Gratis um jeden Preis

 

Mit dem Herannahen einer Premiere häufen sich die nächtlichen Telephonanrufe, die in unmißverständlichen Andeutungen das Freikarten-Problem anschneiden. Nicht selten wird unter Umgehung des Telephons auch der direkte Kontakt hergestellt, etwa wenn man am Abend vor der Premiere auf offener Straße von einem gutgekleideten Fremden aufgehalten wird:

»Hallo, alter Junge!« lautet sein vertraulicher Gruß.

»Guten Abend«, lautet die etwas kühlere Replik. »Darf ich fragen, woher -«

»Mischa, um Himmels willen! Kennst du mich denn nicht mehr?«

»Ach ja, natürlich. Wie konnte ich nur. Nein, ich kenne Sie nicht, mein Herr.«

»1968...!« Wehmütige Erinnerung durchzittert die Stimme meines Gegenübers. »Capri 1968!«

»Hören Sie, Mann - wenn Sie ein Spion sind, dann sagen Sie's gleich. Ich arbeite im Theater und nicht im Nachrichtendienst. Und außerdem heiße ich gar nicht Mischa.«

»Das tut mir aber leid... Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle: Rockefeller.«

»Angenehm.«

Rockefeller begehrt zu wissen, ob ich mit dem Stückeschreiber identisch bin, von dem morgen irgend etwas im Dingsbumstheater aufgeführt wird.

Gefahr ist im Verzug.

Zu dumm, daß ich den Ausdruck »Theater« gebraucht habe.

«Taxi!« rufe ich. »Taxi!«

»Ich gehe sehr gern ins Theater«, unterrichtet mich Mischas alter Freund. »Ich liebe es über alles.«

»Taxi!«

»Und ich möchte sehr gerne Ihr Stück sehen.«

»Taxi!«

»Kann man noch Karten bekommen?«

»Natürlich kann man. Taxi!«

»Morgen abend hätte ich Zeit, paßt Ihnen das?«

»Was meinen Sie - ob mir das paßt?« »

Ich meine wegen der Karten.«

Die Situation wird immer bedrohlicher, und meine verzweifelten Rufe nach einem Taxi verhallen erfolglos.

»Also gibt es noch Karten?« fährt Rocky beharrlich fort.

»Freikarten?«

»Natürlich.«

»Es steht Ihnen frei, Karten an der Kassa zu lösen.«

»Aber ich möchte die Karten so schrecklich gerne von Ihnen bekommen. Einmal im Leben könnten Sie mir doch wirklich einen Gefallen tun, Mischa. Es ist keine Frage des Geldes...«

»Ach so? Sie wollen Freikarten?«

»Ja.«

»Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?«

»Es wäre mir peinlich gewesen. Ich hoffe, daß Sie für die Karten nichts zahlen müssen.«

»Keine Spur. Der Betrag wird mir von meinen Tantiemen abgezogen.«

»Dann ist ja alles in Ordnung. Sonst würde ich Sie nämlich nicht -«

»Es gibt nur eine einzige Schwierigkeit«, unterbreche ich. »Ich habe kein Einreichungsformular bei mir. Schade. Kein Formular. Es geht leider nicht. Bedaure. Kein Formular.«

»Wo haben Sie eins?«

»Zu Hause.«

»Ausgezeichnet. Mein Chauffeur wird es sofort abholen. Wir können hier auf ihn warten. Er braucht nicht lange.«

»Tut mir leid. Ich muß jetzt nach Jerusalem fahren. Jetzt gleich.«

»Macht nichts. Mein Chauffeur fährt hinter Ihnen her. Wo wohnen Sie in Jerusalem?«

»Taxi! Das weiß ich noch nicht.«

»Sie könnten mir Ihre dortige Adresse telegraphieren.«

»Wohin?«

Darauf war Rocky offenbar nicht gefaßt. Er wird sichtlich nervös. Sein wohldurchdachter Plan gerät ins Wanken.

»Verdammt«, murmelt er. »Ich weiß nicht, wo ich heute abend erreichbar bin. Meine Tochter heiratet.«

»Gratuliere.«

»Danke.«

»Taxi!«

Die Spannung wächst. Mindestens zehn kostbare Sekunden vergehen.

»Balkon?« fragt Rockefeiler zaghaft.

»Wenn Sie Wert auf Balkon legen -.«

»Danke vielmals. Ich werde die Hochzeit absagen. Meine Tochter ist jung, das Leben liegt noch vor ihr. Sie telegraphieren mir also nach Hause. Kamelstraße vier. Mein Chauffeur wird mit dem Wagen -«

»Nichts zu machen. Ich verlasse Jerusalem sofort nach meiner Ankunft. Richtung Norden. Galiläa.«

»Auf der Hauptstraße?«

»Vermutlich.«

Rocky zieht seine Uhr zu Rate und denkt intensiv nach.

»Wollen Sie vielleicht einen Helikopter schicken?« erkundige ich mich anzüglich.

»Ja. Ich bekomme ihn von der Armee. Er wird über Galiläa kreisen, bis er Sie findet.«

»In der Nacht?«

»Keine Angst, er hat infrarote Suchlichter. Sie müssen nur auf das Dach Ihres Wagens ein grellweißes Kreuz malen.«

»Nichts leichter als das.«

»Ich werde sofort das Verteidigungsministerium anrufen.«

»Tun Sie das. Taxi!«

Tatsächlich, jetzt kommt eins. Es hält sogar an.

Beim Einsteigen wende ich mich nochmals zu Rockefeiler um:

»Vielleicht sollten Sie doch versuchen, die Karten an derKassa -«

»Das ist mir zu kompliziert.«

Ich werfe den Schlag zu: »Fahren Sie los! Aber schnell!«

Der Taxifahrer kapiert sofort, daß es sich um Freikarten handelt, und gibt Vollgas.

Wie der Teufel so will, hat auch Rockefeiler ein Taxi gefunden und folgt uns. Er sitzt neben dem Fahrer, beugt sich vor, und seine Lippen formen unmißverständlich das Wort:

»Balkon!«

Ich habe ihm zwei Balkonsitze in die Kamelstraße geschickt. Sie waren bei der Premiere von einer dicklichen Frauensperson mit einem kleinen Kind besetzt. Wahrscheinlich die Haushälterin.