Die Probenbremse

 

Die Darstellerin der Desdemona ist der Musterfall einer sogenannten »Probenbremse«. Man kann sich darauf verlassen, daß sie noch während der Proben an M. Boulanger die Frage richten wird:

»Sagen Sie, Monsieur Boulanger - soll ich mich während der ersten Vorstellung ausziehen?«

»Warum während der ersten Vorstellung, Madame?«

»Glauben Sie, daß es zu einer zweiten kommt?«

Die Probenbremse wird alles tun, um den Regisseur in den Wahnsinn zu treiben. Sie wird, während er zwei anderen Schauspielern die entscheidenden Anweisungen erteilt, den handlichen Transistorapparat einschalten, den sie immer mit sich führt, und wird die Bühne mit heißer Jazzmusik erfüllen. Während der Erdrosselungs-Szene wird sie plötzlich aus Othellos muskulösen Armen schlüpfen und sich bei M. Boulanger erkundigen, wann er in sein Dorf nach Frankreich zurückkehrt, und nach der ersten Hauptprobe wird sie der Direktorin mit den Worten: »Entweder der Regisseur oder ich!« ihre Rolle hinwerfen.

Dabei handelt sie weder aus Überheblichkeit noch aus persönlicher Antipathie. Im Gegenteil, sie schätzt M. Boulanger. Aber sie ist nun einmal die offizielle Probenbremse des Ensembles und muß sich dementsprechend verhalten. Jedes Ensemble hat seine Probenbremse, immer nur eine, wenn auch nicht immer dieselbe. Schon auf der ersten Leseprobe meldet sich eines der Ensemblemitglieder freiwillig für diese Rolle -ein kleines Gähnen genügt -, und das Ensemble ist in der Regel einverstanden. Auch für den Regisseur kann es nur gut sein, schon im voraus zu wissen, wer diesmal als Probenbremse fungiert. Wenn M. Boulanger nach einem zweistündigen Vortrag über seine Interpretation des Stücks und seine psychologische Auffassung der einzelnen Rollen sich noch erkundigt, ob jemand vielleicht eine Frage hat, darf er wenigstens sicher sein, wer die folgende Frage stellen wird:

»Ist es zu spät, oder kann ich aus dieser Inszenierung noch ausscheiden, Monsieur Boulanger?«

Scheidet die Probenbremse tatsächlich aus, so wird ihr Platz augenblicklich von einem anderen Ensemblemitglied eingenommen, denn die Kunst verabscheut jegliches Vakuum.

Natürlich sind auch hier bestimmte Regeln zu beachten. Ein Ensemblemitglied, das die Rolle der Probenbremse im Verlauf einer Spielzeit zweimal übernommen hat, muß einem anderen Kollegen Platz machen, da nur sehr wenige Rollen ihrem Darsteller soviel innere Befriedigung verschaffen wie diese.

Den Höhepunkt ihrer Wirkung erreicht die Probenbremse kurz vor der Premiere, wenn es unmöglich ist, noch Ersatz zu finden. Die Direktion greift zu diesem Zeitpunkt nicht mehr ein, sondern verbarrikadiert sich im zweiten Stock. Die Gegenwirkung, die es mit der Probenbremse aufnimmt und sich meistens sogar als stärker erweist, kommt nicht von oben, sondern von seitwärts, kommt vom eigentlichen Beherrscher des ganzen Betriebs: dem Bühnenarbeiter. Wir werden gleich sehen, wie es sich mit dieser höchsten aller Instanzen verhält.