler die Abholung durch ein Taxi gehörte. Auf meine inständigen Bitten erklärten sich die drei schließlich bereit, heute abend nach der Vorstellung im Studio 6 mit mir zu proben. Da jeder von ihnen in einem anderen Theater auftrat, mußte ich drei Taxis organisieren, was mir mit einiger Mühe gelang.

Pünktlich um Mitternacht führen die drei Taxis im Studio vor, aber nur eines war besetzt, und zwar von Trask. Die Fahrer der beiden anderen gaben an, daß sie vergebens auf ihre Passagiere gewartet hätten und daß über deren Aufenthalt nichts in Erfahrung zu bringen war. In meiner Not- die Sendung sollte ja schon am nächsten Tag stattfinden - gab ich Trask die Hauptrolle und probte mit ihm den Mechaniker. Er küßte mir dankbar die Hand, fiel mir mehrmals um den Hals und konnte vor Erregung kaum sprechen, was sich auf die Probenarbeit äußerst nachteilig auswirkte.

Am nächsten Tag verstreute ich in allen drei Theatern und im Cafe Noga bunte Zettel mit gleichlautendem Text, der den drei Schauspielern dringlich nahelegte, sich um 5 Uhr im Studio 4 zur Aufnahme einzufinden. Da mir das nicht sicher genug schien, nahm ich eine Stunde vorher ein Taxi, um sie persönlich einzusammeln.

Podmanitzki war nicht zu Hause. Seine Nachbarn glaubten zu wissen, daß er seinen kleinen Neffen in den Zoo geführt hatte.

Nach einigem Suchen entdeckte ich ihn vor dem Affenkäfig und stellte ihn zur Rede.

»Ich wäre ganz bestimmt gekommen«, versicherte er mir. »Ich wollte dem Kleinen vorher nur den neugeborenen Schimpansen zeigen.«

In Podmanitzkis Begleitung machte ich mich auf die Suche nach Mitzi Ben-Ziegler, mit der sich's erheblich schwieriger verhielt. Sie hatte sich in der vorangegangenen Nacht, auf der Rückfahrt von einem Gastspiel in Beerscheba, eine schwere Erkältung zugezogen, lag mit 39 Grad Fieber im Bett und war so heiser, daß sie unmöglich die Hausgehilfin spielen konnte. Ich schrieb ihre Rolle auf »Butler« um, was gewisse Akzentverschiebungen in der Liebesgeschichte nach sich zog, aber darüber konnte ich mir jetzt nicht mehr den Kopf zerbrechen.

Trask war nicht zu Hause, und von seiner Frau erfuhren wir lediglich, daß er vor zwei Stunden mit einem Koffer die Wohnung verlassen hatte. Was tun? Auf der Fahrt ins Studio beschloß ich, die Rolle des Stubenmädchens zu übernehmen, Mitzi Ben-Ziegler würde den taubstummen Großvater spielen und Podmanitzki den Mechaniker.

Im Rundfunkhaus angelangt, hatten wir noch insgesamt 43 Minuten Zeit bis zur Sendung. Ich brüllte nach dem Techniker. Er war - da er nicht mehr glaubte, daß wir noch kommen würden - ins Studio 2 gegangen, um Michael Strogoff zu spielen, den Kurier des Zaren. Unter Mißachtung aller roten Lichter und »Ruhe! «-Signale drang ich ins Studio 2 ein, riß den Techniker an mich und zerrte ihn zum Studio 3, das für unsere Aufnahme vorgesehen war. Leider hatte er den Schlüssel nicht bei sich. Um die Zeit nicht nutzlos zu vergeuden, wollte ich im Studio 4 die Schallplatten mit der Hintergrundmusik abhören. Eine schwere Enttäuschung harrte meiner. Der Rakoczi-Marsch, den man mir statt der Ouvertüre von Pizzicati geschickt hatte, war in völlig unspielbarem Zustand, das versprochene Vogelgezwitscher fehlte überhaupt, und das Tonband, auf dem die Schreibmaschine klappern sollte, enthielt die Salven eines Maschinengewehrs. Ich rannte zur Schallplatten-Abteilung, aber sie war bereits geschlossen. Bis zur Sendung fehlten noch 37 Minuten.

Gerade als ich aus dem Gleichgewicht zu geraten drohte, wurde ich von einem alten Jemeniten, der den Korridor säuberte, gerettet. Er erklärte sich bereit, durch Pfeifen und rhythmisches Schlagen auf seinen Mülleimer die nötige Hintergrundmusik zu erzeugen. Jetzt war alles soweit in Ordnung. Ich änderte die Schreibmaschine des Manuskripts in ein Maschinengewehr und bekam endlich Verbindung mit dem Direktor, der mir mitteilte, daß auch er keine Ahnung hätte, wo sich der Schlüssel zum Studio 3 befände, er wüßte nur, daß das Studio 3 niemals versperrt würde.

Von den jetzt noch verbliebenen 29 Minuten wollten wir möglichst produktiven Gebrauch machen, aber Podmanitzki verlangte nach einem Tee, den ich selbst zubereiten mußte, denn in der Kantine gab es kein Personal mehr; es war auf einer Hochzeit.

Knapp 16 Minuten vor der Sendung leuchtete das rote »Ruhe! «-Signal auf, und wir begannen im Studio 7 mit der Aufnahme (Studio 3 war versperrt). Podmanitzki brachte seinen Text recht gut, zumal, wenn man bedenkt, daß er ihn zum erstenmal sah; allerdings störte es ein wenig, daß er auch die Regiebemerkungen mitlas, zum Beispiel »In höchster Erregung« oder »Musik schwillt an« oder »Schreibmaschinengeräusch im Hintergrund«.

Ich selbst kam mit der Rolle des Stubenmädchens glatt zurecht, nur auf Seite 4 meines Textes blieb ich hängen, denn sie fehlte; der Direktor hatte versehentlich die Seite 3 zweimal abgeschrieben. Da die Zeit drängte, wollte ich wegen einer solchen Kleinigkeit die Aufnahme nicht verzögern und schob Mitzi Ben-Ziegler geistesgegenwärtig einen Zettel zu, mit der Bitte, sie möchte irgend etwas von unserem großen Nationaldichter Chaim Nachman Bialik rezitieren. Mitzi wußte glücklicherweise das »Lied an die Rose« auswendig, und damit waren wir aus dem Wasser.

Gegen Ende der Sendung bekamen wir plötzlich das grüne Lichtsignal für »Störung«: Der Techniker hatte nicht unseren Sketch aufgenommen, sondern ein Streitgespräch der beiden Aufwartefrauen im Studio 2, das er irrtümlich für den Sketch gehalten hatte...

Mittlerweile war es Zeit für den Sendebeginn. Der Sprecher entschuldigte sich mit technischen Schwierigkeiten, und statt des geplanten Hörspiels wurde der »Totentanz« von Saint-Saens gesendet. Wir unsererseits beschlossen, da wir nun schon beisammen waren, den Sketch in aller Ruhe zu wiederholen und ihn für einen anderen Jahrestag aufzubewahren. Nachdem wir den alten Jemeniten mit seinem Mülleimer zurückgerufen hatten, begannen wir von vorne. Diesmal ging es noch besser, bis Podmanitzki plötzlich von einem Hustenanfall geschüttelt wurde. Ich wollte unterbrechen, aber Podmanitzki winkte ab. Auch das war mir recht. Wir würden in der Ansage ganz einfach erklären, daß der Mechaniker an Tuberkulose litte.

Beim Fortgehen übergab mir der Portier eine telephonische Nachricht von Trask: Er hatte eine Einladung zu einem Bunten Abend in Nazareth angenommen (25 Shekel) und würde sich freuen, nächstens wieder mit mir zu arbeiten.

Zu Hause warf ich mich aufs Bett, riß mir die Kleider und die kalten Kompressen vom Leib, mit denen die beste Ehefrau von allen mich umwickelt hatte, und begann zu brüllen wie ein tobsüchtiger Stier. Ich beruhigte mich erst, als der Direktor der Gedenktag-Abteilung eintraf, um mir zum vorzüglichen Gelingen der Sendung zu gratulieren. Es stellte sich heraus, daß man unsere zweite Aufnahme live gesendet und den »Totentanz« vom Tonband auf Tonband überspielt hatte. So etwas kann vorkommen.

Die Kritiken waren durchaus zufriedenstellend. Im »Wöchentlichen Radiohörer« hieß es unter anderem: »Mit großem Vergnügen hörte ich den Sketch von Mendele Mocher Sfarim, obwohl er einiges an Aktualität vermissen ließ. Besetzung und Darstellung hielten gutes Niveau, nur Jarden Podmanitzkis Stimme klang für einen schwer Lungenkranken etwas zu heiter. Lobende Erwähnung verdient die Hintergrundmusik, die mit Flöte und Flamenco-Trommel wesentlich zur folkloristischen Atmosphäre beitrug. Die einfallsreiche Regie erreichte ihren Höhepunkt, als der taubstumme Großvater das Knattern eines Maschinengewehrs mit dem Klappern einer Schreibmaschine verwechselte. Hier kam die Friedenssehnsucht unseres Volkes zu bewegendem Ausdruck.«