Über das Streichen von Textzeilen

 

Es gilt, zuerst den Begriff »Zeile« zu definieren. Der Schauspieler hat, wie man weiß, bestimmte Sätze zu sprechen, die im Bühnenmanuskript enthalten sind und deren Gesamtheit seinen »Text« ausmacht. Im gleichen Augenblick, in dem der Regisseur aus irgendwelchen Gründen entscheidet, einen bestimmten Satz aus dem Text des Schauspielers zu streichen, zeigt sich, daß die ganze Rolle mit diesem einen Satz steht und fällt. Infolgedessen kämpft der Schauspieler mit allen Mitteln gegen das Recht der Regisseure, Änderungen im Text vorzunehmen.

Dauer und Heftigkeit dieses Kampfs richten sich nach dem Rang des betreffenden Schauspielers und nach der Kritik, die Kunstetter über den Regisseur geschrieben hat. Als beispielsweise aus dem Text des Schauspielers Jarden Podmanitzki ein Satz gestrichen wurde - und zwar der eine Satz, der nicht nur für die Rolle, sondern für das ganze Stück entscheidend war -, ging es folgendermaßen zu:

REGISSEUR: »Halt! Podmanitzki, den Satz mit dem Zug und der Madame brauchen wir nicht. Er fällt weg. Verstanden?«

PODMANITZKI: »Jawohl. Ich verstehe. Vielen Dank.« (Er streicht den Satz in seinem Rollenheft durch.)

Und wie spielt sich das ab, wenn diese entscheidende Zeile einem etwas wichtigeren Schauspieler weggenommen wird?

REGISSEUR: »Hör zu, Schmulik. Du hast hier einen sehr wirkungsvollen Auftritt. Er wäre vielleicht noch wirkungsvoller, wenn wir deine Frage, wann der Zug nach St. Petersburg geht, weglassen. Was hältst du davon?«

DER ETWAS WICHTIGERE SCHAUSPIELER: »Warum nicht. Geht auch. So etwas ist für mich kein Problem. Ich gehöre noch zur alten Garde, und wenn der Regisseur aus dem Text von Schmul Guttermann einen Satz streichen will, dann streicht Schmul Guttermann den Satz, ohne auch nur eine Silbe darüber zu verlieren. Im vorliegenden Fall habe ich allerdings den Eindruck, daß es vom rein gefühlsmäßigen Standpunkt besser wäre, wenn der Satz nicht gänzlich wegfällt. Vielleicht sollte ich einfach sagen: Nach Petersburg, wie, Madame?«

REGISSEUR: »Meinetwegen. Sag in Gottes Namen: Petersburg, wie? Aber leise.«

DER ETWAS WICHTIGERE SCHAUSPIELER: »Wie du willst.« (Er sagt es laut.)

Und jetzt zum Star des Ensembles.

REGISSEUR: »Bitte einen Augenblick! Meine Damen und Herren, Sie müssen verzeihen, daß ich die Probe an einer so packenden Stelle unterbreche, aber mir ist soeben etwas sehr Sonderbares geschehen. Als Herr Bulitzer den Satz sprach: Entschuldigen Sie, Madame, wann geht der Zug nach St. Petersburg? - Als er diese Worte sprach, wurde mir heiß und kalt vor Aufregung, so heiß und kalt, daß ich mich kaum noch konzentrieren konnte. Einem alten Hasen wie mir passiert so etwas nur sehr selten, und es ist kein Wunder, daß es mir gerade bei Herrn Bulitzer passiert. Wer sollte derart gewaltige Wirkungen hervorrufen können, wenn nicht ein Bulitzer. Das muß man gar nicht ausdrücklich betonen. Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, habe ich den Eindruck, daß der Ablauf dieser Handlungsphase eine solche Erschütterung nicht verträgt. Daß das Publikum ihr einfach nicht gewachsen wäre. Natürlich kommt es mir nicht zu, einem Eleasar G. Bulitzer vorzuschreiben, was er sagen und was er nicht sagen soll. Ich äußere hier nur meine ganz unmaßgebliche, persönliche, aus einer tiefen Emotion herrührende Ansicht. Die Entscheidung hat selbstverständlich Herr Bulitzer zu treffen. Wie denken Sie darüber, lieber Bulitzer? Scheint es Ihnen nicht auch, daß Ihr Auftritt an Wirkung womöglich noch gewinnen würde, wenn man ihn ganz auf Ihre Persönlichkeit abstellt und ihn durch keinen Text verwässert? Sollte dieser kleine Satz nicht besser wegfallen?«

DER STAR: »Nein.«

REGISSEUR: »Der Satz bleibt. Bitte weiter.«