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Der Frühling war noch jung, und noch trug der Regen die anhaltende Kälte des Winters mit sich. Ein weiches, silbriges Nieseln sank aus dem Nachthimmel herab. Es umwob Cimmuras quadratische Wachtürme mit Schleiern, ließ die Fackeln zu beiden Seiten des breiten Tores zischen und verlieh den Pflastersteinen der zum Tor führenden Straße einen schwarzen Glanz. Ein einsamer Reiter näherte sich der Stadt. Er hatte einen schweren Reiseumhang um sich geschlungen und ritt einen hochbeinigen zottigen Fuchshengst mit langer Nase und wilden Augen. Der Reiter war ein großer Mann mit schwerem Knochenbau und kräftigen Muskeln, doch ohne eine Spur überschüssigen Fettes. Sein Haar war dicht und schwarz, und seine Nase verriet, daß sie irgendwann einmal gebrochen worden war. Er ritt lässig, doch mit der eigentümlichen Wachsamkeit eines ausgebildeten Kriegers.

Der mächtige Fuchs schüttelte abwesend die Nässe aus Mähne und Zottelfell, als sie sich dem Osttor der Stadt näherten und schließlich im rötlichen Fackelschein unmittelbar außerhalb der Mauer hielten.

Ein stoppelbärtiger Torwächter in rostbeflecktem Harnisch und Helm und einem nachlässig über eine Schulter hängenden, mit Flicken besetzten grünen Umhang trat aus der Wachstube, blieb schwankend stehen und blickte den Reisenden fragend an.

»Bin nur auf der Durchreise, Nachbar«, sagte der große Mann ruhig. Er schob die Kapuze zurück.

»Oh!« sagte der Wächter. »Ihr seid es, Prinz Sperber. Hab' Euch nicht erkannt. Willkommen zu Haus.«

»Danke«, antwortete Sperber. Er roch den billigen Wein im Atem des Mannes.

»Möchtet Ihr, daß ich dem Schloß Eure Rückkehr melde, Hoheit?«

»Nicht nötig. Ich kann mein Pferd selbst versorgen.« Sperber konnte Zeremonien nicht ausstehen – schon gar nicht mitten in der Nacht. Er lehnte sich aus dem Sattel und steckte dem Wächter eine kleine Münze zu. »Geht wieder in die Wachstube, Nachbar. Ihr erkältet Euch nur, wenn Ihr im Regen stehenbleibt.« Er stupste sein Pferd und ritt durchs Tor.

Das Stadtviertel gleich hinter der Mauer war ärmlich. Die heruntergekommenen, armseligen Häuser kauerten dicht beieinander, ihr erster Stock ragte über die schmutzigen, nassen Straßen. Sperber ritt eine schmale Kopfsteingasse entlang. Das Klappern der beschlagenen Hufe seines Fuchses hallte von den Häuserwänden wider. Ein Wind war aufgekommen, der an Fensterläden rüttelte und die primitiven Aushängeschilder an ihren rostigen Haken schüttelte.

Ein streunender Hund kam aus einer Seitengasse gerannt und bellte Sperber und sein Pferd wichtigtuerisch an. Der Hengst drehte den Kopf und bedachte den Köter mit einem drohenden Blick. Der Hund hörte zu bellen auf, zog den dünnen Schwanz ein und wich ein Stück zurück. Herausfordernd stapfte das Pferd auf ihn zu. Der Hund winselte, dann warf er sich jaulend herum und ergriff die Flucht. Sperbers Hengst schnaubte abfällig.

»Fühlst du dich jetzt besser, Faran?« fragte Sperber den Fuchs.

Farans Ohren zuckten.

»Können wir dann weiterreiten?«

An einer Kreuzung brannte flackernd eine Fackel. Eine vollbusige junge Hure in billigem Kleid stand durchnäßt im rötlichen Lichtkreis. Ihr dunkles Haar klebte am Kopf, Streifen durchzogen ihre Schminke, und sie wirkte niedergeschlagen.

Sperber zügelte sein Pferd. »Was machst du hier mitten im Regen, Naween?«

»Ich habe auf Euch gewartet, Sperber«, antwortete sie kokett mit verschmitztem Blick.

»Oder auf sonst jemand?«

»Natürlich. Das ist schließlich mein Gewerbe, Sperber. Aber ich schulde Euch noch etwas. Soll ich meine Schuld nicht endlich begleichen?«

Sperber ging gar nicht erst auf die Bemerkung ein. »Wieso arbeitest du auf der Straße?«

»Shanda und ich hatten Streit.« Sie zuckte die Schultern. »Da beschloß ich, mich selbständig zu machen.«

»Du bist nicht ausgekocht genug für ein Straßenmädchen, Naween.« Er steckte die Finger in den Beutel an seiner Seite, fischte mehrere Münzen heraus und gab sie ihr. »Nimm dir eine Kammer in irgendeinem Gasthaus und bleib ein paar Tage von der Straße weg. Ich werde mit Platime reden. Mal sehen, ob wir nicht etwas für dich finden.«

Sie kniff die Augen zusammen. »Das braucht Ihr nicht, Sperber. Ich kann für mich selbst sorgen.«

»Natürlich kannst du das. Deshalb stehst du ja im Regen. Tu jetzt erst einmal, was ich sage, Naween. Für Diskussionen ist es zu spät und zu naß!«

»Jetzt schulde ich Euch noch mehr, Sperber. Seid Ihr wirklich sicher …«

»Ganz sicher, kleine Schwester. Ich bin jetzt verheiratet, du erinnerst dich doch?«

»Na und?«

»Schon gut. Sieh zu, daß du ins Trockene kommst.« Sperber ritt kopfschüttelnd weiter. Er mochte Naween, aber sie war nie und nimmer imstande, für sich selbst zu sorgen.

Er ritt über einen stillen Platz, an dem alle Läden und Verkaufsstände geschlossen hatten. In dieser Nacht waren nur wenige Leute unterwegs; so gab es kaum Gelegenheiten, Geschäfte zu machen.

Sperbers Gedanken schweiften zurück in die vergangenen anderthalb Monate. Niemand in Lamorkand war bereit gewesen, mit ihm zu reden. Erzprälat Dolmant war ein weiser Mann, erfahren in Politik und Kirchenlehre, aber er wußte bedauerlich wenig darüber, was das einfache Volk dachte. Geduldig hatte Sperber ihm zu erklären versucht, wie sinnlos es war, einen Ordensritter auszuschicken, sich umzuhören. Dolmant jedoch hatte darauf bestanden, und Sperbers Eid verpflichtete ihn zum Gehorsam. So hatte er sechs Wochen in den häßlichen Städten von Südlamorkand vergeudet, wo niemand bereit gewesen war, sich über mehr als das Wetter mit ihm zu unterhalten. Und was das Schlimmste war, Dolmant gab ganz offensichtlich Sperber die Schuld für seine eigene Fehleinschätzung.

In einer dunklen Nebenstraße, wo das Wasser von den Traufen eintönig auf das Kopfsteinpflaster tropfte, spürte Sperber, wie sich Farans Muskeln plötzlich spannten. »Tut mir leid«, sagte er leise, »ich hab' nicht aufgepaßt.« Jemand beobachtete ihn. Er konnte ganz deutlich die Feindseligkeit spüren, die sein Pferd alarmiert hatte, denn Faran war ein Streitroß und reagierte instinktiv darauf. Sperber murmelte einen Zauber in styrischer Sprache, die dazugehörenden Handbewegungen verbarg sein Umhang. Langsam gab er den Zauber frei, um zu verhindern, daß der Fremde es bemerkte, wer immer er sein mochte.

Der heimliche Beobachter war kein Elenier. Das spürte Sperber sogleich. Er forschte tiefer. Dann runzelte er die Stirn. Es waren mehrere, und keine Styriker. Geduldig wartete er auf einen Hinweis, was die Identität der Fremden betraf.

Die Erkenntnis traf Sperber wie ein Schock. Er fröstelte. Die Beobachter waren nichtmenschlich. Sperber verlagerte sein Gewicht im Sattel und ließ die Hand unmerklich zum Schwertgriff gleiten.

Abrupt schwand das Gefühl, beobachtet zu werden, und Faran erschauderte vor Erleichterung. Er drehte seinen häßlichen Kopf und warf seinem Reiter einen argwöhnischen Blick zu.

»Frag mich nicht, Faran«, sagte Sperber, »ich weiß es auch nicht.« Aber das stimmte nicht ganz. Die Geistberührung in der Dunkelheit war ihm vage vertraut gewesen. Doch diese Vertrautheit weckte Fragen in Sperber, denen er sich lieber nicht stellen wollte.

Am Schloßtor hielt Sperber nur kurz inne und wies die Soldaten streng an, nicht das ganze Haus zu wecken. Dann saß er im Hof ab.

Ein junger Mann trat aus der Stallung auf den regennassen Hof. »Warum habt Ihr nicht Bescheid geben lassen, daß Ihr heimkommt, Sperber?« fragte er leise.

»Weil ich Paraden und wilde Feiern mitten in der Nacht nicht mag«, antwortete Sperber seinem Knappen, während er die Kapuze zurückwarf. »Was machst du so spät noch? Ich habe deiner Mutter versprochen, dafür zu sorgen, daß du genügend Schlaf bekommst. Du wirst mich in Schwierigkeiten bringen, Khalad.«

»Soll ich darüber lachen?« Khalads Stimme war schroff. Er nahm Farans Zügel. »Kommt herein, Sperber. Ihr werdet rosten, wenn Ihr so lange im Regen bleibt.«

»Du bist genauso schlimm wie dein Vater war!«

»Das ist eine alte Eigenart unserer Familie.« Khalad führte den Prinzgemahl und sein übellauniges Streitroß in den nach Heu duftenden Stall, den der goldene Schein von zwei Laternen erhellte. Khalad war ein stämmiger Bursche mit borstigem schwarzem Haar und einem kurzgestutzten Bart. Er trug eine enge Kniehose und ärmellose Weste, beides aus schwarzem Leder. Von seinem Gürtel hing ein schwerer Dolch, und um seine Handgelenke trug er stählerne Armreifen. Er hatte ganz die Art seines Vaters und sah ihm so ähnlich, daß die wehmütige Erinnerung Sperber einen Stich gab. »Ich dachte, Talen würde mit Euch zurückkommen«, sagte Sperbers Knappe, während er Faran den Sattel abnahm.

»Er ist erkältet. Seine Mutter – und deine – war dagegen, daß er sich bei diesem Wetter ins Freie begibt, und ich hatte wahrhaftig keine Lust, mich mit ihnen anzulegen.«

»Kluge Entscheidung.« Khalad klatschte Faran abwesend auf die Nase, als der mächtige Fuchs ihn zu beißen versuchte. »Wie geht es ihnen?«

»Euren Müttern? Gut. Aslade bemüht sich immer noch, Elys ein paar Pfunde anzufüttern, aber damit hat sie nicht viel Glück. Wie hast du erfahren, daß ich in der Stadt bin?«

»Einer von Platimes Gaunern sah Euch durchs Tor kommen und gab sofort Bescheid.«

»Das hätte ich eigentlich wissen müssen. Du hast doch nicht etwa meine Gemahlin aufgeweckt?«

»Das würde ich nie, solange Mirtai vor ihrer Tür Wache hält! Gebt mir Euren nassen Umhang, Hoheit. Ich werde ihn in der Küche zum Trocknen aufhängen.«

Sperber brummte und nahm den durchgeweichten Umhang ab.

»Das Kettenhemd ebenfalls, Sperber«, fügte Khalad hinzu, »bevor es sich ganz in Rost auflöst.«

Sperber nickte, öffnete den Schwertgürtel und plagte sich aus dem Kettenhemd. »Wie kommt ihr mit eurer Ausbildung voran?«

Khalad brummelte etwas Unverständliches. »Ich habe noch nichts gelernt, was ich nicht bereits konnte. Unser Vater war ein viel besserer Lehrmeister als der beste Ausbilder des Ordenshauses. Eure Idee wird sich nicht verwirklichen lassen, Sperber. Die anderen Novizen sind allesamt Edelleute, und wenn meine Brüder und ich sie auf dem Übungsplatz besiegen, nehmen sie es krumm. Wir machen uns jedesmal Feinde, wenn wir uns nur umdrehen.« Er hob den Sattel von Farans Rücken und über eine Boxenabtrennung. Flüchtig legte er die Hand auf den Rücken des großen Fuchses, dann bückte er sich, hob eine Handvoll Stroh auf und begann ihn abzureiben.

»Weck irgendeinen Stallburschen und überlasse ihm das«, wies Sperber ihn an. »Ist in der Küche noch irgend jemand wach?«

»Ich glaube, die Bäcker sind bereits auf.«

»Bitte einen, daß er mir etwas zum Essen herrichtet. Es ist lange her seit dem Mittag.«

»Wird erledigt. Was habt Ihr so lange in Chyrellos getan?«

»Ich mußte einen kleinen Abstecher nach Lamorkand machen. Der Bürgerkrieg dort wird immer erbitterter, und der Erzprälat hatte den Wunsch, daß ich mich ein bißchen umsehe.«

»Ihr hättet Eurer Gemahlin eine Botschaft senden sollen. Sie hat vorhin beschlossen, Mirtai nach Euch suchen zu lassen.« Khalad grinste. »Ich fürchte, Ihr müßt wieder mit einer Standpauke rechnen, Sperber.«

»Daran bin ich gewöhnt. Ist Kalten im Schloß?«

Khalad nickte. »Das Essen ist hier besser und man erwartet nicht, daß er dreimal am Tag betet. Außerdem hat er ein Auge auf die Kammerzofen geworfen, glaube ich.«

»Das überrascht mich nicht. Schick ihn in die Küche, ich möchte mit ihm reden. Aber vorher will ich noch ins Badehaus.«

»Ich fürchte, das Wasser ist kalt. Hier läßt man die Feuer nachts ausgehen.«

»Wir sind Soldaten Gottes, Khalad. Man erwartet von uns, daß wir alle Unbilden tapfer ertragen.«

»Ich werde versuchen, mir das zu merken, Hoheit.«

Das Wasser im Badehaus war tatsächlich ziemlich kalt, und Sperber blieb nicht lange. Er schlüpfte in einen weichen weißen Morgenrock und schritt durch die dämmrigen Korridore des Schlosses zur hellerleuchteten Küche, wo Khalad mit dem verschlafen aussehenden Kalten wartete.

»Heil, edler Prinzgemahl«, begrüßte Kalten ihn trocken. Der alte Freund war offenbar nicht sehr erfreut darüber, daß man ihn mitten in der Nacht aus dem warmen Bett geholt hatte.

»Heil, edler Jugendgefährte des edlen Prinzgemahls«, entgegnete Sperber.

»Also, das ist ein umständlicher Titel«, brummte Kalten säuerlich. »Was ist so wichtig, daß es nicht warten könnte?«

Sperber setzte sich an einen der Tische, und ein Bäcker in weißem Kittel brachte ihm eine Platte mit Roastbeef und einem noch dampfenden Brotlaib, frisch aus dem Ofen.

»Danke, Nachbar«, sagte Sperber zu ihm.

»Wo warst du, Sperber?« Kalten setzte sich ihm gegenüber an den breiten Tisch; er hielt eine Weinkaraffe in der einen, einen Zinnbecher in der anderen Hand.

»Sarathi hat mich nach Lamorkand geschickt«, erwiderte Sperber und riß ein großes Stück Brot vom Laib.

»Deine teure Gemahlin hat inzwischen jedem im Schloß die Hölle heiß gemacht, weißt du.«

»Schön, daß sie sich um mich sorgt.«

»Wir waren hier weniger darüber erfreut. Was wollte Dolmant denn aus Lamorkand?«

»Informationen. Er hatte Zweifel an der Wahrheit einiger Berichte.«

»Zweifel? Verstehe ich nicht. Die Lamorker gehen doch nur ihrem üblichen Zeitvertreib nach, dem Bürgerkrieg.«

»Diesmal scheint es ein bißchen anders zu sein. Erinnerst du dich an Graf Gerrich?«

»Der uns in Baron Alstroms Burg belagerte? Ich habe ihn nie persönlich kennengelernt, aber seinen Namen hab' ich mir gemerkt.«

»Es hat den Anschein, als wäre Gerrich der große Nutznießer aller Streitigkeiten in Westlamorkand, und fast jeder dort ist überzeugt, daß er ein Auge auf den Thron geworfen hat.«

»Na und?« Kalten bediente sich von Sperbers Brotlaib. »Jeder Baron in Lamorkand würde gern auf dem Thron sitzen. Was beunruhigt Dolmant in diesem Fall?«

»Gerrich hat Bündnisse außerhalb der lamorkischen Grenzen geschlossen. Ein paar von diesen pelosischen Grenzbaronen sind mehr oder minder unabhängig von König Soros.«

»In Pelosien ist jeder unabhängig von Soros. Man kann ihn nicht gerade als guten König bezeichnen. Für meinen Geschmack betet er ein bißchen zuviel.«

»Ein seltsamer Standpunkt für einen Soldaten Gottes«, murmelte Khalad.

»Alles Übertriebene ist ungesund, Khalad«, erklärte Kalten ihm. »Zu viel beten trübt den Verstand.«

»Wie dem auch sei«, fuhr Sperber fort, »falls es Gerrich gelingt, diese pelosischen Barone ins Schlepptau zu nehmen, wenn er nach König Friedahls Thron greift, wird dem König nichts anderes übrigbleiben, als Pelosien den Krieg zu erklären. Die Kirche ist bereits in einen Krieg in Rendor verwickelt, und Dolmant legt keinen Wert auf eine zweite Front.« Er machte eine Pause. »Aber ich bin noch auf etwas anderes gestoßen«, fuhr er fort. »Zufällig hörte ich ein Gespräch, das nicht für meine Ohren bestimmt war. Dabei fiel der Name ›Fyrchtnfles‹. Sagt er euch etwas?«

Kalten zuckte die Schultern. »Er war einst der Nationalheld der Lamorker, aber das ist schon lange her. Angeblich war Fyrchtnfles etwa zwölf Fuß groß, aß jeden Morgen einen Ochsen zum Frühstück und trank jeden Abend ein großes Faß Met. Der Sage nach konnte er Felsen mit einem einzigen Blick zerschmettern und die Sonne mit einer Hand anhalten. Aber das könnte natürlich ein bißchen übertrie ben sein.«

»Sehr komisch. Die Gruppe, die ich belauschte, sprach davon, daß er zurückgekehrt sei.«

»Na, das wär' was! Man erzählt, daß sein engster Freund ihn umgebracht hat. Stach ihn in den Rücken und stieß einen Speer durch sein Herz. Ihr wißt ja, wie Lamorker sind.«

»Es ist ein merkwürdiger Name«, meinte Khalad. »Was bedeutet er?«

»Fyrchtnfles?« Kalten kratzte sich am Kopf. »›Furchteinflößender‹, würde ich sagen. Lamorker Mütter lassen sich so was einfallen, wenn ihre Kinder nicht artig sind.« Er leerte seinen Becher und hielt die Kanne darüber, bis sie auch die letzten paar Tropfen hergab.

»Sprechen wir noch länger darüber?« fragte er. »Wenn wir auch den Rest der Nacht hier sitzen, gehe ich noch Wein holen. Aber um ehrlich zu sein, Sperber, ich würde lieber in mein kuscheliges warmes Bett zurück!«

»Und zu Eurer kuscheligen warmen Kammerzofe?« fügte Khalad hinzu.

»Sie wird sich einsam und verlassen fühlen.« Kalten zuckte die Schultern. Dann wurde er ernst. »Wenn die Lamorker wieder von Fyrchtnfles zu reden anfangen, fühlen sie sich bedroht. Fyrchtnfles wollte die Welt beherrschen. Jedesmal, wenn die Lamorker ihn beschwören, ist es ein Anzeichen dafür, daß sie sich außerhalb ihrer Grenzen Ellbogenfreiheit verschaffen wollen.«

Sperber schob seine Platte zur Seite. »Jetzt, mitten in der Nacht, ist es zu spät, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Geh wieder ins Bett, Kalten. Du auch, Khalad. Morgen reden wir weiter darüber. Ich sollte meiner Gemahlin jetzt wirklich einen Höflichkeitsbesuch abstatten.« Er erhob sich.

»Mehr nicht?« Kalten blickte ihn an. »Nur einen Höflichkeitsbesuch?«

»Es gibt viele Arten von Höflichkeit, Kalten.«

Die Korridore im Schloß wurden von den Kerzen, die in großen Abständen in Wandhalterungen steckten, schummrig beleuchtet. Sperber ging leise am Thronsaal vorbei zu den königlichen Gemächern. Wie üblich döste Mirtai in einem Sessel vor der Tür. Sperber blieb stehen und betrachtete die tamulische Riesin. Wenn sie schlief, war ihr Gesicht von ergreifender Schönheit. Die Haut sah im Kerzenschein golden aus, und ihre Wimpern waren so lang, daß sie die Wangen berührten. Sie hatte ihr Schwert auf dem Schoß und die Rechte leicht um den Griff gelegt.

»Glaubt nicht, daß Ihr Euch unbemerkt anschleichen könnt, Sperber«, sagte sie, ohne die Augen zu öffnen.

»Woher habt Ihr gewußt, daß ich es bin?«

»Ich kann Euch riechen. Ihr Elenier vergeßt offenbar, daß wir Nasen haben.«

»Aber wie konntet Ihr riechen, daß ich es bin? Ich habe eben erst gebadet!«

»Auch das ist mir nicht entgangen. Ihr hättet Euch die Zeit nehmen sollen, das Wasser ein bißchen mehr aufzuheizen.«

»Manchmal versetzt Ihr mich wirklich in Erstaunen, wißt Ihr das?«

»Dann seid Ihr leicht in Erstaunen zu versetzen, Sperber.« Sie hob die Lider. »Wo seid Ihr gewesen? Ehlana war der Verzweiflung nahe!«

»Wie geht es ihr?«

»Wie immer. Wollt Ihr sie denn nie erwachsen werden lassen? Ich bin's allmählich leid, einem Kind zu gehören.« Mirtai betrachtete sich als Eigentum Königin Ehlanas – was sie jedoch nicht daran hinderte, die königliche Familie von Elenien mit eiserner Hand zu regieren und zu entscheiden, was für sie gut war und was nicht. Brüsk hatte sie alle Versuche der Königin unterbunden, sie zur Gefährtin zu machen. Eine atanische Tamulerin und ihre Rasse, behauptete Mirtai, sei vom Wesen her ungeeignet für die Freiheit. Sperber neigte stark dazu, Mirtai beizupflichten, denn er bezweifelte nicht, daß Mirtai binnen kürzester Zeit ganze Städte entvölkern könnte, wenn man sie ihren Instinkten folgen ließ.

Mit unbeschreiblicher Anmut erhob sie sich. Sie war gut vier Zoll größer als Sperber, und wieder hatte er das seltsame Gefühl zu schrumpfen, als er zu der Riesin aufblickte. »Weshalb habt Ihr so lange gebraucht?« fragte sie.

»Ich mußte nach Lamorkand.«

»War das Eure Idee?«

»Nein. Dolmant hat mich geschickt.«

»Sagt das Ehlana. Klipp und klar! Falls sie glaubt, Ihr hättet Euch selbst zu der Reise entschlossen, wird die Streiterei wochenlang dauern, und dieses ständige Gezänk geht mir auf die Nerven.« Sie brachte den Schlüssel zum königlichen Schlafgemach zum Vorschein und blickte Sperber durchdringend an. »Seid sehr nett zu ihr, Sperber. Sie hat Euch unbeschreiblich vermißt und braucht jetzt einen greifbaren Beweis Eurer Zuneigung. Und vergeßt nicht, die innere Tür des Schlafgemachs zu verriegeln. Für gewisse Dinge ist Eure Tochter noch ein wenig zu jung.« Sie schloß die Tür auf.

»Mirtai, müßt Ihr uns wirklich jede Nacht einsperren?«

»Ja. Bevor ich nicht sicher bin, daß keiner von euch hier draußen herumwandert, kann ich nicht schlafen.«

Sperber seufzte. »Ach übrigens«, sagte er. »Kring war in Chyrellos. Wahrscheinlich taucht er in einigen Tagen hier auf, um wieder mal um Eure Hand anzuhalten.«

»Wird auch Zeit!« Sie lächelte. »Seit seinem letzten Heiratsantrag sind drei Monate vergangen. Ich dachte schon, er liebt mich nicht mehr.«

»Werdet Ihr ihn je erhören?«

»Das wird sich zeigen. Weckt jetzt Eure Gemahlin, Sperber. Ich werde Euch am Morgen wieder herauslassen.« Sie schob ihn sanft durch die Tür und verschloß sie hinter ihm sogleich wieder.

Sperbers Tochter, Prinzessin Danae, lag zusammengekuschelt in einem großen Sessel am Kamin. Danae war jetzt sechs. Sie hatte schwarzes Haar, eine Haut so weiß wie Milch, große dunkle Augen und ein rosiges Mündchen. Sie war ganz junge Dame, gab sich ernst und sehr erwachsen. Dennoch war ein arg mitgenommenes Plüschtier namens Rollo ihr ständiger Begleiter. Prinzessin Danae hatte Rollo von ihrer Mutter geerbt. Wie üblich hafteten Grasflecken an den zierlichen Füßen des kleinen Mädchens. »Du hast dir Zeit gelassen, Sperber«, tadelte sie ihren Vater.

»Danae«, rügte er sie seinerseits, »du weißt genau, daß du mich nicht beim Namen nennen sollst! Wenn deine Mutter das hört, wird sie anfangen, Fragen zu stellen.«

»Sie schläft.« Danae zuckte die Schultern.

»Bist du ganz sicher?«

Sie bedachte ihn mit einem niederschmetternden Blick. »Natürlich bin ich sicher! Ich mache keine Fehler! Wie du weißt, kann ich dafür sorgen, daß niemand uns hört. Wo warst du?«

»Ich mußte nach Lamorkand.«

»Und auf den naheliegenden Gedanken, Mutter Bescheid zu geben, bist du wohl nicht gekommen? Die letzten paar Wochen war sie unerträglich!«

»Ich weiß. Das habe ich inzwischen von mehreren Seiten gehört. Aber ich wußte nicht, daß ich so lange fort sein würde. Ich bin froh, daß du wach bist. Vielleicht kannst du mir helfen.«

»Ich werd's mir überlegen – wenn du lieb zu mir bist.«

»Ich will es versuchen. Was weißt du über Fyrchtnfles?«

»Er war ein Barbar. Aber schließlich war er Elenier; da kann man ja nichts anderes erwarten.«

»Deine Vorurteile kommen wieder mal durch!«

»Niemand ist vollkommen. Woher rührt dein plötzliches Interesse an alten Geschichten?«

»In Lamorkand geht das Gerücht, daß Fyrchtnfles zurückgekehrt ist. Dort sitzt alle Welt mit ehrfürchtiger Miene herum und wetzt die Schwerter. Was steckt wirklich dahinter?«

»Fyrchtnfles war vor drei- oder viertausend Jahren ihr König. Kurz nachdem ihr Elenier das Feuer entdeckt hattet und aus euren Höhlen gekrochen seid.«

»Ein bißchen mehr Respekt, bitte.«

»Gewiß, Vater. Dieser Barbar, Fyrchtnfles, schmiedete die Lamorker zu einer Art Einheit zusammen. Dann machte er sich daran, die Welt zu erobern. Die Lamorker waren sehr beeindruckt von ihm. Er betete jedoch die alten lamorkischen Götter an, und deine elenische Kirche fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, daß ein Heide auf dem Thron der ganzen Welt sitzen könnte. Deshalb ließ sie ihn ermorden.«

»So etwas würde die Kirche niemals tun!« sagte Sperber entschieden.

»Möchtest du die Geschichte hören oder ein theologisches Streitgespräch führen? Nachdem Fyrchtnfles beseitigt war, schlitzten lamorkische Priester ein paar Hühnern den Bauch auf und spielten mit ihren Eingeweiden herum, um die Zukunft daraus zu lesen. Ein wirklich abscheulicher Brauch, Sperber. Und der Geruch!« Sie schauderte.

»Was siehst du mich an? Ich hab's nicht erfunden.«

»Ihre Augurien, wie die Lamorker es nannten, sagten ihnen voraus, daß Fyrchtnfles eines Tages zurückkehren und dort weitermachen würde, wo er aufgehört hatte, und daß er die Lamorker zu den Beherrschern der Welt machen würde.«

»Soll das heißen, sie glauben wirklich daran?«

»Früher haben sie's geglaubt.«

»Es gibt auch Gerüchte über eine Rückkehr zur Anbetung alter heidnischer Götter.«

»Damit ist zu rechnen. Wenn ein Lamorker über Fyrchtnfles nachzudenken beginnt, holt er dabei die alten Götter aus der Versenkung. Ist das nicht töricht? Gibt es denn nicht genügend echte Götter für sie?«

»Die alten lamorkischen Götter sind also nicht echt

»Natürlich nicht! Wo hast du deinen Verstand gelassen, Sperber?«

»Die Trollgötter sind echt. Was ist da für ein Unterschied?«

»Ein riesiger, Vater. Das weiß doch jedes Kind.«

»Wenn du es sagst, wird es schon stimmen. Wie wär's, wenn du jetzt wieder ins Bett verschwindest?«

»Erst, wenn du mir einen Kuß gegeben hast.«

»Oh, entschuldige. Ich war in Gedanken.«

»Achte lieber auf die wirklich wichtigen Dinge, Sperber. Oder möchtest du, daß ich dahinwelke?«

»Natürlich nicht!«

»Dann gib mir einen Kuß.«

Er tat es. Wie immer duftete sie nach Gras und Bäumen. »Wasch dir die Füße«, riet er ihr.

»Muß das sein?«

»Möchtest du deiner Mutter diese Grasflecken eine Woche lang erklären müssen?«

»Ist das alles, was ich von dir bekomme?« protestierte sie. »Einen dürftigen Kuß und Badeanweisungen?«

Er lachte, hob sie hoch und küßte sie wieder – mehrmals. Dann setzte er sie zu Boden. »Und jetzt marsch, ab mit dir!«

Sie verzog schmollend den Mund, dann seufzte sie. Sie kehrte zu ihrem Schlafgemach zurück und zog Rollo an einem Bein hinter sich her. »Halt Mutter nicht die ganze Nacht wach«, sagte sie über die Schulter. »Und bitte, versuch wenigstens leise zu sein. Warum müßt ihr überhaupt immer so laut dabei herumpoltern?« Sie blickte verschmitzt drein. »Wieso wirst du rot, Vater?« fragte sie unschuldsvoll. Dann lachte sie, ging in ihr Zimmer und schloß die Tür hinter sich.

Sperber war nie ganz sicher, ob seine Tochter wirklich begriff, was solche Bemerkungen andeuteten, wenngleich er natürlich nicht im geringsten daran zweifelte, daß sie es auf einer Ebene ihrer eigenartig vielschichtigen Persönlichkeit durchaus verstand. Er schob den Riegel vor ihre Tür, dann begab er sich ins Schlafgemach, das er mit seiner Gemahlin teilte. Auch diese Tür schloß er hinter sich und verriegelte sie.

Das Feuer war fast bis zur Glut heruntergebrannt, spendete aber noch genügend Licht, daß Sperber die junge Frau sehen konnte, die der Mittelpunkt seines Lebens war. Die üppige Fülle ihres aschblonden Haares bedeckte ihr Kopfkissen, und im Schlaf sah sie unsagbar jung und verwundbar aus. Er blieb am Fuß des Bettes stehen und blickte sie an. In ihrem Gesicht konnte er immer noch das kleine Mädchen sehen, das er ausgebildet und geformt hatte. Er seufzte. Solche Gedanken stimmten ihn stets melancholisch, denn sie erinnerten ihn daran, daß er im Grund genommen viel zu alt für Ehlana war. Sie hätte einen jungen Gemahl haben müssen – einen, der nicht so zernarbt und von Kämpfen gezeichnet war, einen, der besser aussah als er. Sperber fragte sich müßig, wann und wie er jenen Fehler begangen hatte, der Ehlanas Zuneigung so sehr auf ihn lenkte, daß sie sich weigerte, die Wahl eines anderen Gatten auch nur in Erwägung zu ziehen. Wahrscheinlich war es etwas Geringfügiges – ja Unbedeutendes – gewesen. Wer konnte schon wissen, welche Wirkung selbst die kleinste Geste auf einen anderen Menschen haben mochte?

»Ich weiß, daß du da bist, Sperber«, sagte auch Ehlana, ohne die Augen zu öffnen. Ihre Stimme klang ein wenig gereizt.

»Ich habe die Aussicht bewundert.« Ein bißchen Schmeichelei konnte das heraufziehende Gewitter vielleicht vertreiben, obwohl Sperbers Hoffnung nicht sehr groß war.

Ehlana schlug die grauen Augen auf. »Komm her!« befahl sie und streckte ihm die Arme entgegen.

»Ich war immer schon Eurer Majestät gehorsamster Diener.« Er grinste sie an und trat an die Seite des Bettes.

»Ach, ja?« Sie legte ihm die Arme um den Hals und küßte ihn.

»Meinst du, wir könnten den Ehekrieg auf morgen früh verschieben, Liebling?« fragte Sperber. »Ich bin ein bißchen müde. Wie wär's, wenn wir uns zuerst mit dem Versöhnen und erst dann mit dem Streiten beschäftigen?«

»Mach dich nicht lächerlich! Dann würde ich ja meinen ganzen Ärger überspringen müssen. Was glaubst du, was ich mir alles an Vorwürfen für dich zurechtgelegt habe!«

»Ich kann es mir vorstellen. Aber weißt du, Dolmant hat mich nach Lamorkand geschickt, und die Reise hat leider länger gedauert, als ich erwartet habe.«

»Das ist nicht fair, Sperber«, sagte sie schmollend.

»Was meinst du damit?«

»Du solltest damit warten, bis ich eine Erklärung von dir verlangt hätte. Jetzt hast du mir die ganze Freude verdorben!«

»Kannst du mir je verzeihen?« Er bemühte sich um eine übertrieben zerknirschte Miene und küßte seine Gemahlin auf den Hals. Er hatte entdeckt, daß sie diese kleinen Spielchen liebte.

»Ich werde darüber nachdenken.« Ehlana lachte und erwiderte seinen Kuß. »Na gut«, ließ sie sich schließlich herab. »Nachdem du mir den Spaß nicht gelassen hast, kannst du mir gleich erzählen, was du getan und warum du mich nicht benachrichtigt hast, daß es länger dauern würde.«

»Politische Erwägungen, Liebling. Du kennst Dolmant. Die Lage in Lamorkand ist sehr bedrohlich. Sarathi wollte eine fachmännische Einschätzung der dortigen Situation. Aber es durfte niemand erfahren, daß ich auf seine Anweisung dorthin reiste. Er hat untersagt, Botschaften zu schicken, da sie abgefangen werden könnten.«

»Ich glaube, ich muß mit unserem hochverehrten Erzprälaten mal ein klärendes Gespräch führen«, stellte Ehlana fest. »Er hat offenbar Schwierigkeiten, sich zu erinnern, wer ich bin.«

»Davon rate ich dir ab, Ehlana.«

»Oh, ich habe nicht vor, einen Streit mit ihm anzuzetteln, Schatz. Ich werde ihn lediglich darauf aufmerksam machen, daß er es an der nötigen Höflichkeit mangeln läßt. Dolmant soll mich gefälligst erst fragen, bevor er meinen Gemahl in der Welt herumschickt. Ich werde Seiner Erhabenheit ein wenig müde. Jawohl, ich werde ihn Manieren lehren!«

»Darf ich dabeisein? Das möchte ich um nichts in der Welt versäumen.«

Sie funkelte ihn an. »Wenn du dir nicht auch eine Rüge einfangen möchtest, dann fange jetzt lieber mit der Versöhnung an.«

»Das wollte ich gerade«, versicherte Sperber und drückte sie fester an sich.

»Warum hast du so lange gewartet?« hauchte sie.

Es war viel später, und der Unmut der Königin von Elenien war spürbar geschwunden. »Was hast du in Lamorkand herausgefunden, Sperber?« fragte sie und streckte sich genüßlich.

»Westlamorkand ist zur Zeit in hellem Aufruhr. Ein Graf steckt dahinter – er heißt Gerrich. Wir sind ihm auf unserer Suche nach dem Bhelliom begegnet. Er war in einen dieser verschlagenen Pläne verwickelt, mit denen Martel während der Wahl des neuen Erzprälaten die Ritterorden von Chyrellos fernhalten wollte.«

»Das spricht Bände über den Charakter dieses Grafen.«

»Vielleicht. Aber Martel war ein Meister, wenn es um die Beeinflussung der richtigen Leute ging. Jedenfalls gelang es ihm, einen kleinen Krieg zwischen Gerrich und Patriarch Ortzels Bruder vom Zaun zu brechen. Dieser Krieg hat den Horizont des Grafen offensichtlich ein wenig geweitet. Jetzt interessiert er sich sogar für den Thron.«

»Armer Freddie.« Ehlana seufzte. König Friedahl von Lamorkand war ein entfernter Vetter. »Ich möchte seinen Thron nicht geschenkt. Aber worüber macht die Kirche sich Sorgen? Freddies Streitkräfte sind stark genug, sich eines ehrgeizigen Grafen zu erwehren.«

»So einfach ist das nicht, Liebling. Gerrich hat Bündnisse mit anderen Edlen in Westlamorkand geschlossen und inzwischen eine Armee um sich geschart, die fast so mächtig ist wie die des Königs. Und er hat offenbar Gespräche mit den pelosischen Baronen um den Vennesee geführt.«

»Diese Banditen!« sagte Ehlana abfällig. »Jeder kann sie kaufen!«

»Du kennst dich in der Politik dieser Region gut aus, Ehlana.«

»Es bleibt mir gar nichts anderes übrig, Sperber. Pelosien liegt hinter der Nordostgrenze des Reiches. Stellen diese Unruhen eine Bedrohung für uns dar?«

»Im Moment nicht. Gerrich hat den Blick begehrlich nach Osten gerichtet – auf die Hauptstadt.«

»Vielleicht sollte ich Freddie unsere Unterstützung anbieten«, überlegte sie laut. »Falls es dort tatsächlich zu einem Krieg kommt, dann könnte ich ein schönes Stück von Südwestpelosien für uns abzweigen.«

»Haben wir territoriale Ambitionen, Majestät?«

»Nicht heute nacht, Sperber«, versicherte sie ihm. »Da beschäftigt mich ganz etwas anderes.« Und sie schlang wieder die Arme um ihn.

Es war viel später, fast schon Morgen. Ehlanas regelmäßiger Atem verriet Sperber, daß sie schlief. Er glitt aus dem Bett und trat ans Fenster. Seine Jahre militärischer Ausbildung hatten es ihm zur Gewohnheit gemacht, jeden Tag, noch vor Sonnenaufgang, einen Blick aufs Wetter zu werfen.

Der Regen hatte nachgelassen, doch der Wind blies stürmischer. Das Frühjahr war gerade erst angebrochen, und in den nächsten Wochen konnte man noch kaum mit schönem Wetter rechnen. Sperber war froh, daß er bereits zu Hause war, denn der kommende Tag sah nicht sehr vielversprechend aus. Er blickte hinaus auf die flackernden, unregelmäßig brennenden Fackeln auf dem windigen Hof.

Wie immer bei schlechtem Wetter wanderten Sperbers Gedanken zurück zu den Jahren, die er in der heißen Stadt Jiroch an der von Dürre heimgesuchten Nordküste Rendors zugebracht hatte, wo die verschleierten und schwarzvermummten Frauen im ersten stahlgrauen Licht des Morgens zum Brunnen pilgerten, und wo die Frau, die sich Lillias nannte, ihm jede Nacht die Zeit mit ihrer Liebe vertrieben hatte – dem, was sie für Liebe hielt. Auch an die Nacht in Cippria, als es Martels Henkersknechten beinahe gelungen wäre, ihm den Lebensfaden zu durchschneiden, dachte Sperber zurück. Doch er hatte die Rechnung mit Martel in Azashs Tempel in Zemoch beglichen; deshalb bestand kein Grund, sich den Viehhof in Cippria oder die Klosterglocken in Erinnerung zu rufen, die ihn aus der Dunkelheit gerufen hatten.

Das flüchtige Gefühl, beobachtet zu werden, das Sperber auf der engen Gasse befallen hatte, ließ ihm noch immer keine Ruhe. Irgend etwas ging vor sich, das er nicht verstand. Sperber wünschte sich inbrünstig, mit Sephrenia darüber reden zu können.