Lamento für einen jungen Schauspieler

 

PODMANITZKI: Sie, junger Mann! Kommen Sie für einen Augenblick her!

BEN TIROSCH: Wer, ich?

PODMANITZKI: Ja, Sie.

BEN TIROSCH : Mit Vergnügen, Herr Podmanitzki. Ich wollte Ihnen schon lange sagen, Herr Podmanitzki, daß es mir eine große Ehre ist, gemeinsam mit Herrn Podmanitzki auf der Probe zu stehen.

PODMANITZKI: Gerade über dieses Thema wollte ich sprechen, mein Junge. Wie heißt du?

BEN TIROSCH: Ben Tirosch. Joseph.

PODMANITZKI: Wie lange bist du schon beim Theater?

BEN TIROSCH: Zwei Monate. Nächste Woche werden es genau zwei Monate.

PODMANITZKI: Behandelt man dich anständig?

BEN TIROSCH: Ich bin der glücklichste Mensch auf Erden, Herr Podmanitzki. Es war immer mein Traum, neben einem Schauspieler Ihres Kalibers auftreten zu dürfen.

PODMANITZKI: Nimm Platz, mein Junge. Mach's dir bequem.

BEN TIROSCH: Danke vielmals. Schon als Kind war ich ein Podmanitzki-Verehrer. Sie können meine Mutter fragen, wenn Sie wollen. Und jetzt spielen wir wirklich und wahrhaftig im selben Stück. Auf jeder Probe habe ich Lampenfieber.

PODMANITZKI: Das ist begreiflich, mein Junge.

BEN TIROSCH: Ich heiße Ben Tirosch. Joseph Ben Tirosch.

PODMANITZKI: Wir verstehen einander. Und jetzt sprechen wir ein wenig über die Hinrichtungs-Szene. Du spielst meinen Henker, wenn ich nicht irre.

BEN TIROSCH: Ja. Es ist mir eine Ehre.

PODMANITZKI: Sei so gut und unterbrich mich nicht. Mir gefällt diese Szene. Auch wie du dich bei den Proben anstellst, gefällt mir. Das heißt: in schauspielerischer Hinsicht. Bis zu dem Augenblick, wo du den Mund aufmachst. Was hast du mir da zu sagen? Ich meine: Wenn ich das Gerüst ersteige. Was sagst du mir da?

BEN TIROSCH: Wer, ich?

PODMANITZKI: Ja. Laß hören.

BEN TIROSCH: Meinen Text?

PODMANITZKI: Natürlich deinen Text. Was sagst du?

BEN TIROSCH: »Mach schneller«, sage ich. »Nicht so langsam!«

PODMANITZKI: Und weiter?

BEN TIROSCH: »Oder soll ich dir Beine machen, du dreckiger Lump?!«

PODMANITZKI: Das sagst du mir?

BEN TIROSCH: Ja. Es ist mein Text.

PODMANITZKI: »Dreckiger Lump?«

BEN TIROSCH: Es ist mein Text.

PODMANITZKI: Wie alt bist du, mein Junge?

BEN TIROSCH: Zweiundzwanzig. Im Juli werde ich zweiundzwanzig.

PODMANITZKI: Zweiundzwanzig! Und du schämst dich nicht, mit einem der ältesten Schauspieler dieses Landes so zu sprechen? Mit einem in Ehren ergrauten Veteranen, der seit achtunddreißig Jahren zu den führenden Kräften der hebräischen Bühne gehört?

BEN TIROSCH: Aber wenn das doch mein Text ist, Herr Podmanitzki... Es steht wörtlich so in meinem Rollenbuch, sehen Sie... Und hier steht auch, daß ich Herrn Podmanitzki... kräftig... also treten muß... also in den Hintern...

PODMANITZKI: Dazu kommen wir später.

BEN TIROSCH: Die Rolle schreibt es so vor.

PODMANITZKI: Du hast nicht nur eine Rolle, du hast eine Pflicht! Deine Pflicht ist es zu lernen. Und Respekt zu haben vor den Pionieren des israelischen Theaters. Wie war doch gleich dein Name?

BEN TIROSCH: Tirosch. Ben Joseph.

PODMANITZKI: Ausgezeichnet. Und merk dir: Wenn du es zu etwas bringen willst, mußt du immer daran denken, daß Jarden Podmanitzki für das Publikum ein Begriff ist.

BEN TIROSCH: Auch für mich, Herr Podmanitzki! Glauben Sie mir, auch für mich!

PODMANITZKI: Warum macht es dich dann so glücklich, mich vor aller Augen zu beschimpfen und zu mißhandeln?

BEN TIROSCH: Das macht mich glücklich? Wieso macht mich das glücklich? Außer Sie meinen die Erklärung, die mir unser Regisseur gegeben hat... aus Frankreich... Herr Monsieur Boulanger. Er hat mir also gesagt, daß es mir eine innere Genugtuung bereitet, Sie zu hassen. Natürlich nur im Stück. Weil Sie der Anführer der Rebellen sind, die wir gefangen haben.

PODMANITZKI: Für einen französischen Goj bin ich vielleicht der Anführer der Rebellen. Für dich, mein Junge, bin ich Jarden Podmanitzki. Wie darfst du es wagen, mich in den Hintern zu treten?

BEN TIROSCH: Ich dachte... die Rolle...

PODMANITZKI: Rolle, Schmolle. Wenn Honigmann den Henker gespielt hätte... er ist ein miserabler Schauspieler, gewiß, und trotzdem steht er seit dreißig Jahren auf der Bühne. Aber du, du kleine Wanze aus dem Seminar, was sage ich, aus dem Kindergarten - du hast die Stirn, einem Mann, der dein Vater sein könnte, du hast die Frechheit, deinen Vater auf offener Szene zu verhöhnen und in den Dreck zu zerren?! Weißt du, was ich in meinem Leben schon alles gespielt habe? Helden! Propheten! Könige! Schön, diesmal bin ich nur ein Rebellenführer. Einverstanden. Aber berechtigt dich das, mir öffentlich ins Gesicht zu spucken?

BEN TIROSCH: Bou... Bou... Boulanger...

PODMANITZKI: Sprich mir nicht von diesem Kretin! Er hat keine Ahnung vom Theater. Außerdem geht er nachher wieder nach Paris zurück, und ich bleibe hier. Also.

BEN TIROSCH: Natürlich. Sie haben ganz recht, Herr Podmanitzki. Bitte bedenken Sie, daß ich erst seit kurzer Zeit beim Theater bin.

PODMANITZKI: Deshalb mache ich mir ja die Mühe, so ausführlich mit dir zu sprechen, mein lieber - mein lieber -

BEN TIROSCH: Ben Joseph. Tirosch.

PODMANITZKI: Eben. Und jetzt hör mir gut zu, mein Junge. Von morgen an wird Jarden Podmanitzki auf der Bühne nicht mehr vor dir niederknien. Hast du verstanden?

BEN TIROSCH: Wie sollte ich nicht, Herr Podmanitzki! Es wäre ja wirklich zum Lachen, wenn Sie, ein Podmanitzki, vor mir, einem Anfänger -

PODMANITZKI: Du hast es erfaßt. Ich werde also hoch aufgerichtet auf den Stufen stehen, die zum Galgen hinaufführen, und du wendest dich an mich und sagst - nun, was sagst du?

BEN TIROSCH: Ich sage: »Mach schnell!«

PODMANITZKI: Verrückt geworden? So kannst du vielleicht mit deinesgleichen reden, mit den Statisten, aber nicht mit mir!

BEN TIROSCH: Entschuldigen Sie. Vielleicht sollte ich sagen: »Komm herauf!«

PODMANITZKI: Kommen Sie herauf, wenn ich bitten darf.

BEN TIROSCH: Jawohl. Kommen Sie herauf.

PODMANITZKI: Wenn ich bitten darf!

BEN TIROSCH: Das auch?

PODMANITZKI: Selbstverständlich. Ist es dir zuviel?

BEN TIROSCH: Nein, keine Spur. Ich dachte nur...

PODMANITZKI: Denk nicht und sprich deinen Text. Den ganzen.

BEN TIROSCH: Kommen Sie herauf, wenn ich bitten darf.

PODMANITZKI: Ich habe auch einen Namen, oder?

BEN TIROSCH: Kommen Sie herauf, wenn ich bitten darf, Herr Podmanitzki.

PODMANITZKI: Meinen Namen im Stück, du Idiot!

BEN TIROSCH: Ach ja, Verzeihung. Kommen Sie herauf, wenn ich bitten darf, Herr Gonzales!

PODMANITZKI: Was heißt da Gonzales? Federico Manuel Pedro Gonzales y Zamorra!

BEN TIROSCH: Augenblick, ich schreib's mir auf.

PODMANITZKI: Schreib nur, mein Junge, schreib.

BEN TIROSCH: Vielleicht... wie wäre das... vielleicht könnte ich vor Herrn Podmanitzki auf die Knie fallen?

PODMANITZKI: Eine hochinteressante Idee. Du hast Theaterinstinkt, mein Junge. Recht begabt, was du da vorschlägst. Und es ändert nicht das geringste an deiner Rolle. Das Unvermeidliche nimmt seinen Lauf, nicht wahr, du bist der Henker, du bist sozusagen verpflichtet, den Rebellenführer zu hassen - aber wenn du mir dann Aug in Aug gegenüberstehst, ist es vorbei. Du gerätst in den magischen Bannstrahl meiner Bühnenpersönlichkeit, du beginnst zu schrumpfen, du wirst klein und immer kleiner, du stehst als lächerlicher Zwerg vor einem Giganten des zeitgenössischen Theaters.

BEN TIROSCH: Ja, Herr Podmanitzki! Ja! Ja!

PODMANITZKI: Und dann trete ich dich in den Hintern und sage: »Tu deine Pflicht, du räudiger Hund!«

BEN TIROSCH: Herrlich! Schade, daß ich nicht von selbst - aber da fällt mir ein: Was wird Monsieur Boulanger dazu sagen?

PODMANITZKI: Er versteht kein Hebräisch.

BEN TIROSCH: Richtig, das hatte ich ganz vergessen. Und dann... nachher... darf ich Herrn Podmanitzki dann aufhängen?

PODMANITZKI: Kümmer dich nicht. Ich häng mich selber auf.

BEN TIROSCH: Großartig. Also von der morgigen Probe angefangen!

PODMANITZKI: Ja. Aber du brauchst niemandem davon zu erzählen. Es ist ein Geheimnis zwischen uns beiden. Zwischen mir, Jarden Podmanitzki, und dir - na - wie -

BEN TIROSCH: Tirosch Joseph. Ben.

PODMANITZKI : Auch zu Boulanger kein Wort.

BEN TIROSCH: Natürlich nicht.

PODMANITZKI: Kann ich mich auf dich verlassen?

BEN TIROSCH: Ich schwöre!

PODMANITZKI: Gut. Du hast eine große Zukunft vor dir, mein Junge.

BEN TIROSCH: Es wird immer mein höchstes Ziel sein, Ihr Vertrauen zu rechtfertigen, Herr Podmanitzki!

PODMANITZKI: Na schön. Also bis morgen, auf der Probe.

BEN TIROSCH: Ja, Herr Podmanitzki. Ich danke Ihnen, Herr Podmanitzki. Ich danke Ihnen für alles! (Er geht ab, taumelnd vor Glück und Seligkeit. Am nächsten Tag wird er auf Anordnung Boulangers von der Probe gewiesen und aus dem Vertrag entlassen, weil er seine Rolle eigenmächtig geändert hat.)