O Solo mio

 

Unser verehrter Kollege Shakespeare, wer immer er gewesen sein mag, besaß auf jeden Fall ein Talent, um das ihn seine sämtlichen Nachfahren beneiden: Dadurch, daß er die Hauptrollen in seinen eigenen Stücken übernahm, ersparte er sich eine schwere Menge von Unannehmlichkeiten.

Das heutige Theater steht im Zeichen des Stars. Er beherrscht es unumschränkt, er kann jeden beliebigen Druck ausüben, er erpreßt, er stellt Bedingungen, er ist eine Lobby auf zwei Beinen. Ich habe das am eigenen Leib zu spüren bekommen.

Eines Tags bat mich der Intendant eines unserer Musiktheater zu sich und wollte mit mir über ein Musical sprechen. Ich teilte ihm unverzüglich mit, daß ich noch nie im Leben ein Musical geschrieben habe, und daß es mir außerdem in der Seele zuwider ist, wenn Menschen auf der Bühne plötzlich ohne die leiseste Veranlassung zu singen oder zu tanzen beginnen.

Auf meinen Gesprächspartner machte das keinen Eindruck.

»Jeder Mensch«, sagte er, »kann ein Musical schreiben. Es ist das Einfachste auf der Welt. In der Oper pflegt mindestens einer der beiden Liebenden am Schluß zu sterben. Das Musical beruht auf dem Prinzip, daß beide gerettet werden. Versuchen Sie's. Es wird Ihnen bestimmt gelingen. In die Wahl des Sujets will ich Ihnen nicht dreinreden, aber es wäre wünschenswert, daß die Geschichte in Puerto Rico spielt, weil Puerto Rico >in< ist... «

An dieser Stelle unseres Gesprächs erschien der persönliche Referent des Intendanten mit einer Botschaft von Mme. Schinowski, des Inhalts, daß sie, Felicitas Schinowski, sofort aus der geplanten Produktion ausscheiden würde, wenn man ihr das Solo im zweiten Finale entzöge, denn dieses Solo sei eigens für sie geschrieben worden.

»Entschuldigen Sie«, fragte ich, »von welchem Finale ist hier die Rede?« »Vom Finale des Musicals, das Sie für uns schreiben«, lautete die Antwort.

»Und was ist ein Solo?«

»Ein Solo ist, wenn der Gesangsstar allein auf der Bühne steht und allein den ganzen Applaus einheimst, während seine Kollegen in der Kulisse vor Neid grün und gelb werden.«

Nach diesem kurzen Einführungskurs in die Grundlagen des Musiktheaters begab ich mich nach Hause und entwarf das gewünschte Libretto. Es handelte von einem jungen israelischen Buchhalter, der sich während eines Besuchs in Puerto Rico in eine polynesische Bauchtänzerin verliebt, deren Onkel, ein angesehener Honorarkonsul, mit der Heirat jedoch nicht einverstanden ist, weil die Bauchtänzerinnen seiner Familie aus Traditionsgründen nur norwegische Prinzen heiraten dürfen. Daraufhin gibt der Buchhalter vor, ein norwegischer Prinz zu sein, aber gerade als es nach einem Happy-End auszusehen beginnt, wird ihm klar, daß die Bauchtänzerin nicht den Mann in ihm liebt, sondern den Buchhalter, denn sie hat mittlerweile entdeckt, daß er ein Buchhalter ist. In Wahrheit ist er aber kein Buchhalter, sondern ein norwegischer Prinz, wenn auch nur ein unehelicher, während die Bauchtänzerin, wie sie jetzt gesteht, aus einem Kibbuz kommt. Die beiden heiraten und übernehmen eine Hühnerfarm. Vorhang.

Gebannt lauschte der Intendant meiner Geschichte und fand sie hervorragend. Er bat mich lediglich, den Charakter der Hauptfiguren etwas mehr an die Musical-Atmosphäre anzugleichen. Der junge Mann sollte kein Buchhalter sein, sondern besser ein Konteradmiral. Es sei nämlich sehr wichtig, daß er bei seinem Auftritts-Solo gut aussehe, und die Uniform eines Buchhalters wäre nun einmal nicht so eindrucksvoll wie die eines Konteradmirals.

»In Ordnung«, sagte ich. »Er ist Konteradmiral.«

Im selben Augenblick entstand draußen großer Lärm, der Erste Tenor stürzte ins Zimmer, gab uns brüllend bekannt, daß er alles gehört hätte und nicht daran dächte, als Konteradmiral aufzutreten, wo doch jedes Kind wisse, daß nichts auf Erden so unweigerlich abstinkt wie das Auftritts-Solo eines Konteradmirals. Er wünsche als Großadmiral zu erscheinen, ohne jedes Konter, oder er verlasse das Ensemble, das Theater und das Land. Damit verschwand er und schlug die Türe hinter sich zu.

Ich zitterte am ganzen Körper. Der Intendant hingegen blieb bemerkenswert kühl und wies mich an, den Tenor in den Rang eines Großadmirals zu befördern.

»Was macht das schon für einen Unterschied«, meinte er. »Auch ein Großadmiral kann mit dem Fallschirm über dem Flughafen von Lod abspringen.«

»Fallschirm? Lod?« Ich zitterte immer stärker. »Wozu das alles?«

»Damit eine meiner ältesten Schauspielerinnen zu ihrem Solo kommt: >Flieg, mein kleiner Vogel/ Fliege hin und her/ Über Land und Meer/ Denn ich lieb dich sehr.<

Ohne dieses Solo fängt sie erst gar nicht zu probieren an.«

»Na schön. Dann sieht also der Großadmiral in Lod eine Tänzerin - «

»Eine Hostess.«

»Gut, eine Hostess.«

»Fünf Hostessen.«

»Warum fünf?

»Weil ich fünf Primadonnen habe und keine von ihnen weniger als eine Hostess sein kann, wenn eine von ihnen eine Hostess ist.«

Der persönliche Referent kam herein und teilte dem Intendanten mit, daß Mme. Schinowski ihr Spielkartensolo zurückgebe, weil es nur aus drei Strophen bestünde und nicht, wie vereinbart, aus vier. Der Intendant ließ Mme. Schinowski durch seinen persönlichen Referenten wissen, daß sie entlassen sei und, falls sie das wünsche, bei der Gewerkschaft eine Beschwerde einbringen könne.

»Verzeihung«, warf ich ein, »was ist ein Spielkartensolo?«

»Richtig. Darüber habe ich Sie noch gar nicht informiert. In Ihrem Musical wird kurz vor dem Finale eine Pagode aufgebaut, die aus Bridgekarten in natürlichen Farben besteht. Vor diesen Karten singt Mme. Schinowski ihr Solo. Im Rumba-Rhythmus.«

»Könnten wir nicht... vielleicht... ohne Bridgekarten...?«

»Ausgeschlossen. Das Solo steht. Der Refrain lautet: >Karte - Kärtchen - bum / Karte - Kärtchen - bum.< Im Rumba-Rhythmus. Es ist zu spät, das zu ändern.«

Der persönliche Referent brachte die Nachricht, daß Mme. Schinowski sich am Strick des Pausenvorhangs erhängt hatte.

»Gut«, sagte der Intendant. »Dann schließt der zweite Akt mit dem Besuch des Diplomaten bei den Kurden.«

»Was für eines Diplomaten?«

»Des Ersten Tenors.«

»Aber der ist doch ein Großadmiral?«

»Gewesen. Wir brauchen ein politisches Solo. Ich hatte vergessen, daß Wahlen bevorstehen.«

»Und warum muß er Kurden besuchen?«

»Weil ich ein Ballett aus Kurdistan engagiert habe. Mit zwei Solotänzern.«

Mme. Schinowski hätte sich's überlegt und möchte ihr Solo zurückhaben, meldete der persönliche Referent.

Der Intendant nickte zum Zeichen seines Einverständnisses und wandte sich an mich:

»Der zweite Akt fängt natürlich mit den Elefanten an.«

»Mit welchen Elefanten?«

»Mit den acht Elefanten, die ich gemietet habe, um zum Solo des Komikers überzuleiten, der den Maharadscha spielt.«

Der Komiker, der den Maharadscha spielte, kroch unter dem Tisch hervor, wo er sich während der letzten vierundzwanzig Stunden versteckt gehalten hatte, warf sich zu Boden und begann zu schluchzen:

»Keine Elefanten! Bitte keine Elefanten! Ich fülle die Bühne ganz allein... die Elefanten stehen mir nur im Weg... entweder die Elefanten oder ich, Herr Direktor!« »Ich nehme Ihre Kündigung zur Kenntnis. Hier ist die Anweisung für Ihre Probengage, gehen Sie zur Kassa und lassen Sie sich hier nicht mehr blicken.«

Der Komiker richtete sich zur vollen Größe auf, verließ gemessenen Schritts den Raum, ging zur Kassa, nahm das Probenhonorar in Empfang und schloß sich in seiner Garderobe ein, um sein Solo zu studieren.

Der Intendant atmete auf:

»Alles in Ordnung. Bis auf das eine, daß Ihr Stück zu lang ist. Wir müssen ungefähr eineinhalb Stunden kürzen.«

Abermals wurde unser Gespräch durch das Erscheinen des persönlichen Referenten unterbrochen.

»Was gibt's?« fragte der Intendant.

»Die Elefanten verlangen ein Solo.«

Das war selbst für die Engelsgeduld des Intendanten zu viel:

»Zum Teufel«, schrie er, »ich kann doch nicht jedem Elefanten ein Solo geben!«

»Sie müssen«, entgegnete ungerührt der persönliche Referent. »Die Elefanten haben erklärt, daß sie sonst nicht als Ballett auftreten. Sie beschweren sich ohnedies, daß sie auf der Bühne immer verdeckt sind...«

Von draußen hörte man die schmetternde Stimme des Zweiten Tenors:

»O Solo mio!« sang er. Er befand sich seit einer Woche im Hungerstreik, um seiner Forderung nach einem zweiten Solo Nachdruck zu verleihen. Jetzt drohte er, von draußen, daß er andernfalls das Theater in Brand stecken würde.

Der Intendant und ich wählten den Ausgang durch das Fenster, um dem jugendlichen Liebhaber zu entgehen, der schon seit zwei Tagen vor dem Bühneneingang wartete. Nachdem wir unsere Kleider notdürftig gesäubert hatten, fragte ich den Intendanten, wie er es in diesem Irrenhaus aushaken könne.

»Irrenhaus?« wunderte sich der Intendant. »Das war doch heute ein ganz normaler Tag.«