Kollektive Führung

 

Das folgende Kapitel befaßt sich, wie angekündigt, mit der sozialistischen Spielart der darstellerischen Kunst, genauer: mit den kollektiv geführten Ensembles, wie sie neuerdings bei uns - und nicht nur bei uns - ins Kraut schießen. Die Gagen solcher Ensembles sind für alle Mitglieder mehr oder weniger gleich, manchmal mehr, manchmal weniger, aber dafür hat jedes Mitglied das Recht, bei den täglichen Besprechungen, die dem künstlerischen Auftrag und der ideologischen Tendenz des Kollektivs gelten, ein entscheidendes Wort mitzureden. Für die solcherart entstehende Pleite ist von allen Mitgliedern kein einziges verantwortlich. Das fällt jedoch nicht ins Gewicht, denn das Kollektiv erfreut sich der finanziellen Unterstützung durch die öffentliche Hand, die sich ihrerseits der finanziellen Unterstützung durch die Steuerzahler, also durch das breite Publikum erfreut. Und das breite Publikum, so muß man wohl annehmen, bevorzugt nun eben ein Theater, das keine Spur von Persönlichkeitskult aufweist und dessen Führung von den Ensemblemitgliedern in freier, demokratischer Wahl bestimmt wird. Betrachten wir beispielsweise eine unserer altehrwürdigen Bühnen, die wir »Faust« nennen wollen.

Der Weg dieses Arbeitertheaters war niemals mit Rosen bestreut, aber in der jüngsten Zeit hat sich seine Situation immer mehr verschlimmert. Die letzte Spielzeit schloß mit einem Defizit von nahezu einer Million. Auch in künstlerischer Hinsicht macht sich ein unverkennbarer Abstieg geltend, die Vorstellungen waren im Durchschnitt von maximal 65 Personen besucht, unter denen sich eine größere Anzahl von Freikartenbesitzern befand, und ungefähr zehn Prozent des Publikums besaßen nicht einmal Freikarten, sondern schlüpften kurz vor Beginn der Vorstellung in den Zuschauerraum. Angesichts dieser kritischen Lage richtete der Vorsitzende des »Faust«-Kollektivs einen Appell an jene öffentlichen Institutionen, mit denen das Theater von seiner Gründung an verbunden war, und bat die Staatliche Lotterie um eine einmalige Subvention von 1100000 Shekel, womöglich in 50-Shekel-Noten. Die Staatliche Lotterie empfahl dem »Faust«-Kollektiv, sich an das Fußball-Toto zu wenden, worauf die kollektive Führung, bestehend aus dem Regisseur Sulzberger, seinem Assistenten Kovacs und der Schauspielerin Kischinowskaja, kollektiv zurücktrat.

In weiterer Folge dieses unblutigen Coups demissionierte auch die Geschäftsführung, die das Theater siebzehn Jahre lang verwaltet hatte, was in den Kreisen der Schauspieler lebhafte politische Unruhe hervorrief. Eine außerordentliche Vollversammlung, die stürmischste in der Geschichte des Theaters, beschloß eine durchgreifende Neuregelung des ganzen Betriebs. Sie ließ von der bisherigen Struktur nur den Namen und die Sitze übrig, die mit einem hellbraunen Plastikfabrikat neu bezogen werden sollten. Fortschrittliche Kräfte, die in der Leitung des Theaters bisher nicht adäquat vertreten gewesen waren, ergriffen die Zügel, und nach langen, erschöpfenden Diskussionen wurde der Kassier auf unbezahlten Urlaub geschickt. Damit waren die Weichen für eine glücklichere Zukunft gestellt. Zumindest schien das aus der Erklärung hervorzugehen, die Rafael Sulzberger auf einer Pressekonferenz abgab und mit der er die neue Phase in der Geschichte des Theaters einleitete:

»Es war ein hartes Stück Arbeit«, sagte er. »Aber ohne eine vollständige Reorganisierung hätte unser Theater keine Zukunft gehabt.«

Anschließend stellte er das neue Führungskollektiv des Theaters vor. Es bestand aus Mme. Kischinowskaja, Kovacs und ihm selbst.

Das neue Führungskollektiv, an das man allseits große Hoffnungen knüpfte, begann seine Tätigkeit damit, daß es die nächsten drei Vorstellungen zur Gänze an die Mitglieder der Städtischen Müllabfuhr-Gewerkschaft verkaufte. Eine leichte Aufwärtsbewegung schien sich anzukündigen, aber die folgende Premiere setzte dem wieder ein Ende. Der Besuch fiel um 40 Prozent, und unter dem Dutzend von Zuschauern unterschied man deutlich vier amtierende Minister samt Gattinnen und Fahrern sowie Prof. Sam L. Sunshine vom Theaterwissenschaftlichen Institut der University of Southern Alabama. Binnen kurzem überschritt das Defizit die Millionengrenze, und zwar um 2750000 Shekel.

Das Theater wurde einer amerikanischen Kultur-Vereinigung zum Kauf angeboten, mit der Auflage, daß sie das Haus für jeden beliebigen Zweck verwenden könnte. Die KulturVereinigung zog sich durch eine einmalige Spende in der Höhe von 800000 Shekel aus der Schlinge, womit das Fiasko der neuen Leitung endgültig besiegelt war. Eine abermals einberufene Vollversammlung übte schärfste Kritik an der Mißwirtschaft, die während der letzten 34 Jahre geherrscht hatte, und nötigte die neue Leitung zum diesmal unwiderruflichen Rücktritt.

Das »Faust«-Theater wurde für die Dauer eines Monats geschlossen, um Zeit für die nötige Reorganisation zu gewinnen. Die Veteranen des Kollektivs übernahmen die Leitung, engagierte hochklassige Regisseure aus dem Ausland, kauften Stücke ein, die sie nicht verstanden, verpflichteten einen energischen Verwaltungsdirektor und verlangten vom Wohnungsbauministerium eine Hypothek auf den Pensionsfonds in der Höhe von 2 Millionen, um dem Kollektiv - wie es selbst sagte - »Zeit zur Konsolidierung und zur Ausarbeitung eines fortschrittlichen Programms zu ermöglichen, das sich über viele Wochen erstrecken würde«. Das Wohnungsbauministerium erklärte sich bereit, dem Kollektiv ein Zwanzigstel der geforderten Summe zur Verfügung zu stellen, unter der Bedingung, daß ein Beratendes Komitee, bestehend aus führenden Persönlichkeiten der Landwirtschaft, den Reorganisationsprozeß überwache. Das Kollektiv ging auf diese Bedingung ein, nahm den Vorschuß entgegen und gab auf einer Pressekonferenz die Wiedereröffnung des Theaters bekannt.

»Neuer Wein in alten Schläuchen«, jubelte Rafael Sulzberger in seiner Begrüßungsansprache. »Wir haben das Gefühl, als ob wir neu geboren wären...«

Sodann verlas er die Namen der neuen Kollektivführung, außer dem seinen auch noch den des Assistenten Kovacs und den eines der ältesten, gewiegtesten Mitglieder des Ensembles, Mme. Kischinowskaja. Zum Schluß bat er das Publikum, dem Theater trotz dieser - zugegebenermaßen: umwälzenden -Neuerung Sympathie und Zuspruch zu bewahren, aber seine Bitte stieß auf taube Ohren. Bei der Wiedereröffnung des Hauses (mit einem Stück des seltsamen Titels »Wegen Renovierung geschlossen«) wurden insgesamt 15 Zuschauer gezählt, und nicht einmal die genaue Höhe der in jedem Fall kärglichen Einnahmen ließ sich feststellen, weil der Kassier nach der Vorstellung verschwunden war. Ein verzweifeltes Bittgesuch ging telegraphisch an die Zentrale des »United Jewish Appeal« nach New York. Noch bevor der ablehnende Bescheid eintraf, erfolgte die längst fällige Machtergreifung durch eine Gruppe jüngerer Mitglieder des Ensembles, die sich heimlich organisiert hatte und das von der Kollektivführung einberufene Meeting nach einem brutalen Auftritt sprengte.

Die Jungtürken begannen sofort mit energischen Reorganisationsmaßnahmen. Sie setzten einen neuen Intendanten ein und gewährten ihm diktatorische Vollmacht bis zum Ende des Monats. Das war die Zeit der echten Wiedergeburt. Mit gewaltigem, fast übermenschlich zu nennendem Einsatz wurde der gesamte Fundus des Theaters verkauft und der Erlös zur Errichtung zweier Drehbühnen verwendet, die sich ihrerseits um vier Zuschauerräume drehten und insgesamt sechs SimultanSpielflächen ermöglichten. Nun konnte kein Zweifel mehr bestehen, daß die Reorganisation endlich Früchte tragen würde.

»Wir haben ein neues Blatt in der Geschichte unseres Kollektivs aufgeschlagen«, gab Rafael Sulzberger auf der Pressekonferenz bekannt. »Gestatten Sie mir, meine Damen und Herren, Sie mit dem neuen Führungsgremium bekanntzumachen...«

In diesem Augenblick ereignete sich das Erdbeben. Niemand weiß wieso, niemand könnte bestätigen oder dementieren, daß hier ein Eingriff überirdischen Zorns in die inneren Verhältnisse des Theaters erfolgt war. Jedenfalls brach das »Faust«-Theater bis auf die Grundfesten zusammen. Übrig blieb ein gähnendes Loch, über dem eine dicke Staubwolke schwebte.

Nach einer Weile sah man die schmutzverkrustete Gestalt Rafael Sulzbergers aus dem Krater hervorkriechen, gefolgt von seinem Assistenten Kovacs und Mme. Kischinowskaja. Sie atmeten schwer, verloren jedoch keine Zeit und machten sich sofort an die Reorganisation des Kollektivs.