Hypnotisches Zwischenspiel

 

Zu meiner Verteidigung möchte ich anführen, daß mir der Impresario für diesen Abend zwei Freikarten in einer der letzten Parkettreihen zur Verfügung gestellt hatte. Ursprünglich hätten es wirkliche Ehrenkarten sein sollen, das heißt, daß er mich und meine Frau auf zwei Mittelsitze in einer der ersten Reihen setzen wollte, aber das lehnte ich ab. Vielleicht würde Maestro Max durch das Loch im Vorhang schauen, seinen durchdringenden Blick auf mich heften und sich mit teuflischem Grinsen an seinen Assistenten wenden:

»Der dort vorn in der Mitte, der so verkrampft dasitzt... ja, der mit der Brille... den hol ich mir herauf. Den mach ich zur Schnecke. Hehehe.« Mir mißfällt diese Ausdrucksweise schon in der bloßen Vorstellung. Und während sich der Vorhang unter atemloser Stille des Publikums langsam hob, fühlte ich ebenso langsam ein deutliches Unbehagen in mir aufsteigen. Auch des Publikums bemächtigte sich spürbare Erregung, als der Hypnotiseur ans Mikrophon trat. Mein Nebenmann, ein Briefmarkenhändler kroatischer Herkunft, betrachtete ihn durch sein Opernglas. Ich lieh es mir für ein paar Sekunden aus und mußte feststellen, daß von der Erscheinung des Hypnotiseurs tatsächlich ein ganz besonderes Fluidum, etwas Befremdendes und beinahe Erschreckendes ausging. Er trug einen erstklassig geschneiderten Smoking sowie eine kühn vorspringende Nase, und aus tiefen Höhlen starrte uns ein unheimlich schwarzes Augenpaar entgegen. Meine Frau lehnte sich in ihrem Sitz zurück, ihr Atem ging stoßweise, ihre Hand griff konvulsivisch nach der meinen. Mir selbst klopfte das Herz bis in den Hals.

»Meine Damen und Herren«, begann der Unheimliche in perfektem Hebräisch, »es ist mir ein Vergnügen, Ihnen den bekannten Hypnotiseur Professor Max vorzustellen.«

Jetzt erst erkannte ich meinen Freund Gideon vom Israelischen Rundfunk, der offenbar als Dolmetscher fungierte (und sich damit einen kleinen Nebenverdienst verschaffte). Aber auch Professor Max sah sehr eindrucksvoll aus, trotz seiner Beleibtheit und seines alltäglichen Gesichts. Mit ein paar kurzen Sätzen in englischer oder doch angelsächsischer Sprache umriß er den Zweck seines Besuchs: Er wollte das israelische Publikum mit den unterhaltenden Aspekten der wissenschaftlichen Hypnose bekanntmachen. Während er sprach, ließ er seine Blicke über die Zuschauer schweifen, und ich schäme mich nicht zu gestehen, daß ich in solchen Fällen immer den Kopf senke und, um meinen Gleichmut auf die Probe zu stellen, die Ouvertüre zu »Wilhelm Tell« vor mich hinsumme.

Der Maestro bat freiwillige Assistenten aus dem Publikum auf die Bühne. Es kamen keine.

»Fürchten Sie sich nicht, es ist ja nur ein Spiel«, ermunterte uns Maestro Max. »Ein kleiner Scherz, ein Experiment, nichts weiter. Kommen Sie, seien Sie keine Spaßverderber. Oder wenn Sie nicht auf die Bühne kommen wollen, dann stehen Sie wenigstens von Ihren Plätzen auf. Für mich macht das keinen Unterschied.«

Da und dort im Zuschauerraum erhoben sich ein paar Neugierige, wissensdurstige Studenten vielleicht oder geltungsbedürftige Ehemänner, und zitterten vor Lampenfieber. »Steh auf«, lockte mich eine innere Stimme. »Wovor fürchtest du dich, du Jammerlappen?« Ich wand mich auf meinem Sitz hin und her und wies die innere Stimme zur Ruhe: »Schweig. Du weißt doch, daß ich die Öffentlichkeit scheue. Außerdem muß ich Rücksicht auf meine Frau nehmen. Laß deine taktlosen Lockungen. Schweig!«

Der Briefmarkenhändler neben mir erhob sich, machte jedoch kein Hehl daraus, daß er die ganze Sache für einen Schwindel hielt. Maestro Max forderte die Freiwilligen auf, die Finger zu verschränken, die Hände über den Kopf zu heben und die Augen zu schließen. Gideon übersetzte Maxens Anordnungen in ein fließendes Hebräisch, manchmal in das genaue Gegenteil dessen, was Max sagte, aber immer fließend.

»Verschränken Sie Ihre Hände fester«, befahl er. »Fester!«

Es hatte den Anschein, als wäre Gideon der Hypnotiseur und Max nur sein Assistent.

»Sie können Ihre Finger nicht mehr öffnen!« rief Gideon.

»Sie möchten, aber Sie können nicht... weder Ihre Finger noch Ihre Augen... so sehr Sie sich auch bemühen, es geht nicht... «

Endlich ließ sich wieder der Maestro vernehmen:

»Wer Lust hat, soll jetzt auf die Bühne kommen!«

Seine Stimme klang schneidend und unangenehm. Überhaupt wirkte er nicht sehr sympathisch, besonders für einen Hypnotiseur. Das Ergebnis seiner hypnotischen Bemühung war denn auch mehr als dürftig.

Der Briefmarkenhändler öffnete mühelos die Augen und zwinkerte mir verschwörerisch zu. Dann trat er den Weg auf die Bühne an.

»He!« rief ich ihm nach. »Wohin gehen Sie? Sie stören ja nur!«

»Gewiß«, lautete die Antwort. »Aber ich bekomme meine Finger nicht auseinander.«

Damit bestieg er die zur Bühne führende Treppe und marschierte an dem fassungslosen Gideon vorbei. Maestro Max vertrat ihm den Weg, riß ihm die Hände auseinander, schwang sie einmal nach rechts und einmal nach links, zerrte sie dann heftig abwärts und sah sein Opfer durchbohrend an.

Der Briefmarkenhändler brach lautlos zusammen, schlug mit dem Kopf auf dem Fußboden auf und schlief ein.

»Mir ist gerade eingefallen, daß ich eine wichtige Verabredung habe«, flüsterte ich meiner Frau zu.

»Du bleibst hier und rührst dich nicht«, flüsterte die beste Ehefrau von allen zurück. »Der Mann ist großartig.«

Maestro Max stieg auf den Bauch des Briefmarkenhändlers und vollführte dortselbst einige prüfende Tanzschritte.

»Er schläft noch tief genug«, erklärte er. »Gehen wir weiter.«

Beeindruckt von dem Bauchtanz war eine Anzahl Freiwilliger dem Briefmarkenhändler gefolgt. Max vollzog an jedem von ihnen die gleiche Armpendel-Operation. Einer nach dem anderen sank zu Boden. Nur bei einem einzigen funktionierte es nicht, er fiel lediglich auf die Knie, blieb aber bei vollem Bewußtsein und protestierte lauthals gegen diese Art der Behandlung. Ein zweiter Pendelgriff brachte ihn zum Schweigen.

Befriedigt überblickte Max die Reihe der Daliegenden.

»Sie fühlen nichts mehr«, wandte er sich beruhigend an das Publikum, hob zum Beweis zwei der Daliegenden - es handelte sich um Vertreter der wißbegierigen Studentenschaft - vom Boden auf und warf sie in hohem Bogen auf zwei leere Stühle, die am anderen Ende der Bühne standen. Die Stühle zerbrachen unter der Wucht des Anpralls, aber die Anprallenden schliefen ruhig weiter, ein seliges Lächeln auf den Lippen.

Diesem Idyll setzte Max sogleich ein Ende.

»Sie haben heiße Kohlen in Ihren Schuhen«, teilte er den reglos Daliegenden mit. »Sie leiden entsetzlich... Sie können es nicht mehr ertragen...«

Tatsächlich: Die beiden Studenten begannen sich zu krümmen, und ihre eben noch lächelnden Gesichter verzerrten sich in namenloser Qual. Einige Zuschauer wollten an dem Experiment teilnehmen. Da es für die heißen Kohlen schon zu spät war, drückte Maestro Max jedem von ihnen eine ungeschälte Kartoffel in die Hand; sie bissen lustvoll hinein, weil sie auf des Gurus Geheiß die Kartoffel für einen Apfel hielten. Auch allen weiteren Umtauschmanövern folgten sie prompt und willig. Gideon übersetzte ihnen, daß das, was sie jetzt tranken, purer Whisky wäre, und sie fingen nach dem Genuß lauwarmen Leitungswassers zu torkeln an wie die Betrunkenen. Er verwandelte sie in Katzen, und sie miauten. Er verwandelte sie in Finanzminister, und sie hoben abwehrend die Hände vors Gesicht, um sich vor den Attacken der Steuerzahler zu schützen.

Dem Briefmarkenhändler wurde eine Spezialbehandlung zuteil:

»Von jetzt an werden Sie keine Zigaretten mehr rauchen«, beauftragte ihn der Hypnotiseur. »Wenn Sie eine Zigarette anzünden, verspüren Sie sofort einen ekligen, faulen Geschmack im Mund! Sie werden Zigaretten bis an Ihr Lebensende hassen!«

Dann wandte er sich an die übrigen:

»Sowie ich mit den Fingern schnalze, wachen Sie alle auf.

Ein wunderbares Gefühl durchzieht Sie. In der jetzt folgenden Pause begeben Sie sich ans Büffet, essen ein paar Waffeln, kommen zu mir zurück und schlafen sofort wieder ein. Und dann geht's erst richtig los...«

Professor Max schnalzte mit den Fingern, die Freiwilligen erhoben sich und verließen lächelnd die Bühne. Alle erklärten, daß sie ganz genau gewußt hätten, was vorging, aber sie wollten keine Spaßverderber sein und hätten mitgespielt.

»Ich war die ganze Zeit hellwach«, erklärte der Briefmarkenhändler, während er Unmengen von Waffeln in sich hineinstopfte. »Ich will nicht direkt behaupten, daß an der Sache nichts dran ist. Aber gar soviel, wie die Leute glauben, ist es nicht.«

Interessanterweise sprach er kroatisch, und als er sich eine Zigarette anzündete, begann er sofort zu husten. »Pfui Teufel«, rief er aus. »Das ist ja widerlich.«

Es war zumindest ein Teilerfolg für Max; denn obwohl der Briefmarkenhändler nicht wie von Max geplant, das Rauchen bis an sein Lebensende einstellte, würde es ihm doch bis ans Lebensende zuwider sein.

»Entschuldigen Sie«, sagte er plötzlich nach einem Blick auf die Uhr, eilte auf die Bühne zurück und schlief ein.

Da einige der anderen Freiwilligen sich in der Pause davongemacht hatten, mußte für Ersatz gesorgt werden. Als Max sah, daß es damit nicht so recht klappen wollte, ergriff er eine lange Nadel und stach sie einem der schon Daliegenden in den Oberarm. Das wirkte. Sofort drängten Freiwillige zur Bühne. Bloße Unterhaltung ließ sie kalt, aber die Aussicht, mit einer

Nadel in den Oberarm gestochen zu werden, zog sie unwiderstehlich an.

»Einschlafen!« befahl Gideon. »Einschlafen!«

Schon nach wenigen Sekunden war meine Frau in tiefen Schlummer gesunken. Auch Gideon sah immer schläfriger drein, je öfter er »Einschlafen!« rief, und ich selbst mußte heftig gähnen. Es war auch schon spät.

Inzwischen hatte Maestro Max seinen versammelten Opfern suggeriert, daß sie sieben Jahre alt wären. Einige von ihnen begannen daraufhin »Räuber und Gendarm« zu spielen, andere liefen im Kreis umher, machten die Gebärden des Schießens und riefen dabei mit überzeugend hohen Stimmen »Piff-paff-puff!«

Der Briefmarkenhändler wagte es, ohne Erlaubnis die Augen zu öffnen, bekam von Max eine fürchterliche Ohrfeige und schlief unverzüglich weiter. Max beugte sich zu ihm, nahm ihm den rechten Augapfel heraus, polierte ihn an seinem Ärmel und setzte ihn wieder ein. Dann amputierte er ihm das linke Bein und ließ es durch die Reihen der Zuschauer wandern. Allmählich bedauerte ich, daß ich mich nicht auch freiwillig gemeldet hatte. Vielleicht hätte er mir den Kopf abgeschraubt?

»Jetzt kauen Sie Glas«, unterrichtete der Maestro seine Schüler. »Sie würden es gerne ausspucken, sind dazu aber nicht in der Lage, weil Ihr Oberkörper paralysiert ist und eine Dampfwalze im Gewicht von 200 Tonnen über Ihre Füße fährt...«

Die Freiwilligen kauten Glas, und die 200 Tonnen, die über ihre Füße fuhren, verursachten ihnen so rasende Schmerzen, daß sie zweifellos die Wände hochgeklettert wären, wenn ihre paralysierten Oberkörper sie nicht daran gehindert hätten. Zur Belohnung bekamen sie etwas Zahnweh, gefolgt von Asthma und Lepra. Sodann erklärte ihnen Professor Max, daß man sie noch rasch einer Vivisektion unterziehen würde, und zwar mit dem Drillbohrer.

»Und jetzt« - der Maestro überbot sich selbst, erklomm einen reglos daliegenden Studenten und zog einen Revolver - »jetzt werde ich Euch mit dieser Pistole niedermähen. Ihr werdet krepieren wie die Hunde!«

Nachdem das geschehen war, wurden die Leichen weggekehrt, und der Vorhang fiel. Die Überlebenden durften das Haus verlassen. Einige von ihnen krochen auf allen vieren, weil ihre paralysierten Oberkörper eine andere Bewegung nicht zuließen. Ein älterer Herr bellte mit rauher Stimme durch die Nacht. Nur der beim Rauchen stark hustende Briefmarkenhändler ging aufrecht einher und fragte jeden Vorübergehenden, wo man um diese Zeit noch Waffeln zu kaufen bekäme.