Ein Fest für Auge und Ohr

 

»Haben Sie die Göttliche gehört?«

»Ja. Vor Jahren in einem Konzert. Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage: Es war ein Fest für Auge und Ohr. Eine größere Sängerin als Maria Callas gibt es heute nicht. Ich ziehe meinen Hut vor Jehuda Sulzbaum. Sein in Athen lebender Schwager kennt die Mutter von Maria Callas, und so ist die Sache zustande gekommen. Kein schlechter Coup für einen kleinen israelischen Impresario, was? Auch daß er unser größtes Theater gemietet und die Spitzen des öffentlichen Lebens zu diesem Galaabend eingeladen hat, war sehr geschickt. Die ganze Veranstaltung hatte Klasse. Sie werden mich vielleicht für einen Snob halten - aber ich war schon tief beeindruckt, als Frau Callas hinter dem Vorhang erschien.«

»Hinter? Wieso hinter?«

»Ein kleines Mißverständnis. Der Beginn des Konzerts war auf halb neun festgesetzt und verzögerte sich ein wenig. Das Publikum wurde ungeduldig und applaudierte.«

»Was für schlechte Manieren unsere Leute haben!«

»Wie wahr. Ich muß Ihnen allerdings gestehen, daß auch ich so gegen zehn Uhr zu klatschen begann. Man kann ja nicht anderthalb Stunden im Dunkeln sitzen und warten.«

»Sagten Sie nicht, daß sie dann doch noch erschienen ist?«

»Gewiß. Jemand hob irrtümlich den Vorhang, und man sah die Diva, wie sie den Flügel zur Mitte der Bühne schob.«

»Die Callas selbst?«

»Sie ist schlank, man könnte sie beinahe mager nennen, aber sie muß sehr kräftig sein. Jedenfalls schien es ihr keine Mühe zu machen, den schweren Flügel vor sich her zu schieben. Sie trug ein wunderbares dunkles Abendkleid. Ich werde den Anblick nie vergessen: diese zarte, filigrane Gestalt - und dazu als Kontrast das wuchtige, plumpe Instrument. Schade, daß der Vorhang so schnell wieder zugezogen wurde.« »Ich verstehe nicht ganz. Warum mußte die Callas persönlich den Flügel schieben? Gab es denn keine Bühnenarbeiter?«

»Natürlich gab es welche.«

»Wo?«

»An der Kassa. Es war mir sofort aufgefallen, daß hinter dem Billettschalter nicht der Kassier saß, sondern zwei stämmige Burschen in Regenmänteln. Offenbar hatte Sulzbaum die Bühnenarbeiter nicht im voraus bezahlt, und sie wollten die Einnahmen sicherstellen.«

»Hat Sulzbaum nicht protestiert?«

»Konnte er nicht. Er war an einen Stuhl gefesselt. Mit einem Knebel im Mund.«

»Um Himmels willen! Und da wurde nichts unternommen?«

»Es wurde sogar sehr viel unternommen. Die Musiker suchten überall nach Sulzbaum, weil seine Schecks geplatzt waren und weil die Orchestervertretung, unter Vorsitz des Triangelspielers, darauf bestand, die Gagen vorher bar ausbezahlt zu bekommen. Vor Beginn des Konzerts. Falls das Konzert auch wirklich stattfände.«

»Aber die Einnahmen waren ja schon gepfändet?«

»Die reichten gerade für das Bühnenpersonal.«

»War das Haus denn nicht ausverkauft?«

»Und wie! Es gibt ja nur eine Callas auf dieser Welt! Andererseits hatte Sulzbaum, ein Mann von eher sanguinischem Temperament, 105 Musiker engagiert und hätte mit einem komplett ausverkauften Haus nur die Kosten des Orchesters decken können. Aber er bewies großen Mut. Als die Musiker ihn endlich aufgespürt hatten und den Knebel aus seinem Mund entfernten, schrie er sofort mit aller Kraft >Gesindel! Piraten !<. Das Publikum nahm an, daß diese Rufe zu einer Opernszene gehörten, die auf der Bühne geprobt wurde. Um diese Zeit war es bereits halb elf, und im Zuschauerraum herrschte große Aufregung. Endlich zeigte sich die Callas.«

»Vor dem Vorhang?«

»Diesmal vor dem Vorhang. Wir klatschten wie verrückt, aber das schien sie nicht zu kümmern. Sie kam von rechts, mit einer brennenden Kerze in der Hand, und schlich gebückt die Rampe entlang, um nach den Mikrophonkabeln zu suchen. Da der Toningenieur und die Elektriker passive Resistenz machten - wegen der Bezahlung. Sie wissen ja -, versuchte die Callas selbst, das Kabelsystem in Betrieb zu setzen.«

»Unglaublich.«

»Das kann man wohl sagen. Schließlich ist sie eine Sängerin und kein Elektriker. Sie hatte sich eine Greifzange verschafft und versuchte die Nägel zu entfernen, mit denen die Drähte fixiert waren. Sonst hätte sie das Mikrophon nicht bewegen können. Nach einer Weile erbarmte sich der Toningenieur und schleppte sie von der Bühne. Nach und nach füllte sich der Orchesterraum mit Musikern.«

»Die spät, aber doch noch ihr Geld bekommen haben.«

»Nein, nur Wechsel. Deshalb begannen sie auch nicht sofort zu spielen. Sie hatten den Triangelspieler in die Privatwohnung eines der Bankdirektoren geschickt, der in der Nähe wohnte, und warteten auf Nachricht, ob die Wechsel gut wären. Das dauerte weitere vierzig Minuten.«

»Man muß sich wundern, daß die Zuschauer das alles ruhig hinnahmen.«

»Manche randalierten. Stühle wurden zertrümmert und auf die Bühne geworfen. Eine Schande, sage ich Ihnen. Ich für meine Person wäre am liebsten in den Boden versunken, so sehr schämte ich mich über mein Benehmen. Was wird Maria Callas von uns denken, fragte ich mich. Zum Glück ist sie genau das, was man einen >good sport< nennt. Um Mitternacht kam sie vor den Vorhang und gab ein paar Nummern zum besten.«

»Arien?«

»Nein, akrobatische Nummern. Gesang kam um diese Zeit noch nicht in Betracht. Sie erinnern sich, daß die Lautsprecheranlage bis zur Rückkehr des Triangelspielers abgeschaltet war. Trotzdem bedachte das Publikum die Callas mit stürmischem Applaus, besonders nach einem gelungenen Hechtsprung, bei dem sie die Kerze in der Hand behielt.«

»Sie ist eine sehr vielseitige Künstlerin, die Callas.«

»Ja, das ist sie. Rätselhafterweise gingen mitten in ihrer Darbietung die Lichter an. Sulzbaum hatte seine Fesseln durchgebissen und war entkommen. Eine aufregende Jagd setzte ein. Die Musiker wußten, daß er sich irgendwo im Gebäude versteckt halten mußte, weil alle Ausgänge bewacht waren. Sie durchkämmten sogar den Zuschauerraum - vielleicht, so dachten sie, hatte sich Sulzbaum unter das Publikum gemischt und spielte harmlos, oder vielleicht verbarg er sich unter einem Sitz. Endlich, wenige Minuten vor eins, während ihn die Streicher im Keller suchten, fand ihn der Dirigent im Schrank seiner Garderobe. Um wenigstens sein eigenes Honorar aus Sulzbaum herauszupressen, begann er ihn zu martern. Sulzbaum blieb standhaft. Erst als der Dirigent ihm eine brennende Zigarre ins Nasenloch schob, brach er mit einem lauten Schrei zusammen. Der Schrei war so laut, daß das gesamte Orchester herbeistürzte, und die Verhandlungen begannen aufs neue.«

»Welche Auskunft hatte der Triangelspieler vom Bankdirektor bekommen?«

»Daß die Wechsel nicht gut waren. Deshalb wichen ja die Orchestermitglieder nicht aus der Garderobe des Dirigenten. Sie waren drauf und dran, Sulzbaum zu lynchen, als einer der Bläser den Betriebsrat darauf aufmerksam machte, daß man jetzt, um zwei Uhr früh, doch auch ein wenig an das Publikum denken müßte, schließlich hatten die Leute für ihre Eintrittskarten teures Geld bezahlt. Nach längeren Debatten gab der Betriebsrat nach und gestattete dem Orchester, als Beweis seines guten Willens, eine Ouvertüre zu spielen. Es wurde vereinbart, daß sie weiterspielen würden, wenn Sulzbaum 5000 Shekel in bar herbeischaffen könnte.«

»Und die Callas?«

»Sie befand sich währenddessen im Mittelgang und unterhielt das Publikum mit Kartenkunststücken. Wie schon gesagt: eine vielseitige Künstlerin. Jemand fragte sie, wie es ihr in unserem Land gefiele, aber man konnte ihre Antwort nicht mehr hören, weil gerade in diesem Augenblick die Lautsprecheranlage zu funktionieren begann und den lärmenden Streit zwischen Sulzbaum und dem Betriebsrat übertrug. Besonders störend wirkte die kreischende Stimme eines Bühnenarbeiters, der unermüdlich wiederholte: >Entweder sofort 150 Shekel in die Hand, oder ich lasse ihr die Dekoration auf den Kopf fallen!< Man sollte es nicht für möglich halten.«

»Warum hat die Polizei nicht interveniert?«

»Was hat die Polizei mit den Lohnverhandlungen einer organisierten Gewerkschaft zu tun? Der diensthabende Inspektor war bereits um halb vier nach Hause gegangen - was ihm übrigens leid tun kann, denn um vier Uhr erklärte sich die Callas bereit, den vom Orchester verlangten Garantiebetrag vorzustrecken, wenn nur das Konzert endlich anfinge. Tatsächlich nahmen die Musiker daraufhin ihre Plätze ein, der Vorhang ging hoch, und die Callas betrat die Bühne.«

»Wie hat sie gesungen?«

»Schön. Sehr schön. Obwohl man zeitweilig den Eindruck hatte, daß sie nicht in ihrer besten Form war. Man kennt ja diese Primadonnen. Ein launenhaftes Völkchen.«