Ein weitblickender Theaterleiter

 

Dort läuft Kunstetter! Sehen Sie ihn? Vor fünf Minuten ist der Vorhang gefallen, und schon saust er zum Telephon, um seine Kritik durchzugeben. Er wird wieder der einzige sein, der noch den Redaktionsschluß für die Morgenausgabe erreicht.«

»Machen Sie sich Sorgen?«

»Keine Spur. Er wird uns eine phantastische Kritik schreiben.«

»Sind Sie sicher?«

»Hundertprozentig.«

»War die Vorstellung denn so gut?«

»Welche Vorstellung?«

»Nun, Ihre Premiere. Die Aufführung, über die Kunstetter schreiben wird.«

»Was hat die Aufführung mit der Kritik zu tun?«

»Ich dachte... vielleicht...«

»Machen Sie sich nicht lächerlich. Die Zeiten, in denen ein Theaterdirektor für gute Vorstellungen sorgen mußte, sind längst vorbei. Heute, im Zeitalter der ferngesteuerten Kritik, zählt nur noch eiskalte, genau berechnende Überlegung.«

»Ich verstehe nicht. Was meinen Sie mit Überlegung?«

»Ich meine zum Beispiel die Wahl des Stückes. Warum glauben Sie, habe ich diesmal eine rumänische Tragödie aus dem 13. Jahrhundert gewählt?«

»Weil Kunstetter...?«

»Richtig. Weil Kunstetter Präsident der Rumänisch-Israelischen Freundschaftsgesellschaft ist.«

»Und das sichert Ihnen eine gute Kritik?«

»Nicht unbedingt. Von Zeit zu Zeit will er seinen Lesern beweisen, daß er ungeachtet seiner Präsidentschaft auch der rumänischen Kunst gegenüber objektiv bleibt, und dann ist alles möglich.« »Sie müssen sich also doch Sorgen machen?«

»Nein. Denn ich vertraue nicht dem blinden Zufall, sondern meiner Weitsicht. Ich kann warten. Vor zwei Monaten hat bei uns eine rumänische Tanzgruppe gastiert. Sie wurde von Kunstetter fürchterlich verrissen. Jetzt dachte ich mir, ist es soweit. Jetzt kann ich ruhig mit einem rumänischen Stück herauskommen, ohne daß mir von Kunstetter Gefahr droht. Zweimal hintereinander wird er nicht auf Rumänien losgehen.«

»Das ist allerdings eine glatte Rechnung.«

»Gar so glatt ist sie nicht. Eine Kritik hängt von hundert Kleinigkeiten ab. Kunstetter könnte zum Beispiel das Stück loben und die Inszenierung grauenhaft finden.«

»Und dagegen wären Sie machtlos.«

»Keineswegs. Ich halte mich an das bewährte Roulettesystem. Wenn fünfmal hintereinander Schwarz gekommen ist, muß einmal Rot kommen. Verstehen Sie?«

»Nein.«

»Hier, in diesem kleinen Notizbuch, verzeichne ich mit kurzen Schlagworten, was Kunstetter über die Premieren der letzten Monate geschrieben hat. Passen Sie auf. 23. März: >Ein idiotisches Gefasel.< 7. April: >Drei Stunden Langeweilen< 23. April: >Eine Beleidigung des Publikums< 4. Mai: >Das darf doch nicht wahr sein.< 18. Mai: >Wie lange noch?« Fünfmal Schwarz. Nach dem Gesetz der Serie ist jetzt eine gute Kritik fällig. Sonst würde man ihn für alt und verbittert halten. Ich rechne also mindestens auf >Eine gut ausgewogene Ensembleleistung, die mit freundlichem Beifall bedacht wurde<. Oder so ähnlich.«

»Das wäre nicht schlecht.«

»Für die nächste Saison habe ich bereits einen Computer bestellt, der diese Berechnungen durchführen wird. Aber vorläufig muß ich das noch selbst machen. Übrigens wird Kunstetter auch die Regie und das Bühnenbild loben.«

»Woher wissen Sie das?«

»Wegen Plotkin.«

»Wie bitte?«

»Ich setze meine Premieren immer so an, daß sie unmittelbar nach einer Premiere in den Kammerspielen herauskommen, bei der Gerschom Plotkin Regie geführt hat. Kunstetter haßt Plotkin. Das ist allgemein bekannt. Plotkin hat ihn einmal in einer Rundfunkdiskussion einen Analphabeten genannt, und seither zerfleischt ihn Kunstetter bei jeder Gelegenheit. Eine vollkommen natürliche Reaktion. Aber es hat zur Folge, daß Plotkin sich mittlerweile an die Verrisse gewöhnt hat. Sie regen ihn nicht mehr auf. Was ihn wirklich trifft, ist etwas anderes: Wenn in der gleichen Zeitung und womöglich auf derselben Seite, wo er verrissen ist, ein anderer Regisseur gelobt wird. Das ist Kunstetters süßeste Rache. Und deshalb folge ich Plotkins Inszenierungen auf dem Fuß. Damit habe ich einen Schwall von Superlativen für meinen Regisseur sicher. Wenn Kunstetter jemanden lobt, muß er zugleich jemand anderem eins auswischen.«

»Und wieso das Bühnenbild?«

»Eine Art Sippenhaftung. Vor ein paar Wochen hat der Vater unserer Bühnenbildnerin, ein bekannter Bildhauer, Kunstetter öffentlich geohrfeigt - wegen irgendeiner abfälligen Bemerkung, die Kunstetter über eine Plastik des Meisters fallen ließ. Kunstetter kann jetzt unmöglich auch noch die Bühnenbilder der Tochter verreißen, wenn er nicht in den Ruf kommen will, die ganze Familie aus persönlichen Gründen zu hassen.«

»Ein Glück für Sie, daß der Papa ihn rechtzeitig geohrfeigt hat!«

»Was heißt da Glück? Ich selbst habe den Zwischenfall arrangiert. Ich ging zum Papa und sagte ihm: >Wollen Sie, daß Ihr Fräulein Tochter eine gute Kritik von Kunstetter bekommt? Dann hauen Sie ihm ein paar Ohrfeigen herunter!< Ja, mein Lieber, es ist nicht leicht, alle Faktoren im Auge zu behalten und zu koordinieren. Nehmen Sie zum Beispiel die Besetzung. Ich habe eine der Hauptrollen mit Jarden Podmanitzki besetzt, dem aber die Namensgleichheit zugute kommt.«

»Welche Namensgleichheit?«

»Der Verleger, der alljährlich Kunstetters Theaterkritiken herausbringt, heißt ebenfalls Podmanitzki.«

»Aha. Und er ist mit dem Schauspieler verwandt.«

»Nicht im entferntesten. Aber Kunstetter glaubt, daß die beiden miteinander verwandt sind, und deshalb hat er auch für den Schauspieler nichts als Lob und Preis. Hier, sehen Sie. 7. April: >Podmanitzkis scharfe Charakterzeichnung hat mich angenehm überraschte 16. Mai: >Die große Überraschung des Abends war Podmanitzki. < 2. Juni: >In einer kurzen Szene kam Podmanitzki zu überraschend kräftiger Geltung.< Und so weiter. Um ganz sicher zu gehen, habe ich kurz vor der Premiere Podmanitzki auf Wache in das Verlagshaus geschickt, wo er sich im obersten Stockwerk versteckt hielt. Als er Kun-stetter kommen sah, stieg er langsam die Treppe hinunter und wußte es so einzurichten, daß er mit ihm knapp vor dem Verlagsbüro zusammenstieß. Das sollte für eine >überraschend nuancierte Leistung< reichen.«

»Sie sorgen aber wirklich für alles.«

»Nicht für alles. Es ist mein Bestreben, dem Kritiker immer ein Ventil offenzuhalten, durch das er seinen Zorn auspuffen kann. Sonst erstickt er und vernichtet etwas wirklich Wertvolles. Man muß ihm sein Opfer griffbereit servieren. In unserem Fall ist es der Komponist der Begleitmusik.«

»Wie das?«

»Ganz einfach. Ich habe einen Komponisten engagiert, der aus Ungarn stammt. Kunstetter - denken Sie nur an seine rumänischen Beziehungen - ist allergisch gegen alles Ungarische. Infolgedessen wird die Bühnenmusik unseres Komponisten >banal, einfallslos und der geistigen Atmosphäre unseres Landes völlig fremd< sein. Der arme Kerl muß alles auf sich nehmen, was Kunstetter an Galle auszuscheiden wünscht.«

»Ich bewundere Ihren Überblick.«

»Selbst das kleinste Detail will berücksichtigt sein. Wir hätten ebensogut schon vor zwei Monaten Premiere haben können, aber damals war es zu heiß. Besser gesagt: Der Feuchtigkeitsgehalt der Luft war zu hoch. Kunstetter verträgt das nicht. Wenn's über fünfundachtzig Prozent geht, schlägt er wahllos um sich. Auch das habe ich einkalkuliert. Und die ihm zunächst liegenden Sitze habe ich ausnahmslos an Verwandte von Schauspielern vergeben, die ihn vor Beginn der Vorstellung und während der Pause mit Schmeicheleien überschütten werden. Auf den Eckplatz, drei Reihen hinter ihm, habe ich seinen schärfsten Konkurrenten gesetzt, den Kritiker Gurewitsch.«

»Was wird Gurewitsch über das Stück schreiben?«

»Gurewitsch wird gar nichts schreiben, weil er das Stück übersetzt hat. Kunstetter ist diesmal konkurrenzlos.«

»Eine wirklich perfekte Planung.«

»Man tut, was man kann. Schließlich steht bei so einer Premiere das Wohl und Wehe von ungefähr sechzig Menschen auf dem Spiel, und da muß man auf Nummer Sicher gehen. Werden Sie sich das Stück anschauen?«

»Wahrscheinlich.«

»Wann?«

»Das weiß ich nicht. Ich warte auf die Kritik von Kunstetter.«