Eine geschlossene Anstalt

 

Wir passieren den Bühneneingang und kümmern uns nicht um die zornigen Rufe des Portiers:

»He, Sie da! Wohin? Halt!«

Nachdem wir eine knarrende Treppe erklommen haben, gelangen wir in einen mäßig erleuchteten Korridor, in dem mehrere erwachsene Menschen auf und ab gehen. Einige von ihnen mögen sogar über eine gewisse Schulbildung verfügen, die man ihnen aber jetzt nicht ansieht. Sie sind fast durchwegs in Lumpen gekleidet und murmeln während des Aufundabge-hens dumpfe Worte vor sich hin, die jemand anderer vor hundert oder zweihundert Jahren geschrieben hat. In kleinen, vom Korridor durch Türen abgetrennten Ausbuchtungen, den sogenannten »Garderoben«, sitzen andere Erwachsene und schmieren sich eine unappetitlich fettige Masse ins Gesicht, verlängern oder verbreitern ihre Nasen durch weiches Wachs oder stopfen Kissen in ihre Hosen.

Ein halbwegs normal Gekleideter, glatzköpfig und schielend, dringt in eine der Garderoben ein und wendet sich an die vor dem Spiegel sitzende Hermelinträgerin:

»Du mußt schneller sterben, mein Kind! Hör endlich auf, dich zu krümmen und die Augen zu rollen! Und das Gesicht drehst du gefälligst zum Schafott, nicht zum Publikum! Verstanden?«

Nachdem er der Königin Marie-Antoinette noch rasch einen freundlichen Klaps versetzt hat, stürzt er hinaus und stößt mit einem keuchenden jungen Mann zusammen, der soeben den Korridor entlanggesaust kommt und dessen Stimme sich im Diskant überschlägt: »Dritter Aufruf! Alles auf die Bühne! Dritter Aufruf! Haben Sie nicht gehört?«

»Mich kannst du im Arsch lecken, Schlesinger«, antwortet König Ludwig XVI. und schlürft ruhig seinen Kamillentee weiter. Mit dem letzten Schluck beginnt er zu gurgeln, grr, grr, grr...

Kein Zweifel, wir befinden uns in einem Irrenhaus. Und hier sind auch die Wärter verrückt.

Hinter dem entgegengesetzten Eingang ist ein Verschlag angebracht, in dem eine ausgemergelte Frauensperson sitzt und jedem, der an das kleine Fenster tritt, mit flackernden Augen und gepeinigter Stimme versichert:

»Jawohl, in der Mitte. Ein sehr guter Platz. In der Mitte, in der Mitte, in der Mitte.«

Ein hagerer, nervös um sich blickender Mensch steht in der Vorhalle, winkt einen noch nervöseren Menschen zu sich heran und flüstert ihm zu:

»Miserabler Besuch. Eine Katastrophe. Der Balkon ist halb leer. Man muß etwas machen. Rufen Sie das Garnisonskommando an, sie sollen einen Zug Rekruten herschicken... «

Hoch über der Bühne hantiert ein unrasierter Arbeitsmann am Schaltbrett, ohne den Blick von der Sportzeitung zu wenden, die er in der linken Hand hält.

In der Kulisse, schräg seitlich vom Schafott, wartet ein hoher kirchlicher Würdenträger, vielleicht ein Kardinal, weißhaarig, gebückt von der Last seiner Jahre und seines Amtes.

Mit leiser Stimme spricht er auf den neben ihm stehenden Priester ein:

»Borg mir zwanzig Shekel, Jossele, ich brauch sie dringend. Morgen bekomm ich Vorschuß und geb sie dir sofort zurück.«

»Wenn ich zwanzig Shekel hätte«, lautet die priesterliche Antwort, »würde ich nicht mit dir reden. Laß mich in Ruh'.«

Jetzt wird es Zeit, etwas Konkretes zu unternehmen. Respektvoll nähere ich mich dem Kardinal.

»Herr Jarden Podmanitzki?«

»Jawohl, mein Freund.«

Mich befällt ein unwiderstehlicher Drang, ihm etwas Nettes zu sagen. Aber in welchem Stück habe ich ihn gesehen?

»Sie waren großartig in Ihrer letzten Rolle, Herr Podmanitz-ki. Ich mußte weinen wie ein kleines Kind. Alle Umsitzenden haben zu mir herübergeschaut.«

»So? Dann haben die anderen also nicht geweint.«

»Doch, doch. Und wie. Den ganzen zweiten Akt hindurch.«

»Im zweiten Akt trete ich nicht auf.«

»Vielleicht war das der Grund, warum sie geweint haben.«

Der Kardinal ist wütend. Am Ende wird er mich jetzt noch fragen, ob ich vielleicht an jene Szene denke, in der die letzten seiner Gefolgsleute ihm ewige Treue geloben, auch für den Fall, daß es ihm nicht gelingt, die Nonne zu retten, die seinetwegen...

Eilige Flucht ist geboten. Man muß diesem Irrenhaus entrinnen, bevor man selbst zum Patienten wird. Denn die hier grassierende Krankheit ist ansteckend.