30

»Ich weiß einfach nicht, wie sie es gemacht haben, Sperber«, sagte Caalador mit finsterem Gesicht. »Krager wurde schon seit Tagen nicht mehr gesehen. Er ist glatt wie ein Aal, nicht wahr?« Caalador hatte sich zu Sperber auf den Wehrgang gesellt.

»Das ist er allerdings. Was ist mit den anderen? Elron zum Beispiel. Ihm hätte ich so etwas gar nicht zugetraut.«

»Ich auch nicht! Hat nur noch gefehlt, daß er sich ›Verschwörer‹ auf die Stirn schrieb. All dieses auffällige Umhanggeflattere und das theatralische Umherschleichen durch dunkle Gassen.« Caalador schüttelte den Kopf. »Wie dem auch sei, er hat im Haus dieses hiesigen edomischen Edlen gewohnt. Wir wußten, daß er sich in dem Haus aufhielt, denn wir hatten beobachtet, wie er es durch die Vordertür betrat. Dann haben wir pausenlos jede Tür und jedes Fenster im Auge behalten; deshalb wußten wir, daß Elron das Haus nicht verlassen hatte. Aber er war nicht darin, als wir eindrangen, um ihn festzunehmen!«

Von einem nahen Gebäude erklang ein Krachen, als die Ataner die Tür einbrachen, um an die Rebellen heranzukommen, die sich in dem Bau verkrochen hatten.

»Haben Eure Leute in dem Haus nach geheimen Gängen und Räumen gesucht?« fragte Sperber.

Caalador schüttelte den Kopf. »Nein. Statt dessen haben sie den edomischen Edlen barfuß in ein Becken mit glühenden Kohlen gestellt. Das beschleunigte die Sache. Tut mir leid, Sperber, es gab kein Versteck in diesem Haus. Wir konnten alle Helfer mühelos festnehmen, aber die Anführer …« Er spreizte hilflos die Hände.

»Wahrscheinlich hat sich jemand der Magie bedient. Das wäre nicht das erste Mal.«

»Kann man so was wirklich mit Magie tun?«

»Ich nicht. Aber ich bin sicher, daß Sephrenia die entsprechenden Zauber kennt.«

Caalador blickte über die Brustwehr. »Nun, zumindest ist es uns gelungen, diesen Anschlag auf die Regierung zu verhindern. Das ist die Hauptsache.«

»Da bin ich mir nicht so sicher«, widersprach Sperber.

»Es lag mir wirklich ziemlich am Herzen, Sperber. Hätten die Rebellen Erfolg gehabt, wäre das Tamulische Imperium auseinandergebrochen. Sobald die Ataner mit den Aufräumarbeiten fertig sind, können wir damit beginnen, die Überlebenden zu befragen – und jene Unterführer, die wir schnappen konnten. Vielleicht können sie uns zu den eigentlichen Verschwörern bringen.«

»Das bezweifle ich. Krager ist in solchen Dingen sehr geschickt. Ich fürchte, wir werden feststellen, daß die Helfershelfer kaum etwas wissen. Es ist zu schade! Ich hatte wirklich gehofft, mich ein wenig mit Krager unterhalten zu können!«

»Eure Stimme hat immer diesen seltsamen Tonfall, wenn Ihr von ihm sprecht«, bemerkte Caalador. »Ist da etwas Persönliches zwischen euch beiden?«

»O ja! Und es liegt schon sehr lange zurück. Ich habe viele Gelegenheiten versäumt, Krager zu töten – meistens, weil er lebend von größerem Nutzen war. Ich war immer mehr an dem Mann interessiert, für den er arbeitete, und das war möglicherweise ein Fehler. Krager hat stets dafür gesorgt, daß er ausreichend Informationen hat, so daß er mir lebend nützlicher war. Aber wenn ich ihm das nächste Mal begegne, wird das keine Rolle spielen.«

Die Ataner leisteten ganze Arbeit. Wenn sie eine Gruppe bewaffneter Aufständischer umzingelt hatten, boten sie ihnen eine Gelegenheit, sich zu ergeben, aber keine zweite.

Zwei Stunden nach Mitternacht war es in der Schloßanlage wieder völlig ruhig. Einige atanische Streifen durchkämmten die Höfe, Gärten und Gebäude nach versteckten Rebellen, aber sie wurden kaum noch fündig.

Sperber war todmüde. Obwohl er nicht mit dem Schwert in der Faust an der Niederschlagung des Aufstands beteiligt gewesen war, hatte die nervliche Anspannung ihn mehr erschöpft, als eine zweistündige Schlacht es vermocht hätte. Er stand auf dem Wehrgang, blickte müde über die Brustwehr hinunter und beobachtete ohne großes Interesse, wie die Gärtner und Hausmeister, die man für diese unangenehme Arbeit eingesetzt hatte, widerstrebend die auf dem öligen Wasser des Grabens treibenden Toten herausfischten.

»Warum legt Ihr Euch nicht nieder, Sperber?« fragte Khalad. Seine breiten, nackten Schultern glänzten im Fackellicht. In seiner Stimme und seinem Aussehen, ja, selbst in seinem Auftreten glich er so sehr seinem Vater, daß Sperber einen schmerzhaften Stich in der Brust verspürte.

»Ich wollte nur sichergehen, daß keine Leichen mehr im Graben schwimmen, wenn meine Gemahlin am Morgen aufwacht. Verbrannte Menschen sind kein schöner Anblick.«

»Ich kümmere mich darum. Gehen wir jetzt ins Badehaus. Ich werde Euch aus der Rüstung helfen, und Ihr könnt Euch eine Weile in der Wanne aalen.«

»Ich habe mich heute nacht wirklich nicht sonderlich angestrengt, Khalad. Ich bin nicht mal ins Schwitzen gekommen.«

»Darum geht es gar nicht. Der Geruch steckt in Eurem Panzer, so daß Ihr darin schon nach fünf Minuten riecht, als hättet Ihr einen Monat lang nicht gebadet.«

»Das ist eine der Mißlichkeiten unseres Berufs. Bist du sicher, daß du Ritter werden willst?«

»Die Idee stammt nicht von mir!«

»Wenn das alles hier vorüber ist, wird die Welt vielleicht so friedlich, daß Ritter in Rüstung überflüssig sind.«

»Ja, sicher. Und vielleicht lernen die Fische dann fliegen!«

»Du bist ein Zyniker, Khalad!«

»Was macht er da oben?« fragte Khalad gereizt, während er zu den hoch über die anderen Bauten ragenden Türmen hinaufspähte.

»Wer macht was wo?«

»Ganz oben im Südturm ist jemand! Jetzt ist mir schon zum viertenmal das Flackern einer Kerze hinter dem Fenster dort aufgefallen!«

Sperber zuckte die Schultern. »Vielleicht haben Tynian oder Bevier einen ihrer Ritter dort oben Stellung beziehen lassen.«

»Ohne es Euch – oder Hochmeister Vanion – mitzuteilen?«

»Wenn es dir so viel Kopfzerbrechen bereitet, dann sehen wir doch nach.«

»Es scheint Euch gar nicht zu beunruhigen.«

»Warum auch? Diese Burg ist vollkommen sicher, Khalad.«

»Ich werde trotzdem dort oben nachsehen, bevor ich zu Bett gehe.«

»Nein, lieber gleich. Ich komme mit.«

»Ich dachte, Ihr seid überzeugt, daß die Burg sicher ist.«

»Vorsicht schadet nie. Ich möchte deinen Müttern nicht mitteilen müssen, daß du getötet worden bist, weil ich mich geirrt habe.«

Sie stiegen vom Wehrgang hinunter, überquerten den Innenhof und betraten das Hauptgebäude.

Lautes Schnarchen klang durch die verschlossene Tür der Banketthalle. »Ich nehme an, daß es in der Früh gewaltiges Schädelbrummen geben wird.« Khalad lachte.

»Wir haben unsere Gäste nicht gezwungen, soviel zu trinken.«

»Aber sie werden uns die Schuld daran geben.«

Rasch stiegen sie die Treppe zum Turmzimmer des Südturms hinauf. Der Hauptturm und der Nordturm waren auf die übliche Weise erbaut, mit übereinanderliegenden Räumen; doch der Südturm war kaum mehr als eine leere Hülle mit einer Holztreppe, die durch ein knarrendes Gerüst in die Höhe führte. Der Baumeister hatte diesen Turm offenbar nur der Symmetrie halber errichtet. Das einzige Zimmer befand sich ganz oben und besaß einen Fußboden aus dicken, grob geglätteten Holzbalken.

»Ich werde zu alt für solche Treppen«, keuchte Sperber, als sie etwa die Hälfte hinter sich hatten.

»Ihr habt keine Kondition mehr, Sperber«, rügte Khalad seinen Herrn unverblümt. »Ihr verbringt zuviel Zeit auf Eurer Kehrseite, mit Politik und Diplomatie.«

»Das gehört zu meinen Aufgaben, Khalad.«

Sie erreichten die Tür am Ende der Treppe. »Laß lieber mich zuerst hineinsehen«, murmelte Sperber und zog sein Schwert aus der Scheide. Dann streckte er die Hand aus und schob die Tür auf.

Ein schäbiger Mann saß an einem Holztisch in der Mitte des Zimmers. Der Schein einer Kerze fiel auf sein Gesicht. Sperber kannte ihn. Die Jahre übermäßigen Trinkens waren Krager nicht sehr bekommen. Sein Haar hatte sich in den sechs Jahren seit ihrer letzten Begegnung beträchtlich gelichtet, und die Tränensäcke waren noch stärker angeschwollen. Die wäßrigen, kurzsichtigen Augen wirkten farblos und schienen mit einer dünnen gelblichen Schicht überzogen zu sein. Die Hand, in der er seinen Weinbecher hielt, zitterte, und seine rechte Wange zuckte fast ununterbrochen.

Sperber handelte, ohne einen Augenblick zu überlegen. Er richtete das Schwert auf Martels heruntergekommenen Knecht und stieß zu.

Es war keinerlei Widerstand zu spüren, als die Klinge in Kragers Brust drang und die Spitze aus dem Rücken wieder herauskam.

Krager fuhr heftig zusammen; dann lachte er mit seiner krächzenden, vom Alkohol zerfressenen Stimme. »Bei den Göttern, das ist ein irres Erlebnis!« stellte er fest. »Ich hab' sie fast gespürt. Steckt Eure Klinge wieder ein, Sperber. Ihr könnt mir damit nichts anhaben.«

Sperber zog das Schwert aus Kragers erschreckend real scheinendem Körper und hieb mehrfach durch den Hals des Trunkenbolds.

»Bitte hört auf damit, Sperber.« Krager kniff die Augen zusammen. »Es ist wirklich ein ziemlich unerfreuliches Gefühl.«

»Mein Kompliment an Euren Magier, Krager«, knirschte Sperber. »Das ist eine sehr überzeugende Illusion. Ihr seht so echt aus, daß ich Euch fast riechen kann.«

»Ich sehe, daß wir uns wie kultivierte Menschen benehmen werden.« Krager nahm einen Schluck Wein. »Gut. Ihr werdet reifer, Sperber. Noch vor zehn Jahren hättet Ihr dieses Zimmer zu Kleinholz zerhackt, ehe Ihr endlich bereit gewesen wärt, auf die Vernunft zu hören.«

»Ist das ein Zauber?« fragte Khalad leise.

Sperber nickte. »Ein sehr geschickter sogar. In Wirklichkeit sitzt Krager irgendwo in einem Raum, eine Meile oder weiter von hier entfernt, und jemand überträgt sein Abbild in diesen Turm. Wir können ihn sehen und hören, aber nicht berühren.«

»Wie schade!« murmelte Khalad und strich über den Griff seines schweren Dolches.

»Ihr wart diesmal wirklich verdammt schlau, Sperber«, sagte Krager. »Das Alter scheint Euch zu bekommen – wie gutem Wein.«

»Da seid Ihr der Experte, Krager.«

»Ein billiger Seitenhieb, Sperber.« Krager feixte. »Ehe Ihr Euch jedoch allzu begeistert auf die Schulter klopft, sollt Ihr wissen, daß dies nur eine weitere jener Prüfungen war, die einer meiner Freunde Euch gegenüber vor kurzem erwähnte. Ich habe meinen Freunden von Euch vorgeschwärmt, aber sie wollten sich selbst überzeugen. Deshalb haben wir dafür gesorgt, daß Ihr ein wenig Unterhaltung bekommt, wobei Ihr Eure Tüchtigkeit beweisen könnt – und Eure Schwächen. Die Katapulte haben den Cyrgai ziemlich zugesetzt, und Euer Einsatz von Berittenen gegen die Trolle war fast schon brillant. Ihr habt Euch auch hier in Matherion erstaunlich gut geschlagen. Das hat mich ehrlich überrascht, Sperber. Ihr habt unsere Parole viel schneller herausgefunden, als ich erwartet hatte, und die Nachricht über das Waffenlager in erstaunlich kurzer Zeit abgefangen. Unser dazitischer Kaufmann brauchte nur dreimal durch die Stadt zu spazieren, ehe Euer Spitzel sie ihm stahl. Ich muß gestehen, ich hatte damit gerechnet, daß Ihr kläglich versagt, wenn Ihr es statt mit einer Armee mit einer Verschwörung zu tun bekommt. Meinen Glückwunsch.«

»Ihr trinkt schon zu lange, Krager. Da ist es wohl kein Wunder, daß Euer Gedächtnis nachläßt. Ihr habt offenbar vergessen, was während der Wahl in Chyrellos geschehen ist. Wenn ich mich recht entsinne, haben wir auch dort alle Pläne zum Scheitern gebracht, die Martel und Annias ausgebrütet hatten.«

»Das war ja nun keine große Leistung, Sperber. Martel und Annias haben sich wahrhaftig nicht als sonderlich schlaue Gegner ausgezeichnet. Ich tat mein Bestes, ihnen klarzumachen, daß ihre Pläne zu primitiv waren; aber sie wollten es nicht einsehen. Martel war zu sehr damit beschäftigt, von den Schatzkammern unter der Basilika zu träumen, und Annias sah nichts anderes mehr als die Mitra des Erzprälaten. Ihr habt damals Eure Chance wirklich verpaßt, Sperber. Ihr habt mich immer unterschätzt. Ihr hattet mich in der Hand und habt mich für ein paar dürftige Informationen und eine übertriebene Aussage vor der Hierokratie laufen lassen. Wirklich nicht sehr klug, alter Junge.«

»Dann war der ganze Rummel heute nacht also gar nicht auf Erfolg ausgelegt?«

»Natürlich nicht, Sperber. Falls wir es wirklich auf Matherion abgesehen hätten, wären wir mit ein paar Armeen angerückt.«

»Wenn es einen guten Grund für das alles gibt«, sagte Sperber zu dem Trugbild, »warum rückt Ihr dann nicht damit heraus? Ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir.«

»Die Prüfungen dienten dazu, Euch zu zwingen, alle Eure Mittel einzusetzen, Sperber. Wir wollten uns ein Bild davon machen.«

»Ihr habt noch längst nicht alle gesehen, Krager – nicht einmal die Hälfte!«

»Khalad – so heißt Ihr doch, oder? Sagt Eurem Herrn, daß er noch ein wenig üben sollte, bevor er zu lügen versucht. Er hört sich alles andere als überzeugend an. Ach ja – und grüßt Eure Mutter von mir. Sie und ich haben uns immer gut verstanden.«

»Das bezweifle ich«, antwortete Khalad.

»Seid vernünftig, Sperber«, wandte Krager sich wieder an seinen Erzfeind. »Eure Gemahlin und Eure Tochter sind hier. Und da soll ich Euch wirklich glauben, daß Ihr nicht alle Eure Mittel eingesetzt habt, sie zu schützen?«

»Wir haben eingesetzt, was wir für erforderlich hielten, Krager.

Man schickt doch nicht ein ganzes Regiment aus, um einen Mistkäfer zu zertreten.«

»Ihr seid genauso, wie Martel es war, Sperber«, bemerkte Krager. »Ihr hättet beinahe Brüder sein können. Angesichts Martels ritterlicher Erziehung bin ich schier verzweifelt. Er war ein hoffnungsloses Unschuldslamm, als er bei mir anfing, müßt Ihr wissen. Das einzige, was mir ein wenig half, war sein übermächtiger Haß – hauptsächlich auf Euch und Vanion – und auf Sephrenia, wenngleich in geringerem Maße. Bei Martel mußte ich ganz von vorn anfangen. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie viele Stunden ich geduldig damit zubrachte, ihm diese ritterlichen Tugenden auszutreiben.«

»Schwelgt ein andermal in Erinnerungen, Krager, und stehlt mir damit nicht die Zeit! Kommt zur Sache! Martel gehört der Vergangenheit an. Das hier ist eine neue Situation. Martel gibt es nicht mehr.«

»Ich wollte mich nur in Erinnerung bringen, Sperber. Und ein wenig über die guten alten Zeiten plaudern. Wie Euch nicht entgangen sein kann, habe ich einen neuen Arbeitgeber gefunden.«

»Das dachte ich mir bereits.«

»Als ich für Martel arbeitete, hatte ich sehr wenig direkten Kontakt zu Otha, und fast gar keinen zu Azash. Das Ganze hätte einen ganz anderen Ausgang nehmen können, hätte ich selbst Zugang zu dem zemochischen Gott gehabt. Martel war zu sehr von seiner Rache besessen, und Otha mit seinen Ausschweifungen beschäftigt. Sie waren beide nicht besonders klug – denkbar unfähige Berater für Azash. Von mir hätte er eine wesentlich realistischere Einschätzung der Lage haben können.«

»Vorausgesetzt, Ihr wärt mal nüchtern genug gewesen, um zu reden.«

»Das ist unter Eurem Niveau, Sperber! Oh, ich gebe zu, daß ich dann und wann einen Schluck nehme. Aber ich trinke nie soviel, daß ich den Überblick oder das Ziel aus den Augen verliere. Im Grunde war es auf längere Sicht besser für mich. Hätte ich Azash beraten, hätte es euer aller Ende bedeutet. Dann wäre ich untrennbar mit ihm verbunden gewesen und hätte die Auseinandersetzung mit Cyrgon nicht überlebt – das ist übrigens mein neuer Arbeitgeber. Ich nehme an, Ihr habt von ihm gehört?«

»Ein paarmal.« Sperber zwang sich zu einem gleichmütigen Tonfall.

»Gut, das erspart uns viel Zeit. Hört jetzt gut zu, Sperber, wir kommen nun zum wesentlichen Teil unseres Gesprächs. Cyrgon will, daß Ihr nach Hause zurückkehrt. Er betrachtet Eure Anwesenheit hier auf dem daresischen Kontinent als ein wenig unbequem – nicht viel mehr, das dürft Ihr mir glauben. Hättet Ihr den Bhelliom noch, würden wir Euch vielleicht ernst nehmen. Aber Ihr habt ihn nicht mehr. Ihr seid ganz allein hier, mein alter Freund. Ihr habt weder den Bhelliom, noch die Ordensritter – nur den Rest von Ehlanas Leibgarde und hundert dieser berittenen Affen aus Pelosien. Ihr seid kaum der Beachtung wert. Wenn Ihr nach Hause zurückkehrt, verspricht Euch Cyrgon, den eosischen Kontinent die nächsten hundert Jahre in Ruhe zu lassen. Bis dahin seid Ihr längst tot, genau wie alle anderen, die Euch am Herzen liegen. Es ist wirklich kein schlechtes Angebot. Hundert Jahre Frieden nur dafür, daß ihr an Bord eines Schiffes geht und nach Cimmura zurückkehrt.«

»Und wenn ich es nicht tue?«

»Töten wir Euch – aber zuerst Eure Gemahlin, Eure Tochter und alle, die Euch etwas bedeuten. Sie werden nirgends auf der Welt sicher sein. Es gibt natürlich noch eine andere Möglichkeit. Ihr schließt Euch uns an. Cyrgon hätte Euch ein langes Leben zu bieten, länger als selbst Otha lebte. Er hat mich ausdrücklich ersucht, Euch dieses Angebot zu unterbreiten.«

»Übermittelt ihm meinen heißesten Dank – wenn Ihr ihm wieder einmal begegnet.«

»Ich schließe daraus, daß Ihr ablehnt?«

»Allerdings. Ich habe noch längst nicht soviel von Daresien gesehen, wie ich kennenlernen möchte. Ich werde also noch eine Weile bleiben. Aber ich lege nicht den geringsten Wert auf Eure Gesellschaft oder auf die anderer Knechte Cyrgons.«

»Genau das habe ich Cyrgon vorausgesagt, aber er bestand darauf, daß ich Euch sein Angebot unterbreite.«

»Wenn er so mächtig ist, warum versucht er dann, mich zu bestechen?«

»Aus Respekt, Sperber. Glaubt mir. Er respektiert Euch, weil Ihr Anakha seid. Dies verwirrt und fasziniert ihn gleichermaßen. Ich glaube, er möchte Euch wirklich gern kennenlernen. Ihr wißt ja, wie kindisch Götter manchmal sein können.«

»Da wir von Göttern sprechen – was steckt hinter dem Bündnis, das Cyrgon mit den Trollgöttern geschlossen hat?« Plötzlich dämmerte es Sperber. »Schon gut, Krager. Es ist mir jetzt selber klargeworden. Die Macht eines Gottes hängt von der Zahl seiner Anhänger ab. Die Cyrgai sind ausgestorben; deshalb ist Cyrgon nicht mehr als ein piepsiges Stimmchen, das in irgendeiner Ruine in Zentralcynesga hohle Töne spuckt – nur Lärm und nichts dahinter.«

»Da hat Euch jemand einen Bären aufgebunden, Sperber. Die Cyrgai sind alles andere als ausgestorben – wie Ihr am eigenen Leibe erfahren werdet, wenn Ihr darauf beharrt, in Tamuli zu bleiben. Cyrgon hat das Bündnis mit den Trollgöttern geschlossen, um die Trolle nach Daresien zu bringen. Eure Ataner sind ja recht beeindruckend, aber für Trolle keine gleichwertigen Gegner. Cyrgon ist äußerst sentimental, wenn es um sein erwähltes Volk geht. Er möchte keinen seiner Leute unnötigerweise in Scharmützeln mit einer Rasse von Monstrositäten verlieren. Deshalb hat er die Vereinbarung mit den Trollgöttern getroffen. Die Trolle sollen das Vergnügen haben, die Ataner zu töten – und zu fressen.« Krager trank den Weinbecher leer. »Allmählich langweilt mich unser Gespräch, Sperber, und mein Becher ist leer. Ich habe Cyrgon versprochen, Euch sein Angebot zu unterbreiten. Er bietet Euch die Chance, den Rest Eures Lebens in Frieden zu genießen. Ich rate Euch, packt diese Gelegenheit beim Schopf! Er wird Euch dieses Angebot kein zweites Mal machen. Also wirklich, alter Junge, es kann Euch doch völlig egal sein, was aus den Tamulern wird. Schließlich sind sie nichts weiter als gelbe Affen!«

»Kirchenpolitik, Krager. Unsere Heilige Mutter ist vorausschauend. Sagt Cyrgon, er soll sich sein Angebot an den Hut stecken, falls er einen trägt. Wir bleiben!«

»Es ist Eure Beerdigung, Sperber.« Krager lachte. »Vielleicht schicke ich sogar Blumen. Immerhin hatte ich das Vergnügen, mich mit zwei Anachronismen herumzuschlagen – Euch und Martel. Ich werde hin und wieder auf euer Andenken trinken – falls ich mich noch an euch erinnere.«

Und damit schwand das Trugbild des schäbigen Halunken.

»Das also ist Krager«, sagte Khalad eisig. »Ich bin froh, daß ich die Gelegenheit hatte, ihn kennenzulernen.«

»Was geht dir denn durch den Kopf?«

»Daß ich ihn liebend gern töten würde. Das wäre nur gerecht, Sperber. Ihr habt Martel bekommen, und Talen Adus. Also steht Krager eigentlich mir zu.«

»Ich habe nichts dagegen einzuwenden«, erklärte Sperber.

»War er betrunken?« fragte Kalten.

»Krager ist nie ganz nüchtern«, antwortete Sperber. »Aber er war nicht so blau, daß er unvorsichtig geworden wäre.« Er blickte sich um. »Wenn mich alle gleich hier und jetzt erinnern würden: ›ich hab's dir ja gesagt!‹, hätten wir es hinter uns. Ja, es wäre wahrscheinlich besser gewesen, wenn ich Krager getötet hätte, als wir ihn das letztemal in den Händen hatten. Aber wenn er bei der Wahl nicht vor der Hierokratie ausgesagt hätte, wäre Dolmant wahrscheinlich nicht Erzprälat geworden.«

»Ich glaube, damit könnte ich leben«, murmelte Ehlana.

»Majestät!« rügte Emban.

»Es war nicht ernstgemeint, Eminenz.«

»Seid Ihr sicher, daß Ihr wortgetreu wiedergegeben habt, was Krager sagte?« fragte Sephrenia.

»Ziemlich genau, kleine Mutter«, versicherte Khalad.

Sie runzelte die Stirn. »Es war eine List. Darüber sind wir uns doch einig? Krager hat uns nichts verraten, was wir nicht ohnedies gewußt oder zumindest geahnt haben.«

»Der Name Cyrgon ist bisher nicht gefallen, Sephrenia«, widersprach Vanion.

»Wahrscheinlich aus gutem Grund«, antwortete sie. »Ich brauche schon einiges mehr als Kragers unbewiesene Behauptung, ehe ich glaube, daß Cyrgon der Drahtzieher ist.«

»Irgend jemand muß es sein«, warf Tynian ein. »Jemand, der Einfluß genug hat, daß die Trollgötter auf ihn hören. Und das würde auf Krager gewiß nicht zutreffen.«

»Abgesehen davon, daß Krager Magie nicht einmal buchstabieren könnte, geschweige denn, sie zu wirken«, fügte Kalten hinzu. »Könnte irgendein Styriker diesen Zauber zuwege gebracht haben, kleine Mutter?«

Sephrenia schüttelte den Kopf. »Er ist äußerst schwierig«, gab sie zu. »Ein kleiner Fehler, und Sperbers Klinge hätte den echten Krager durchbohren können. Der Stoß der Klinge hätte im Turmzimmer begonnen und etwa eine Meile entfernt in Kragers Herz geendet.«

»Also gut.« Emban hatte die fleischigen Hände im Rücken verschränkt und stapfte in dem Gemach auf und ab. »Jetzt wissen wir, daß dieser scheinbare Aufstand heute nacht nur eine Täuschung war.«

Sperber schüttelte den Kopf. »Nein, Eminenz, das wissen wir nicht mit Sicherheit. Krager hat viel von Martel gelernt. Und den Mißerfolg eines Plans damit zu erklären, daß er von vornherein nicht ernstgemeint war, hört sich ganz nach Martel an.«

»Ihr habt ihn besser gekannt als ich.« Emban verzog das Gesicht. »Können wir denn überhaupt sicher sein, daß Krager und die anderen in Diensten eines Gottes stehen?«

»Nein, das können wir nicht, Emban«, antwortete Sephrenia. »Die Trollgötter sind in die Sache verwickelt. Sie könnten jene Phänomene bewirkt haben, die ein menschlicher Zauberer nicht zustande bringen kann. Wir haben es gewiß mit einem Zauberer zu tun; aber ob auch ein Gott daran beteiligt ist – von den Trollgöttern abgesehen natürlich –, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen.«

Emban ließ nicht locker. »Aber es könnte ein Gott sein?«

»Alles ist möglich, Eminenz.« Sie zuckte die Schultern.

Der kleine dicke Kirchenherr nickte. »Das wollte ich wissen. Jetzt sieht es ganz so aus, als müßte ich rasch nach Chyrellos zurück.«

»Ich fürchte, ich kann Euch nicht ganz folgen, Eminenz«, gestand Kalten.

»Wir werden die Ordensritter brauchen, Kalten«, erklärte Emban. »Allesamt.«

»Sie sind in Rendor im Einsatz, Eminenz«, gab Bevier zu bedenken.

»Rendor kann warten.«

»Da ist der Erzprälat aber möglicherweise anderer Ansicht«, warf Vanion ein. »Die Versöhnung mit den Rendorern ist seit über einem halben Jahrtausend ein Ziel unserer Heiligen Mutter Kirche.«

»Sie ist geduldig und wird warten. Sie wird warten müssen. Es handelt sich hier um eine ernste Krise, Vanion.«

»Ich werde Euch begleiten, Eminenz«, erbot sich Tynian. »Solange meine Schulter nicht ausgeheilt ist, bin ich hier ohnehin von keinem großen Nutzen. Und ich werde Sarathi die militärische Situation viel besser erklären können, als Ihr es vermöchtet. Dolmant hat eine pandionische Ausbildung, folglich wird er meine militärischen Ausführungen verstehen. Zur Zeit stehen wir mit heruntergelassenen Hosen im Freien – verzeiht meinen etwas derben Vergleich, Majestät«, wandte er sich entschuldigend an Ehlana.

»Es ist eine interessante Metapher, Ritter Tynian.« Sie lächelte. »Und sie beschwört ein faszinierendes Bild herauf.«

»Ich pflichte dem Patriarchen von Uzera bei«, fuhr Tynian fort. »Wir brauchen die Ordensritter unbedingt in Tamuli. Wenn wir sie nicht so schnell wie möglich hierherbringen, wächst uns die Situation über den Kopf.«

»Ich sende einen Kurier zu Tikume«, erbot sich Kring. »Er wird uns mehrere tausend berittene Peloi schicken. Wir tragen zwar keine Rüstung und verstehen nichts von Magie, aber viel vom Kämpfen!«

»Werdet ihr hier durchhalten können, bis die Ordensritter eintreffen, Vanion?« erkundigte sich Emban.

»Fragt Sperber, Emban. Er hat die Führung.«

»Könntet Ihr Euch das nicht verkneifen, Vanion?« wehrte Sperber ab. Er überlegte kurz. »Atan Engessa«, fragte er schließlich, »war es sehr schwierig, Eure Krieger zu überzeugen, daß es nicht widernatürlich ist, beritten zu kämpfen? Können wir vielleicht noch weitere Ataner dazu überreden?«

»Wenn ich ihnen erzähle, daß dieser Krager-Trunkenbold sie eine Rasse von Monstrositäten schimpfte, werden sie auf mich hören, Sperber-Ritter.«

»Gut. Dann hat Krager uns vielleicht mehr geholfen, als er ahnt. Seid Ihr davon überzeugt, daß Trolle am besten vom Rücken eines Pferdes anzugreifen sind, mein Freund?«

»Es war außerordentlich wirkungsvoll, Sperber-Ritter. Wir sind nie zuvor solchen Trollbestien begegnet. Sie sind größer als wir. Diejenigen, die noch keine Trolle gesehen haben, werden dies schwerlich glauben. Aber wenn ich sie erst überzeugt habe, sind sie gewiß bereit, auf Pferden zu kämpfen – falls Ihr genug von diesen großen Tiere auftreiben könnt.«

»Hat Krager irgendeine Bemerkung darüber gemacht, daß wir Diebe und Bettler als unsere Augen und Ohren einsetzen?« fragte Stragen.

»Jedenfalls nicht direkt, Durchlaucht«, antwortete Khalad.

»Damit haben wir eine Unbekannte in unserer Gleichung«, überlegte Stragen laut.

Kalten verzog das Gesicht. »Bitte laßt die Mathematik aus dem Spiel, Stragen! Ich hasse Mathematik!«

»Verzeihung. Wir können also nicht mit Sicherheit sagen, ob Krager davon weiß, daß wir die Gauner von Matherion als Spitzel einsetzen. Aber falls er es weiß, könnte er dieses Wissen nutzen, uns falsche Informationen zuzuspielen.«

»Daß der Gegner sich der Zauberei bedient hat, läßt leider darauf schließen, Stragen«, warf Caalador ein. »Zauberei könnte bewirkt haben, daß wir die Führer der Verschwörung zwar ins Haus gehen, aber nicht mehr herauskommen sahen. Unsere Feinde haben sich magischer Täuschungen bedient, weil sie wußten, daß wir sie beobachten!«

Stragen winkte zweifelnd ab. »Das steht noch nicht fest, Caalador«, meinte er. »Der Feind weiß vielleicht gar nicht, wie gut wir organisiert sind.«

Bevier machte ein sehr verärgertes Gesicht. »Wir sind hereingelegt worden, meine Freunde. Es war alles eine einzige große List – Armeen aus der Vergangenheit, wiedererweckte Helden, Vampire, Ghule und was sonst noch alles. Es diente alles nur dem Zweck, uns hierherzulocken – ohne die Ordensritter als Rückendeckung.«

»Warum haben unsere Gegner dann ihre Meinung geändert und uns aufgefordert, nach Hause zurückzukehren, Ritter Bevier?« fragte Talen.

»Vielleicht weil sie gemerkt haben, daß sie sich immer noch die Zähne an uns ausbeißen«, brummte Ulath. »Sie hatten bestimmt nicht damit gerechnet, daß wir den Angriff der Cyrgai so kraftvoll zurückschlagen oder hundert Trolle erlegen oder gar diesen Aufstand so vollkommen niederwerfen würden. Es ist durchaus möglich, daß wir unsere Feinde überrascht haben, sie vielleicht sogar ein wenig das Fürchten lehrten. Kragers Erscheinung könnte nichts als leeres Geprahle gewesen sein. Wir sollten vielleicht nicht übertrieben selbstsicher sein, aber auch nicht an uns zweifeln. Schließlich sind wir alle erfahrene Krieger, und wir haben bisher jeden Kampf gewonnen. Wir wollen doch das Spiel nicht wegen ein paar windiger Drohungen eines Trunkenbolds aufgeben.«

»Gut gebrüllt, Löwe«, lobte Tynian.

»Wir haben keine Wahl, Aphrael«, sagte Sperber zu seiner Tochter, als sie sich mit Sephrenia und Vanion allein in einer Kammer befanden, mehrere Etagen über der königlichen Gemächerflucht. »Emban und Tynian werden mindestens drei Monate für die Rückreise nach Chyrellos brauchen, und dann dauert es gute neun Monate, bevor die Ordensritter auf dem Landweg nach Daresien kommen können. Und selbst dann werden sie erst in den westlichen Königreichen sein.«

»Warum fahren sie nicht mit dem Schiff?« fragte die Prinzessin schmollend und drückte Rollo an die Brust.

»Es sind hunderttausend Ordensritter, Aphrael«, erinnerte Vanion, »fünfundzwanzigtausend in jedem der vier Orden. Ich glaube, daß es auf der ganzen Welt nicht genug Schiffe gäbe, so viele Männer und Pferde zu transportieren. Wir können ein paar tausend Ritter mit Schiffen hierherbringen lassen, aber die große Mehrzahl wird den Landweg nehmen müssen. Doch selbst mit diesen paar tausend Streitern können wir frühestens in einem halben Jahr rechnen. Und bis sie eintreffen, sind wir hier allein.«

»Mit heruntergelassenen Hosen«, fügte Aphrael hinzu.

»Hüte deine Zunge junge Dame!« wies Sperber sie zurecht.

Sie tat es mit einem Schulterzucken ab. »Meine Instinkte sagen mir, daß es eine sehr schlechte Idee ist. Ich gab mir sehr viel Mühe, einen sicheren Platz für Bhelliom zu finden. Und nun, da es einige kleinere Schwierigkeiten gibt, wollt ihr ihn alle gleich wieder zurückholen! Seid ihr sicher, daß ihr die Gefahr nicht überschätzt? Ulath könnte recht haben, wißt ihr. Vielleicht war alles, was Krager zu dir sagte, Sperber, nichts als Prahlerei gewesen sein. Ich bin nach wie vor der Meinung, daß du durchaus ohne Bhelliom zurechtkommen wirst.«

»Da muß ich widersprechen«, warf Sephrenia ein. »Ich kenne die Elenier besser als du, Aphrael. Es ist wider ihre Natur, Gefahrensituationen zu übertreiben. Eher ist das Gegenteil der Fall.«

»Es geht darum, daß deine Mutter in Gefahr geraten könnte«, erklärte Sperber seiner Tochter. »Bis Tynian und Emban die Ordensritter nach Tamuli bringen, sind wir ernsthaft im Nachteil. Die Trollgötter mögen dumm sein, aber beim letzten Mal konnten wir sie nur mit Bhellioms Hilfe besiegen. Wenn ich mich mich recht entsinne, warst sogar du machtlos gegen sie.«

»Das ist gemein, Sperber!« brauste sie auf.

»Ich möchte nur, daß du die Dinge siehst, wie sie sind, Aphrael. Ohne den Bhelliom befinden wir alle uns hier in ernster Gefahr – und ich meine damit nicht nur deine Mutter und unsere Freunde. Wenn Krager die Wahrheit gesagt hat und wir es tatsächlich mit Cyrgon zu tun haben, mußt du wissen, daß er mindestens ebenso gefährlich ist, wie es Azash war.«

»Bist du ganz sicher, daß du dir diese fadenscheinigen Ausreden nicht nur deshalb einfallen läßt, weil du Bhelliom wiederhaben möchtest, Sperber?« fragte sie. »Niemand kann sich seiner Verlockung wirklich entziehen. Unbegrenzte Macht kann ein gewaltiger Anreiz sein!«

»Du solltest mich besser kennen, Aphrael«, erwiderte Sperber gekränkt. »So versessen bin ich nun wirklich nicht auf Macht!«

»Wenn unser Feind tatsächlich Cyrgon ist, würde er als erstes die Styriker vernichten«, mahnte Sephrenia die kleine Göttin. »Er haßt uns, weil wir gegen seine Cyrgai vorgegangen sind.«

»Warum rottet ihr euch alle gegen mich zusammen?« fragte Aphrael heftig.

»Weil du starrköpfig bist«, antwortete Sperber. »Bhelliom ins Meer zu werfen, war zum damaligen Zeitpunkt eine gute Idee. Aber inzwischen hat die Lage sich geändert. Ich weiß, daß du Fehler nicht zugeben willst, aber das war einer!«

»Hüte deine Zunge!«

»Wir stehen vor einer ganz neuen Situation, Aphrael«, sagte Sephrenia geduldig. »Du hast mir oft genug gestanden, daß du die Zukunft nicht deutlich sehen kannst. Also hast du auch nicht vorhersehen können, was hier in Tamuli geschehen würde. Demnach hast du im Grunde gar keinen Fehler gemacht, Schwesterlein. Aber du mußt umdenken können! Man kann nicht alles zu Bruch gehen lassen, nur um seinen Ruf der Unfehlbarkeit zu wahren!«

Aphrael gab nach. »Oh, na gut!« Sie warf sich in einen Sessel und lutschte am Daumen, während sie Sperber und Sephrenia anfunkelte.

»Hör auf damit!« befahlen ihr die beiden im Chor.

Aphrael beachtete sie nicht. »Ich will euch dreien nur sagen, daß ich sehr verärgert über euch bin. Ihr wart unhöflich und habt keinerlei Rücksicht auf meine Gefühle genommen. Ich schäme mich euer. Tut, was ihr nicht lassen könnt! Holt euch den Bhelliom, wenn ihr euch einbildet, daß ihr ihn unbedingt braucht!«

»Äh – Aphrael«, sagte Sperber behutsam. »Wir haben keine Ahnung, wo er ist, wie du weißt?«

»Das ist nicht meine Schuld«, schmollte sie.

»O doch. Du hast sehr erfolgreich dafür gesorgt, daß wir alle nicht wußten, wo wir uns befanden, als du den Stein ins Meer geworfen hast.«

»Du bist wirklich gemein, Vater!«

Plötzlich kam Sperber ein schrecklicher Gedanke. »Du weißt doch hoffentlich, wo er ist, oder?« fragte er mit einer Spur Panik.

»Also wirklich« Sperber. Natürlich weiß ich, wo Bhelliom ist. Oder hast du wirklich gedacht, ich würde zulassen, daß ihr ihn irgendwohin werft, wo ich ihn nicht mehr finden kann?«