Aasgeier

 

Vertrauensvoll und in ausgezeichneter Stimmung begab ich mich zur Ein-Mann-Show des Schauspielers Schlomo Emanueli. Ich hatte allen Grund, dem bevorstehenden Ereignis ruhig entgegenzusehen. Die Gerüchte, die in den Kreisen der Eingeweihten über Emanuelis Programm kursierten, ließen ein Fiasko von einmaligem Ausmaß erwarten.

»Ein hundertprozentiger Durchfall«, prophezeite im Foyer des Theaters der Sänger Bjala Zurkewitz. »Vorgestern bei der öffentlichen Generalprobe sind die meisten Zuschauer in der Pause weggegangen.«

»Tatsächlich?« Dutzende von Journalisten, Literaten und sonstigen Persönlichkeiten des Kulturlebens umringten den Sprecher. »Woher wissen Sie das?«

»Einer der Platzanweiser hat es mir gesagt. Und bei der zweiten Generalprobe, die für Angehörige der Armee reserviert war, soll es Buh-Rufe gegeben haben... «

Nun, das waren ermutigende Vorzeichen. Nicht als ob Tel Avivs Intelligenzija dem Schauspieler Schlomo Emanueli mißgönnt hätte, auch als Alleinunterhalter Erfolg zu haben. Das Gegenteil traf zu. Sämtliche Stammgäste des Cafe Noga waren sich über sein komisches Talent, über seine angenehme Gesangsstimme und seine künstlerische Originalität einig. Was man an ihm auszusetzen fand, war höchstens sein schauspielerischer Dilettantismus, seine mangelnde Musikalität und seine billige Effekthascherei. Diese Mängel bekam man schon bei seiner ersten Ein-Mann-Show zu spüren, die nach 1627 Vorstellungen abgesetzt worden war und ihm zu einer schlechthin unerträglichen Beliebtheit verhelfen hatte. Damit hier kein Mißverständnis entsteht: Niemand neidet ihm seinen Kassenerfolg, warum soll er kein Geld verdienen, er soll. Das Ärgerliche ist, daß er kein Geld verdient hat, sondern buchstäblich ein Vermögen. Mit seiner zweiten Show brachte er es allerdings nur noch auf 1584 Abende en suite, und hinterher wurden Stimmen laut, daß dies der Anfang vom Ende wäre. Schlomo Emanueli hatte denn auch in aller Eile die Mehrheit der Hilton-Hotel-Aktien, größere Waldungen im Norden Galiläas und zwei florierende Restaurants im Herzen Tel Avivs erworben. Es hieß, daß er überdies das Volkswagen-Werk gekauft hätte oder jedenfalls einen Volkswagen. Wie dem auch immer sei: Alles sprach dafür, daß sich das Blatt nun endlich wenden würde, und man wartete nur darauf, diese Wendung festzustellen.

Jetzt waren also seine sämtlichen Freunde, die Erfolgreichen aus der Kunst- und Theaterwelt, zur Premiere seines neuen Programms versammelt, ein typisches Premierenpublikum in typischer Erwartung dessen, was da kommen sollte. Oder wie es in den »Sprüchen der Väter« geschrieben steht: »Es ist nicht genug an dem, daß du Erfolg hast, es muß auch dein Freund durchfallen.«

In der Regel besteht Schlomo Emanuelis Programm aus Balladen und kurzen Soloszenen, handelnd von den alltäglichen Ärgernissen des kleinen Mannes. Diesmal schilderte er in der Eröffnungsszene einen Mann, der von Beruf Gärtner war und dem es dennoch nie gelang, sein Eigenheim mit Blumen zu schmücken; im ganzen eine recht lustige Szene, die im nichtorganisierten Teil des Publikums drei größere Lacher und einiges Kichern hervorrief. Die Schlußpointe - daß nach dem plötzlichen Tod des Gärtners die herrlichsten Chrysanthemen auf seinem Grab zu sprießen begannen - fand glücklicherweise nur wenig Anklang. Von Seiten einiger älterer Frauenspersonen konnte man verhaltenes Schluchzen hören, aber der Maler Stuckler wandte sich mit Recht zu den Umsitzenden und flüsterte:

»Das ist keine erste Nummer für ein Unterhaltungsprogramm!«

»Völlig daneben... Auch keine zweite Nummer... Wie soll das enden?« flüsterten die Umsitzenden zurück.

Wir befanden uns somit vom Start weg in bester Laune. Sie erfuhr eine leichte Trübung durch die Ballade von Jossi, dem kleinen Postboten, der nie einen Brief bekommt... den ganzen Tag rennt er mit fremden Briefen treppauf und treppab... wartet und wartet, daß einmal, wenigstens ein einziges mal auch er ... und als er zum Schluß einen an ihn gerichteten Brief in Händen hält, ist es seine Entlassung. Wieder waren es einige betagte Zuhörerinnen, die sich gefühlvoll schneuzten, auch setzte unüberhörbares Händeklatschen ein, aber dieser Teilerfolg - der offenbar auf die große Anzahl von Postboten im Publikum zurückging - änderte nichts oder wenig an der lauwarmen Aufnahme des Programms.

In der ersten Reihe erhob sich Zurkewitz, wandte sich um und deutete mit dem Daumen nach unten. Damit signalisierte er die allseits erwartete Katastrophe.

Vor meinem geistigen Auge formten sich die Verrisse, die am nächsten Tag erscheinen würden, zu einem farbenprächtigen Mosaik. Giftige Bemerkungen summten in meinen Ohrmuscheln gleich fröhlichen Hummeln, die das Nahen des Frühlings ankündigten. Das Hilton-Hotel muß er kaufen! Er wird schon sehen. Es hat sich ausgehiltont... Die Schauspielerin Kischinowskaja, die zusätzliche Freikarten für ihre Schwester und ihre Schwägerin angefordert hatte, sagte so laut, daß man es im ganzen Haus hören konnte:

»Das soll ein Unterhaltungsabend sein? Hält er uns für schwachsinnig?«

Der erste Teil des Programms schloß mit einem Sketch über eine Schönheitspflegerin, die an chronischem Hautausschlag litt. Die Nichtintellektuellen unter den Zuschauern fanden das komisch und lachten, aber das konnte keinen vernünftigen Menschen, am allerwenigsten uns, darüber hinwegtäuschen, daß sich hier ein veritabler Durchfall vorbereitete.

Dieser Eindruck bestätigte sich auch während der Pause am Büffet durch fröhliches Glucksen, beziehungsvolles Zwinkern und verschwörerische Händedrücke der Eingeweihten.

Einzig Stuckler, der Maler, schien nicht besonders glücklich zu sein. Wir sprachen ihm Mut zu: »Kein Anlaß zum Pessimismus! Der Durchfall ist nicht aufzuhalten! Nach einem so lahmen ersten Teil...«

»Wer weiß, was im zweiten Teil geschieht«, murmelte Stuckler. »Vielleicht erholt er sich.«

»Was sprichst du? Bekanntlich ist der zweite Teil immer schlechter als der erste.«

»Kann sein. Aber ich möchte kein Risiko auf mich nehmen. Wenn ich jetzt nach Hause gehe, habe ich nur den schwachen ersten Teil gesehen und kann ruhig schlafen.« Damit verließ er das Theater, der Feigling. Er gehörte nicht länger zu uns. Eigentlich hatte er sich als Anhänger Emanuelis entlarvt. Er war ein Verräter.

Der zweite Teil begann so schwach, daß wir den armen Stuckler beinahe bedauerten. Die »Mülleimer-Ballade« besang das Schicksal eines Mülleimers, der mangels Müllzufuhr an Unterernährung zugrunde ging, und fand nur mäßigen Beifall. Der Sieg der gerechten Sache rückte unaufhaltsam heran. Mme. Kischinowskaja ergriff meine Hand und drückte sie in überströmender Gefühlsaufwallung. Das war der Augenblick, auf den wir jahrelang gewartet hatten. Jahrelang, sage ich.

Aber dann kam uns etwas dazwischen, ein idiotischer Sketch von einem Feuerwehrmann, der niemals Zündhölzer bei sich hat und sich nur dann eine Zigarette anzünden kann, wenn irgendwo ein Brand ausbricht. Das war nicht schlecht. Nein, schlecht war es nicht. Es war auch nicht wirklich gut, aber es wies immerhin ein paar Situationen auf, die zum Lachen reizten, und Emanueli zögerte nicht, sie mit den denkbar vulgärsten Mitteln auszuspielen. Das minderklassige Publikum erging sich in lautem Gelächter und am Schluß in noch lauterem Beifall.

Durch den Noga-Block, der die ersten Reihen besetzt hielt, geisterte spürbares Unbehagen. Daß Schlomo Emanueli versuchen würde, sein Programm im zweiten Teil zu steigern, war uns von vornherein klar gewesen. Aber wir hätten nie erwartet, daß er es mit so unverschämter Offenheit tun würde.

»Eine Nummer«, gab Zurkewitz zu bedenken, »eine Nummer muß ja schließlich ankommen...«

Damit konnte er uns nicht trösten. Die folgende Ballade über den kleinen Beamten, der als einziger im ganzen Büro niemals bestochen wurde, rief abermals donnernden Applaus hervor -kein Wunder, wenn man die soziale Schichtung eines Publikums bedenkt, in dem der Mittelstand, also die Beamtenschaft, einen entscheidenden Prozentsatz bildet. Die beiden alten Hexen hinter uns, deren Schneuzen und Schluchzen uns schon früher unangenehm aufgefallen war, tobten geradezu vor Begeisterung. Als ob wir im Zirkus wären. Überhaupt nahm das Lärmen unwürdige Ausmaße an. Dabei waren es immer die gleichen, deutlich als Freunde oder Verwandte erkennbaren Enthusiasten, die den Lärm erzeugten. Man erkannte sie an der krampfhaft aufgesetzten Heiterkeit ihrer Mienen, während die ehrlichen Noga-Stammgäste immer düsterer vor sich hinblickten.

»Stuckler hatte recht.« Mme. Kischinowskajas Stimme klang heiser. »Es ist eine Zumutung, so etwas mitansehen zu müssen. Wir hätten rechtzeitig gehen sollen.«

Leider ließ sich das Versäumnis nicht mehr gutmachen. Jetzt konnten wir nur noch auf die letzte Nummer warten. Sollte Emanueli auch mit dieser letzten Nummer Erfolg haben, dann würde er womöglich die Chase Manhattan Bank kaufen...

Ich sah Bjala Zurkewitz lautlos die Lippen bewegen. Der hartgesottene Zyniker erinnerte sich seiner Kindheit und betete. »Allmächtiger«, flehte er, »laß ihn durchfallen. Hab Erbarmen mit uns und schenke ihm einen Mißerfolg. Erhöre mein Flehen, Allmächtiger...«

Die letzte Nummer begann. Jetzt ging es um Tod oder Leben.

Wenn ich sage, daß die Ballade, die Schlomo Emanueli zum Abschluß sang, die beste des ganzen Abends war, so will das nicht heißen, daß sie gut war. Vielleicht sollte man sie als konventionelle oder genauer: kommerzielle Ballade bezeichnen. Sie handelte von einem armen, alten Popcornverkäufer, der an der Straßenecke sitzt und seine Popcorntüten verkauft... jedem, der sie haben will... jeder darf sich am Popcorn gütlich tun... nur er, der arme Alte, der beim Pop mit jedem einzelnen Corn rechnen muß, nur er hat noch nie im Leben Popcorn gegessen. Er weiß nicht, wie es schmeckt. Er verkauft es nur, tagaus, tagein...

Im Publikum blieb kein Auge trocken. Selbst ein paar männliche Besucher entblödeten sich nicht, laut aufzuschnupfen, als Schlomo Emanueli die Schlußzeilen seiner Ballade sang:

Und als er trat durchs Himmelstor, Der arme alte Mann, Da kam der Englein ganzer Chor Mit Popcorntüten an. Und Gott der Herr, er segnete Den armen Popcorn-Greis, Und aus den Wolken regnete Das Popcorn knusprig weiß.

Jetzt gab es kein Halten mehr. Die Zuschauer weinten wie die kleinen Kinder. Auch wir brachen in lautes Schluchzen aus, denn nun stand endgültig fest, daß die Show kein Durchfall war, sondern ein Erfolg, ein unantastbarer Erfolg, wir wußten es sowieso, das taktmäßige Klatschen, das jetzt einsetzte, war vollkommen überflüssig, es wirkte nur noch geschmacklos.

Auf dem Weg in die Garderobe, wo ich meinem Freund Schlomo Emanueli von ganzem Herzen gratulieren wollte, stieß ich mit Bjala Zurkewitz zusammen. Wir vermieden es, einander anzusehen.

»Die Armee«, flüsterte er tonlos, »wenigstens die Armee wird die Show nicht buchen. Die sind noch rechtzeitig aus der Generalprobe weggegangen.«

Es war zum Verzweifeln. Mit welcher Wollust hatten wir diesem Abend entgegengesehen! Wie viele Hoffnungen waren jetzt grausam zerstört worden!

Nein, es ist keine Freude mehr, ins Theater zu gehen, wirklich nicht.