Hinter den Kulissen

 

Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, daß sich die Öffentlichkeit für das Theater interessiert, daß man nur ein paar Plakate anzuschlagen braucht - und das Publikum, vom Titel des Stücks oder vom Namen des Schauspielers angezogen, kommt sofort in hellen Scharen herbeigeströmt. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Das Publikum läßt sich von noch so lockenden Ankündigungen und noch so lobenden Kritiken in keiner Weise beeinflussen. Es glaubt nur, was es mit seinen eigenen Augen in den Tratschspalten der Boulevardpresse liest. Diese Spalten informieren den Leser über alles, was sich hinter den Kulissen abspielt. Der Leser erfährt hier weitaus mehr pikante Schlafzimmergeheimnisse, als wenn er zehnmal ins Theater geht.

Leider hat die Sache einen Haken. Das Schlafzimmer birgt keine Geheimnisse, und hinter den Kulissen spielt sich nichts ab.

Ich habe lange gezögert, diese schockierende Tatsache preiszugeben, konnte jedoch meinen Wahrheitsdrang auf die Dauer nicht unterdrücken. Nochmals sei es gesagt, langsam und deutlich: Hinter den Kulissen spielt sich nichts ab. Das absolute Nichts. Die Schauspieler kommen zumeist etwas verspätet ins Haus, begeben sich übellaunig in ihre Garderoben, machen Maske, erkundigen sich an der Kassa nach dem Besuch, erfahren, daß er 40 Prozent beträgt, warten auf ihr Stichwort und agieren während der nächsten zwei oder drei Stunden mit einer um 60 Prozent verminderten Spielfreudigkeit. Sie murmeln Flüche gegen den Autor, der keine echten Charaktere geschaffen hat, sondern blutleere Marionetten und dessen Dialoge von papierenen Phrasen rascheln - um den Kritiker Dov Schlofer zu zitieren, der zwar ein Idiot ist, aber diesmal hat er ausnahmsweise recht. Und warum liegen hier noch immer die Abfälle von gestern herum? Wieso kümmert sich niemand um diese Dinge? Wo ist der Bart des Propheten? In zwei Minuten muß ich auf der Bühne sein und suche noch immer meinen Bart. Wenn ich den Kerl erwische, der ihn unlängst verschwinden ließ, um sich die Schuhe damit zu putzen, dann erwürge ich ihn. Außerdem habe ich Durst. Seit Jahren verlange ich, und nicht nur ich, das ganze Ensemble verlangt seit Jahren von der Direktion, doch endlich dafür zu sorgen, daß man Tee in die Garderoben serviert bekommt, aber man bekommt keinen. Und ich könnte ihn schon deshalb gut brauchen, weil ich Grippe habe. Grippe mit Fieber. Seit drei Wochen lebe ich von Antibiotika. Ich hätte zu Hause bleiben sollen, was heißt sollen, ich hätte müssen, ich hätte mich ins Bett legen und auskurieren müssen, statt dessen komm' ich her und hab' nicht einmal etwas gegessen, laß mich abbeißen, na schön, gehen wir, bitte Ruhe, zweiter Aufruf, und diese Hitze, Vorhang auf, also bringen wir etwas Leben in die Sache, los...

Das ist es, was sich hinter den Kulissen abspielt. Und das gibt für die Tratschkolumnisten nichts her.

Was bleibt ihnen übrig, als die saftigen Histörchen, die das Publikum lesen will, zu erfinden? Wenn sie Glück haben, ist ihnen irgendein reklamesüchtiger Schauspieler oder ein betriebsamer Agent dabei behilflich, aber in den meisten Fällen müssen sie ihr eigenes Hirn zermartern. Das Ergebnis sieht dann ungefähr folgendermaßen aus:

»Gestern abend beschloß Schaul Polakoff, der bekannte Charakterdarsteller, seinem Kollegen Guttermann einen Streich zu spielen. In einer ihrer gemeinsamen Szenen hat Guttermann einen irdenen Maßkrug mit Bier auszutrinken, und Polakoff ersetzte das Bier durch Joghurt. Guttermann mußte die zähe Masse, die ganz und gar nicht nach seinem Geschmack war, hinunterschlucken. >Das machst du mir kein zweitesmal!< flüsterte er hernach seinem Partner zu.«

Der Redakteur, bei dem der Tratschkolumnist diese humorsprühende Geschichte abliefert, stellt mit saurer Miene fest, daß sie vor wenigen Tagen in einem Konkurrenzblatt abgedruckt war, nur handelte es sich dort um zwei Schauspielerinnen und um Terpentin statt Sodawasser. Die Geschichte erscheint trotzdem, weil die Spalte gefüllt werden muß und weil Zeitungsleser ein kurzes Gedächtnis haben. Sie wird noch mehrmals erscheinen, so lange, bis alle Getränkvariationen erschöpft sind, Lebertran statt Brandy, Rizinusöl statt Wein, essigsaure Tonerde statt Milch. Erst wenn es wirklich nichts mehr zu vertauschen gibt, machen sich die Tratschkolumnisten auf, um Neuland zu entdecken. Aber der Spaß hält sich weiterhin in Grenzen, und die richtig aufregenden Dinge, die das Publikum wirklich interessieren würden, scheitern einfach daran, daß sie nicht passieren. Weder wird Schlomo Emanuelis Freundin in zärtlichem Tete-a-tete mit Eleasar G. Bullitzer überrascht, noch schießt Lydia Brodsky in wilder Eifersucht ihrem ungetreuen Gatten eine Kugel in den Kopf, weil er mit Honigmanns geschiedener Frau an einer von Itamar Sort-schenko veranstalteten Orgie teilgenommen hat, bei der Jarden Podmanitzki als Türsteher fungierte, noch ereignet sich sonst etwas von Bedeutung.

In der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts hat sich der Sex vom Theater gelöst und wurde selbständig. Verglichen damit, was sonst überall passiert, ist das Theater heute ein Trappistenkloster.

Die Zeiten, in denen sinnlos verliebte Millionäre aus dem Pantöffelchen ihrer angebeteten Primadonna Champagner tranken, sind längst vorbei, weil es dem Schuhwerk schadet. Und die legendäre Couch im Zimmer des Intendanten, auf der so manche Karriere oder, im Gegenteil, so mancher Sittlichkeitsprozeß seinen Anfang genommen hat, steht heute in der Ordination des Psychoanalytikers, der damit beschäftigt ist, die Komplexe seiner Patienten aus der Theaterwelt zu entknoten.

Unter diesen Patienten befindet sich auch der Tratschkolumnist, der mangels geeigneter Geschichten an schweren Depressionen leidet.