Anhaltende Ovationen

 

Das große historische Drama endet mit der Schlacht von Chateaubriand und mit dem Tod König Ludwigs XX. Noch während der Vorhang fällt, beginnt die Schlacht zwischen dem Publikum und dem Theater. Der vorerst eher zurückhaltende Applaus kommt von jenen Premierenbesuchern, die noch nicht sicher sind, ob's ihnen gefallen hat oder nicht. Da und dort bemühen sich isolierte Zuschauergruppen schon jetzt um rhythmischen Beifall, finden jedoch keine Unterstützung bei den anderen, die eine eigene Technik entwickelt haben, unhörbar zu applaudieren: Sie vollführen zwar die Gebärde des Händeklatschens, bremsen aber ihre Handflächen kurz vor dem Aufeinanderschlagen in einer Distanz von 0,5mm.

Die Schlacht wird erst entschieden, wenn die Lichter im Haus ausgegangen sind und die Schauspieler sich hinter dem Vorhang zur Entgegennahme des Beifalls gruppieren. Das Arrangement besorgt Tuwja Seelig, der in Stuttgart zwei Jahre lang »Verbeugungstechnik« und »Publikumsbehandlung« studiert hat.

Jetzt geht der Vorhang hoch. Die Janitscharen stehen in einer Reihe auf der Bühne, machen drei Schritte vorwärts und senken ihre bärtigen Häupter. Der Applaus tröpfelt. Vorhang zu. Vorhang auf: Es erscheint der Revolutionär Danton Etienne Robespierre, der den König geköpft hat. Der Applaus rieselt. Als nächstes kommt Mme. Zaza Recamier, die Mätresse des Königs. Der Applaus scheint sich zu verstärken. Eine Handbewegung Seeligs bewirkt den Abgang der Janitscharen und den Auftritt des Hofnarren Philipon. Noch stärkerer Applaus. Jetzt läuft es endlich, wie es soll: König Ludwig XX. und die heilige Bernadette werden bereits mit Applaus empfangen, Seelig zählt bis zehn, gibt ihnen das Zeichen zum Abgang und winkt den Todesengel herbei, einen erklärten Liebling des Publikums. Er hat die Bühne ganz allein für sich. Donnernder

Applaus. Seelig zählt bis fünfzehn. Es scheint ein Erfolg zu werden.

Die zweite Runde beginnt. Seelig ändert seine Strategie und wirft das Ensemble paarweise in die Beifallsschlacht. Zuerst Philipon mit Danton E. Robespierre. Starker Applaus. Dann Ludwig XX. mit Mme. Recamier. Starker Applaus. Kein stärkerer. Seelig sorgt für raschen Nachschub: die heilige Bernadette. Das Trio verbeugt sich, der Applaus verstärkt sich, ist aber noch immer nicht stark genug. Da kann nur der Todesengel helfen. Und er hilft tatsächlich. In das laut anschwellende Händeklatschen mischen sich Hochrufe. Seelig zählt bis zwanzig, der Vorhang fällt, die nächste Runde beginnt.

Der dritte Vorhang ist der entscheidende. Hier bedarf es eines völlig neuen Arrangements. Zuerst, nebeneinander aufgereiht: der König, der Hofnarr und D.E. Robespierre. Es wirkt! Der Applaus nimmt rhythmische Formen an. Rascher Abgang der Männer, langsamer Auftritt der hl. Bernadette. Sie verbeugt sich zum erstenmal allein, erzielt jedoch nur mäßige Applaussteigerung. Jetzt eine waghalsige Kombination: Hofnarr und Ludwig XX. Kein sehr erfolgreiches Herrendoppel, leichtes Abschwellen des Beifalls. Dem Damendoppel Bernadette-Recamier ergeht es nicht viel besser, beim Auftritt Robespierres mit der Flagge läßt der Applaus noch weiter nach. Höchste Gefahr! Rotes Licht! Seelig setzt unverzüglich den Todesengel ein. Der Applaus, obwohl anschwellend, bleibt unter der Donnergrenze. Vor übertriebener Verwendung des Todesengels wird gewarnt.

Der Vorhang fällt und geht sofort wieder hoch, Wartefristen wären jetzt zu riskant, der Applaus könnte verebben. Philipon mit Robespierre, schwache Hochrufe aus den vorderen Reihen, ein Teil der Zuschauer ist bereits auf dem Weg zu den Garderoben. Seelig legt ein taktisches Zwischenspiel ein: Hofnarr und Revolutionär umarmen einander. Vereinzelte Bravorufe. Philipon nimmt seine Narrenkappe ab und vollführt ein paar komische Gliederverrenkungen, kann aber den Applaus nicht wesentlich anheizen. Als Retter in der Not erscheint neuerdings der Todesengel, diesmal mit Mme. Recamier, der er galant die Hand küßt. Kein merkbarer Effekt. Jetzt mobilisiert Seelig die letzte Reserve: den Regisseur inmitten des gesamten Ensembles. Neue Applauswelle, die bei der Umarmung zwischen Regisseur und Todesengel noch weiter ansteigt. Sie erreicht ihren Höhepunkt, als der Komponist die Bühne betritt und von zahlreichen Zuschauern für den toten Autor gehalten wird. Da er sich im Rampenlicht sowieso nicht zurechtfinden kann, versucht er sofort wieder abzugehen. Eine energische Handbewegung Seeligs zwingt ihn zum Bleiben. Nach ein paar Sekunden hat er endgültig genug, macht ein paar stolpernde Schritte gegen den Scheinwerferkegel, droht über die Rampe zu fallen und wird vom Regisseur zurückgezogen. Allgemeines Händeschütteln, das stellenweise in Umarmungen übergeht. Der Todesengel küßt irrtümlich die Hand König Ludwigs, was den Hofnarren zu einem Luftsprung und die noch verbliebenen Zuschauer zu donnernden Hochrufen veranlaßt.

Seelig läßt den Vorhang nur zur Hälfte fallen und sofort wieder hochgehen. Fünfte Runde. Rhythmischer Wechsel in den Paarungen soll rhythmischen Applaus anregen: Hofnarr - Recamier, Regisseur - Todesengel, Bernadette - Robespierre, Komponist - König. Der Applaus wird rhythmisch und zugleich schwächer. Auch die Soli - Todesengel, Regisseur, Recamier, Ludwig XX., Komponist - können nichts mehr daran ändern. Die Zuschauer wollen nach Hause. Als Mme. Recamier erscheint, klatschen nur noch die Verwandten. Es geht unweigerlich zu Ende. Der Vorhang fällt zum letztenmal.

Seelig hat getan, was er konnte. Es war, alles in allem, nicht schlecht.