Der Zug nach St. Petersburg

 

Es war ein verhängnisvoller Fehler, ein Gespräch mit Jarden Podmanitzki zu beginnen. Damit hatte sich im Schatten des Schafotts eine Beziehung angebahnt, von der ich bis ans Ende meines Lebens oder mindestens bis zum Ende dieses Buchs nicht mehr loskommen sollte.

Schon wenige Tage später, an einem sonnigen Vormittag, erfolgte auf der Dizengoff-Straße mein nächstes Zusammentreffen mit dem namhaften Menschendarsteller; er selbst führte es herbei:

»Wir müssen unser interessantes Gespräch von neulich unbedingt fortsetzen«, sagte er und packte mich am Arm. »Habe ich Sie im >Segel am Horizont< wirklich so sehr beeindruckt?«

»Was für eine Frage, Herr Podmanitzki! Sie waren großartig.«

»Wie meinen Sie das?«

Da ich das Stück nicht gesehen hatte, beschränkte ich mich auf eine knappe Erläuterung:

»Ich meine, daß Sie großartig waren.«

»Hatten Sie einen guten Platz? Haben Sie gut gehört?«

»Jedes einzelne Wort. Bei Ihrer Sprechtechnik, Herr Podmanitzki, versteht sich das von selbst.«

»Kommen Sie. Setzen wir uns. Trinken Sie etwas.«

Ohne meine Zustimmung abzuwarten, zerrte er mich in das Kaffeehaus, vor dem wir standen. Ich versuchte ihm begreiflich zu machen, daß ich eine Verabredung mit einem gewissen Salzmann hätte, was sogar den Tatsachen entsprach - aber Podmanitzki fegte meinen Widerstand mit einer grandiosen Gebärde beiseite.

»Salzmann kann warten«, entschied er.

Meine Verabredung mit Salzmann war auf 12 Uhr mittag festgesetzt. Die Uhr zeigte drei Minuten vor zwölf. Podmanitzki bestellte russischen Tee und kam auf einige Probleme zu sprechen, die gerade im Mittelpunkt des Weltinteresses standen - wie etwa sein kommendes Auftreten am Freitag abend vor einem reinen Gewerkschaftspublikum.

»Es ist wirklich ein Jammer, daß ich jetzt gehen muß.« Ich erhob mich. »Meine Verabredung ist leider sehr wichtig.«

»Einen Augenblick.« Jarden Podmanitzki umklammerte meine Hüften. »Auch ich habe eine wichtige Verabredung und leiste Ihnen trotzdem Gesellschaft. Aber sprechen wir nicht länger von mir. Sprechen wir von Ihnen. Haben Sie mich im >Verblühten Nußbaum< gesehen?«

»Noch nicht«, sagte ich. »Nächste Woche hole ich es bestimmt nach. Und jetzt muß ich gehen. Salzmann verreist heute nachmittag und wartet auf mich.«

»Dabei ist die Rolle, die ich im >Verblühten Nußbaum< spiele, gar nicht so groß. Aber ich, Jarden Podmanitzki, mache selbst aus dem kleinsten Auftritt eine Hauptrolle. Und was für eine. Warten Sie, ich lese sie Ihnen vor.«

Damit zog er aus seiner Brusttasche ein mehrmals zusammengefaltetes Papier.

»Vielleicht ein andres Mal«, sagte ich. »Salzmann wartet, und -«

»Dritter Akt, zweite Szene. Ein gutgekleideter Herr tritt von rechts auf. Entschuldigen Sie, Madame, wann geht der Zug nach St. Petersburg? Katharina Nikolajewna: Morgen vormittag, Monsieur. Der gutgekleidete Herr, sanft: Wie schade, Madame. Wie schade. Geht links ab. Nun?«

»Nun? Sie wollten mir doch Ihre Rolle vorlesen?«

»Das ist sie. Wie gefällt sie Ihnen? Aufregend, was?«

»Hm. Klingt nicht schlecht. Man wird ja sehen. Aber jetzt müssen Sie mich wirklich entschuldigen. Ich -«

»Mein ganzer Text im >Verblühten Nußbaum< besteht aus diesen wenigen Worten. Erst durch mich, Jarden Podmanitzki, wird aus diesen wenigen Worten eine Rolle. Stanislawski sagte mir einmal: >Merken Sie sich, Podmanitzki - es gibt keine schlechten Rollen. Es gibt nur schlechte Autoren .< Natürlich hätte ich in diesem Stück auch die Hauptrolle bekommen können. Aber das wahre schauspielerische Genie, zum Beispiel meines, beweist sich am besten in Nebenrollen.«

»Sehr richtig. Und jetzt muß ich zu Salzmann.«

»Sicherlich interessiert es Sie, wie ich die Rolle auffasse. Stanislawski hat mich gelehrt, daß man zuerst den Hintergrund jeder Rolle analysieren muß, ehe man sie überhaupt spielen kann. >Es genügt nicht, lieber Freund< - so sagte er mir -, >es genügt nicht, den Text auswendig zu lernen. Man muß den Charakter des ganzen Menschen kennen, den man darstellen will. Seine Träume, seine Enttäuschungen, seine Mentalität. Man muß sogar wissen, ob er an Schlaflosigkeit leidet oder nicht. Man muß eins werden mit der Rolle, muß mit ihr verschmelzen, lieber Freund. Wenn Sie das nicht können, werden Sie nie ein Schauspieler.< Nach diesen Worten Stanislawskis habe ich mich mein Leben lang gerichtet. Und als ich die Rolle des gutgekleideten Herrn im >Verblühten Nußbaum< übernahm, begann ich sie sofort zu analysieren. Was ist's mit Ihnen, Sie gutgekleideter Herr? fragte ich. Wer sind Sie. Woher kommen Sie? Wohin gehen Sie?«

»Zu Salzmann«, antwortete ich hastig. »Wenn ich ihn jetzt verfehle, muß ich wieder zwei Wochen -«

»Vielleicht ist dieser gutgekleidete Herr innerlich weniger vornehm als außen. Vielleicht ist er robust, vielleicht ein Invalide, vielleicht ein Verbrecher. Langsam, langsam begann er vor meinem geistigen Auge Gestalt anzunehmen. Ich gestehe, daß ich nahezu eine Woche völlig im dunkeln tappte. Aber eines schönen Mittags erwachte ich, setzte mich im Bett auf und hörte mich ausrufen: Er ist klein und gedrungen! Er muß klein und gedrungen sein, es geht gar nicht anders. Er ist mindestens einen Kopf kleiner als ich. Jetzt wollen Sie wahrscheinlich wissen, wie ich das machen werde? Nun, Stanislawski sagte mir einmal: >Nicht jeder Versteller ist ein Schauspieler, aber jeder Schauspieler ist ein Versteller.< Begreifen Sie? Wenn ich will, kann ich auf der Bühne wie ein Zwerg wirken, und wenn ich will, wie eine chinesische Porzellanfigur. Außerdem trägt er einen Zwicker. Das war bei den gutgekleideten Herren jener Zeit üblich. Er ist weitsichtig. Nicht sehr, höchstens zwei oder drei Dioptrien — aber er braucht den Zwicker zum Sehen. Schließlich ist er nicht mehr der Jüngste. Das Haar an seinen Schläfen ist grau meliert. Vielleicht spiele ich auch eine kleine Andeutung von Ischias. Ganz diskret, ich chargiere nicht gern. Und eine Spur Rouge Nr. 3 auf der Nase. Man kennt ja den Typ. Er ist mir unlängst leibhaftig begegnet, im Autobus-Bahnhof. Das ist er! sagte ich mir sofort. Das ist mein gutgekleideter Herr! Und ich folgte ihm in den Bus, ich fuhr mit ihm bis nach Haifa, ich ließ kein Auge von ihm, ich saugte seine Persönlichkeit förmlich in mich auf. Glauben Sie, daß er wohlhabend ist?«

»Wie soll ich das wissen? Ich komme nur selten nach Haifa.«

»Nein, mein Lieber, er ist nicht wohlhabend! Das überrascht Sie, was? Er ist mit irdischen Gütern keineswegs gesegnet, sage ich Ihnen. Seine gutgekleidete Erscheinung ist eitel Schaumschlägerei. Vielleicht bewohnt er eine Zweieinhalbzimmerwohnung, vielleicht hat er sogar einen Ventilator - aber das ist alles. Und er weiß es. Er weiß es!«

»Meister, jetzt muß ich aber -«

»Selbstverständlich. Jetzt müssen Sie wissen, warum er Katharina Nikolajewna nach dem Zug fragt. Ja glauben Sie denn wirklich, daß dieser läppische Zug ihn interessiert? Keine Spur. Er muß ganz einfach etwas fragen, muß mit irgendeinem Menschen in diesem Augenblick über irgend etwas reden, sonst wird er verrückt. Das ist es. Hier reiße ich ihm die Maske vom Gesicht und zeige den Gram, der ihn durchfurcht, das ewige Leiden, die große Einsamkeit. Wie lange erträgt ein Mensch diese Einsamkeit auf einer Bahnstation?«

»Bis zwölf -«

Drei oder vier Monate zuvor hat er sich scheiden lassen. Seither ist er ein gebrochener Mann. Nicht nach außen hin, o nein. Da läßt er sich nichts anmerken. Innerlich. Eine Saite seiner Seele ist gerissen. Er hat dieses Weib angebetet - ach, nicht wegen ihrer Schönheit, so schön war sie gar nicht, aber sie war eine Frau. Eine echte, heißblütige Frau. Und als er an jenem schicksalsschweren Abend aus der Botschaft nach Hause kam... «

»Um Himmels willen, das alles ist in der Rolle drin?«

»... hörte er Stimmen aus dem blauen Salon. Er schlich auf Zehenspitzen näher und sah Margaret in Stanislawskis Armen. Wie vom Schlag gerührt stand er da, unfähig, einen Laut hervorzubringen. Sein ganzes Leben zog blitzartig an ihm vorüber. Sein Heimatdorf, der alte Friedhof, der Schmied, der bucklige Schneider -«

»Salzmann -«

»Salzmann, der Schuster, seine erste Liebe, die Müllerstochter, die Überschwemmung... Dann wandte er sich ab und ging davon, auf Zehenspitzen, wie er gekommen war. Vierzehn Tage später wurde die Ehe geschieden. Der kleine Wladimir blieb bei der Mutter. Er wuchs als komplexbeladenes Kind heran, litt an chronischer Appetitlosigkeit, starrte aus großen blauen Kinderaugen ins Leere - «

»Hören Sie, Podmanitzki -«

»Ich bin fertig. Und Salzmann ist sowieso schon längst weggegangen. Aber jetzt verstehen Sie die Worte, die er an Katharina Nikolajewna richtet. Wie schade, Madame, wie schade. Geht links ab. Wem gilt sein Bedauern? Der Frau? Dem Zug? >Was ist ein Zug?< hat Stanislawski mich einmal gefragt. Nein. In diesem einen Satz liegt sein ganzes Mitleid mit der Kreatur, liegt alles Aufbegehren gegen die Tyrannis des Schicksals. Warten Sie, ich spiele Ihnen die Szene vor...«

Jarden Podmanitzki stand auf, trat ein paar Schritte zurück, zerraufte sein Haar, ließ sich plötzlich zu Boden fallen und begann auf allen vieren zu kriechen. Ich nützte die unverhoffte Chance und sprang mit kühnem Satz über ihn hinweg. Sofort nahm er die Verfolgung auf, aber diesmal half ihm nichts. Im zweiten Stock eines nahegelegenen Hauses fand ich Asyl bei einer barmherzigen Familie.