Über die Universalität des Theaters

 

Die größte Faszination des Theaters besteht in seiner Universalität, die alle geographischen und sprachlichen Schranken aufhebt. Ein kultivierter Mensch, der mit der dramatischen Weltliteratur halbwegs vertraut ist, wird eine Theatervorstellung auch im Ausland genießen, in fremder Umgebung, fern der Heimat - einzig auf Grund jener allgemein menschlichen Werte, die ihm eine künstlerische und geistige Anteilnahme an dem Gebotenen ermöglichen, eine wesenhafte Identifikation, hinausgehoben über Zeit und Raum...

Das alles ist natürlich dummes Gewäsch. Es kann nur von Leuten ernstgenommen werden, die noch nie in Ferrara waren und noch nie in italienischer Sprache eine Aufführung von »Peer Gynt« gesehen haben, dem Hauptwerk des bekannten norwegischen Dramatikers Enrico Ibsen.

Ich hatte mich durch ein buntfarbenes Plakat in der Halle meines Hotels zu einem Besuch des Theaters verleiten lassen, wo eine italienische Truppe mit »Peer Gynt« gastierte, und da ich nicht nur in der Lage war, den Titel des Stücks ohne Hilfe eines Dolmetschers zu entziffern, sondern mich überdies erinnerte, im Alter von elf Jahren eine Inhaltsangabe von »Peer Gynt« gelesen zu haben, fühlte ich mich einigermaßen sicher.

Das stockende Deutsch, in dem ich ein Billet verlangte, trug mir den Respekt der Kassiererin und einen Eckplatz in der elften Reihe ein, knapp neben einer Säule aus kostbarem carrarischem Marmor. Alsbald verdunkelte sich das Haus, und die universale Faszination des Theaters begann. Nach dem Hochgehen des Vorhangs bot sich meinem Auge ein bemerkenswert luxuriöser Anblick: Das Bühnenbild bestand aus einem modernen Swimmingpool samt Stufen und Sprungbrett, aber ohne Wasser. Ein rothaariger Knabe vollführte auf dem Sprungbrett einige gymnastische Übungen und wurde von einer älteren Dame, wahrscheinlich der Inhaberin oder Vermieterin der luxuriösen Villa nebst Zubehör, heftig zurechtgewiesen, wobei sie ihn mit »Gynt« ansprach. Ich schloß daraus, daß ich die Hauptfigur des Dramas vor mir hatte. Nach einigen weiteren unbekümmerten Sprüngen auf dem Sprungbrett ging der rothaarige Knabe ab und entzog sich dadurch allen weiteren Vorwürfen der Vermieterin, die in einem wilden sizilianischen Dialekt hinter ihm herfluchte.

Im zweiten Bild, das mit dem ersten nur lose zusammenhing, fand eine Hochzeitsfeier statt. Der offenbar nicht geladene Peer Gynt dringt ein, aber keines von den versnobten Mädchen will mit ihm tanzen, denn er ist erstens arm (was man nach dem ersten Bild nicht vermutet hätte), zweitens dumm (das schon eher), drittens betrunken und viertens hat er die schlechte Gewohnheit, den Mund nicht halten zu können. Er spricht ununterbrochen, noch dazu mit hörbarem Südtiroler Akzent. Er spricht bis zu dem Augenblick, da eine blonde Opernsängerin namens Solvejg erscheint, in die er sich sofort verliebt, und zwar dergestalt, daß er mit einer anderen, der Braut des Tages, auf und davon geht.

Als der Vorhang fiel, nahm ich an, daß das Stück zu Ende wäre, stand auf, um zu applaudieren, mußte jedoch entdecken, daß ich der einzige war.

Das nächste Bild zeigt Peer allein in einem unheimlichen unterirdischen Wald, wo er mit einem vierbusigen Monstrum Verstecken spielt. Warum das Monstrum vier Busen hat, wird niemals klar, aber es hat vier Busen und spielt mit Peer Verstecken. Die Verwandten des Monstrums, seltsamerweise von zwergenhafter Gestalt, fordern ihn auf, sich der Untergrundbewegung anzuschließen und befestigen deren Wahrzeichen - einen langen Schweif - an seinem Hintern. Da Peers Verlangen nach einem Alfa Romeo von den Zwergen abgelehnt wird, kommt die vielversprechende Verbindung nicht zustande. In der folgenden Szene herrscht höchste politische Spannung. Peer hat sich unter seinem Lieblingssprungbrett zu einem kleinen Nickerchen hingelegt und wacht verärgert auf, als ein vorüberfahrender Lautsprecherwagen Wahlparolen in die Gegend schmettert. Für ihn mögen sie verständlich gewesen sein, für mich waren sie es nicht. Jetzt fiel mir auch ein, daß ich im Alter von elf Jahren nicht die Inhaltsangabe von »Peer Gynt« gelesen hatte, sondern von »Onkel Toms Hütte«.

Mittlerweile ist das unreife rothaarige Kind zu einem reifen rothaarigen Mann geworden und sogar zum Besitzer eines Mantels. Jetzt schlägt er mit einer Axt auf einen Baum ein und lockt durch das Geräusch die blonde Solvejg herbei, die sich unverkennbar davon beeindruckt zeigt, daß er noch immer keinen anderen Menschen zu Wort kommen läßt. Auf der Gegenseite der Bühne entsteigt dem unterirdischen Wald das vierbusige Monstrum. Es hat sich in eine Art jiddische Mamme verwandelt und führt ein kleines Kind an der Hand, in dem wir unschwer die sündige Frucht ihrer Liebesaffäre mit Boris Karloff erkennen. Peer Gynt verliert jedes Interesse an den Vorgängen und wünscht nach Kanada zu emigrieren, muß diesen Plan jedoch aufgeben, weil ihm die nötigen Devisen verweigert werden.

Als der Vorhang fiel, stand ich auf und applaudierte, denn ich nahm abermals an, daß das Stück zu Ende wäre. Es war aber nur die Pause.

Während der Pause muß Peer trotz allem nach Kanada gelangt sein und dort eine Goldgrube entdeckt haben; jedenfalls präsentiert er sich beim Aufgehen des Vorhangs in einem weißen Smoking. Auch das Sprungbrett ist wieder da, er nimmt es überallhin mit, es ist sein Fetisch, ja mehr als das, es ist ein Symbol für seine Karriere. Mit Peer befinden sich noch vier weitere Typen auf der Bühne, ein Oberkellner, ein deutscher Tourist, Lord Mountbatten und ein vierter von unbekannter Identität. Ort der Handlung ist die Wüste Sahara, wo sie am wüstesten ist, kein Grashalm weit und breit, nur das Sprungbrett. Die fünf scheinen zu Fuß in die sandige Einsamkeit gelangt zu sein oder mit einem Ruderboot, das sie hinter sich herziehen. Sie sind sehr warm gekleidet. Als Peer, seiner alten Gewohnheit treu, ununterbrochen redet und außerdem von plötzlichem Sprungbrettfieber ergriffen wird, steigen die anderen ins Boot und werden von Bühnenarbeitern hinausgezogen. Daraufhin erklettert Peer eine Palme, wird von einem Affen mit Kokosnüssen beworfen und springt wieder herunter, um das Vorbereitungstraining für den Weitsprung bei den Olympischen Spielen aufzunehmen.

Die neben mir sitzenden Italiener wollten von mir die Vorgänge auf der Bühne erklärt haben, weil ich wahrscheinlich als einziger Zuschauer alles verstand, da mich der Text nicht behinderte. Ich begann also den Umsitzenden meinerseits zu erklären, daß alles, was auf der Bühne vorging, symbolisch zu verstehen war, einschließlich des Affen, der entweder die menschliche Schwäche symbolisierte oder die Regierung.

Aus seinem mißglückten Sprungtraining zieht Peer die Konsequenz, in der Uniform eines Botenjungen ein türkisches Nachtlokal aufzusuchen. Dort wird er von einem weiblichen Steuerbeamten beschlagnahmt und wieder freigelassen, weil er Gedichte in italienischer statt in norwegischer Sprache aufsagt. Um diese Zeit waren bereits drei Stunden vergangen, weshalb ich mich abermals erhob, kurz applaudierte und zum Autobus lief.

Der Fahrer trieb mich zurück. Er sagte, es käme noch ein Akt.

In diesem letzten Akt ist der rothaarige Peer nicht mit Unrecht weißhaarig und fährt auf einem Dampfer nach Hause, ohne Kontakt zu den Matrosen zu finden, die ihn - gleichfalls nicht mit Unrecht - für senil halten. An Land gegangen, trifft er seine sämtlichen alten Freunde, zuerst den Zwergenkönig aus dem Untergrundwald, jetzt in Gestalt eines Lumpensammlers, dann einen Schmetterlingsfänger mit orthopädischen Schuhen und schließlich einen Koch mit einer leeren Suppenterrine, die das Finanzministerium symbolisiert. Sie alle gehen dem alten Peer auf die Nerven. Gerade noch rechtzeitig kreuzt die ehemals blonde Solvejg auf, ebenso gealtert wie Peer und obendrein kurzsichtig. Leider hat sie die Brille zu Hause vergessen und erkennt ihren Peer nicht mehr, was ihn so sehr erzürnt, daß er sie mitten aus der Umarmung in den Orchestergraben fallen läßt...

An diesen Teil der Aufführung erinnere ich mich aber nur dunkel. Ich wüßte nicht einmal mehr genau zu sagen, ob es ein tiefer Schlaf oder eine leichte Ohnmacht war, was mich hinderte, die letzte Stunde theatralischer Universalität voll zu genießen. Künftig werde ich im Ausland doch lieber Ballettvorstellungen besuchen; und auch die nur, wenn ich muß.