Taktische Probleme

 

Nirgends bestätigt sich Darwins These vom Überleben des Stärkeren so eindrucksvoll wie im Theater, besonders in den Kämpfen, die von den Schauspielern um ihre Rollen ausgefochten werden.

Der Kampf beginnt spätestens zwei Stunden nach der Aufnahme eines neuen Stücks in den Spielplan. Man erkennt den kampfgewohnten Schauspieler daran, daß er das Bühnenmanuskript zur Hand nimmt, die Zeilen seiner Rolle rot unterstreicht und sie mit der unerbittlichen Sturheit eines Beamten im Statistischen Zentralamt auszählt. Wenn die erreichte Zahl ihn nicht befriedigt, setzt er Himmel und Hölle in Bewegung, um die schäbige Rolle loszuwerden. Er kämpft sozusagen seinen eigenen Befreiungskrieg.

Aber die Entscheidungsschlacht wird auf der Bühne ausgefochten. Die Proben dienen nur zur Vorbereitung. Da und dort versucht man einen kleinen Stellungsgewinn zu erzielen, eine Pause abzustoßen, einen Gang an sich zu reißen, von einer Änderung zu profitieren - ohne dem Gegner Einblick zu gewähren, was man damit bezweckt. Das wird er erst am Abend der Premiere zu merken bekommen: Genau in dem atembeklemmenden Augenblick, da der Held des Stücks sich ans Herz greift und zu Boden stürzt, um alle Nuancen eines erschütternden Todeskampfes auszuspielen - genau in dieser Zehntelsekunde schwingt sich die Hauptdarstellerin wie von ungefähr auf das rote Piedestal im Hintergrund und richtet sich dort ihre schwarzen Netzstrümpfe. Jetzt kann der Kerl noch so kunstvoll sterben - es schaut ihm niemand zu. Mit dem richtigen Instinkt fürs Timing kann man sogar einen Monolog ruinieren, und ein diskretes Husten im geeigneten Moment macht das Sensorium der Zuschauer für eine ganze Szene unempfänglich.

Erfahrene Routiniers betreiben mit Vorliebe das sogenannte »Drehscheibenspiel«. Es beruht auf dem optischen Gesetz, demzufolge ein näher zum Hintergrund der Bühne stehender Schauspieler, der seinen Partner anredet, dies mit dem Gesicht zum Publikum tut, während der Angeredete dem Publikum nur seinen Rücken und vielleicht die beginnende Glatze zeigen kann. Das ist der wahre Grund, warum sich die Schauspieler auf der Bühne immerzu nach hinten bewegen, so lange, bis sie an die Kulisse anstoßen oder beim nächsten Schritt den Blicken der Zuschauer entschwinden würden.

Im allgemeinen gelten derlei Kniffe als durchaus zulässig. Und sie sind nicht die einzigen. Kaum ein Abend vergeht, ohne daß die auf ihren Auftritt wartenden Akteure sich fragen, ob Schaul Finkelstein, während Lydia Kischinowskaja ihr großes Geständnis ablegt, auch heute seine Brillengläser putzen wird oder nicht.

Zu den erprobten Ablenkungsmanövern gehört ferner das Zu-rechtstreichen der Frisur oder der Schlag nach einer unvermutet störenden Fliege. Ebenso beliebt ist das »Abdecken« des Partners, für das sich Rollen wie Falstaff oder Gargantua besonders eignen. Valentina Gurewitsch, die stattliche Salondame, soll den Charakterdarsteller Schimon Gurewitsch so lange abgedeckt haben, bis er sich entschloß, sie zu heiraten.

Im Krieg sind alle Mittel erlaubt. Krieg ist die Fortsetzung der Generalprobe mit anderen Mitteln, sagte schon der große Stratege Clausewitz, als er allein auf der Bühne stand und endlich einen Satz zu Ende sprechen konnte.