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Hochmeister Sperber, Wir hoffen, dieses Schreiben erreicht Euch und Eure Familie bei guter Gesundheit.

Es hat sich eine etwas delikate Situation ergeben, und Wir sind der Ansicht, daß Eure Anwesenheit hier in Chyrellos erforderlich ist. Durch kirchlichen Befehl fordern Wir Euch hiermit auf, Euch umgehend zur Basilika zu begeben und vor Unserem Thron zu erscheinen, um nähere Anweisungen entgegenzunehmen. Wir wissen, daß Ihr, als wahrer Sohn der Kirche, nicht zögern werdet, und erwarten Eure Ankunft noch in dieser Woche.

Dolmant, Erzprälat

Sperber senkte das Schreiben und ließ den Blick rundum wandern.

»Er kommt ohne Umschweife zur Sache, nicht wahr?« stellte Kalten fest. »Aber Dolmant hat ja nie um den heißen Brei herumgeredet.«

Königin Ehlana machte ihrer Entrüstung mit einem Wutschrei Luft, hämmerte die Fäuste auf den Ratstisch und stampfte heftig mit den Füßen.

»Du solltest schonender mit deinen Händen umgehen«, mahnte Sperber sie.

»Wie kann er es nur wagen?« stieß sie zornig hervor. »Wie kann er nur?«

»Ein wenig kurzfristig«, bemerkte Stragen vorsichtig.

»Du wirst diesem unverschämten Befehl nicht gehorchen, Sperber!« befahl Ehlana.

»Das geht nicht!«

»Du bist mein Gemahl und mein Untertan! Wenn Dolmant dich zu sehen wünscht, muß er mich darum ersuchen! Es ist empörend!«

»Der Erzprälat hat das Recht, die Hochmeister der Ritterorden zu sich zu rufen, Majestät«, erklärte Graf von Lenda ein wenig zaghaft der vor Wut schäumenden Königin.

»Du hast zu viele Ämter, Sperber«, meinte Tynian. »Du solltest von einigen dieser erhabenen Posten zurücktreten!«

»Es liegt an seiner umwerfenden Persönlichkeit«, sagte Kalten zu Ulath, »und seinen unglaublichen Fähigkeiten. Wenn er nicht da ist, siechen und sterben die Leute nur so dahin.«

»Ich verbiete es!« sagte die Königin entschieden.

»Ich muß Dolmant gehorchen, Ehlana«, erklärte Sperber. »Als Ordensritter unterstehe ich der Kirche.«

Ihre Pupillen verengten sich. »Also gut«, beschloß sie, »da Dolmant sich so herrisch aufführt, werden wir alle seinem unverschämten Befehl folgen. Wir reisen nach Chyrellos! Ich werde mich in der Basilika einrichten und von dort meinen Amtsgeschäften nachgehen. Ich werde Dolmant klarmachen, daß ich angemessene Räumlichkeiten von ihm erwarte, sowie das erforderliche Verwaltungspersonal – auf seine Kosten. Wir werden das ein für allemal klären!«

»Das verspricht einer der Höhepunkt in der Geschichte der Kirche zu werden«, meinte Stragen.

»Ich werde dafür sorgen, daß dieser aufgeblasene Esel sich wünscht, er wäre nie geboren worden!« versprach Ehlana drohend.

Sperber vermochte nichts vorzubringen, das seine Gemahlin umstimmen konnte. Nicht, daß er sich übermäßig Mühe gab – er verstand ihre Einstellung durchaus.

Dolmant benahm sich tatsächlich ziemlich anmaßend. Er neigte dazu, die eosischen Monarchen mit einer gewisssen Rücksichtslosigkeit zu übergehen, deshalb war der Willenskampf zwischen dem Erzprälaten und der Königin von Elenien wahrscheinlich unvermeidbar. Bedauerlich war nur, daß die beiden einander ehrlich mochten und keiner den anderen aus kleinlicher Eitelkeit oder unsinnigem Stolz bekämpfte. Dolmant wollte die Autorität der Kirche durchsetzen, und Ehlana die des elenischen Throns. Sie standen einander nicht als Personen aus Fleisch und Blut, sondern als Institutionen gegenüber. Es war Sperbers Pech, daß er der Umstände wegen zwischen den Fronten stand.

Er war überzeugt, daß der arrogante Stil des Schreibens nicht von seinem alten Freund Dolmant stammte, sondern von einem geistig offenbar abwesenden Schreiber, der übliche Phrasen niedergekritzelt hatte. Wahrscheinlich hatte Dolmant lediglich gesagt: »Sendet Sperber einen Brief und teilt ihm mit, daß ich ihn gern sehen möchte.« Das aber war nicht die Formulierung des Schreibens, das in Cimmura angekommen war, sonst wäre Ehlana nicht derart in Wut geraten, daß der bevorstehende Besuch in Chyrellos eine böse Überraschung für den Erzprälaten werden sollte.

Die totale Räumung des Schlosses war Ehlanas erster Schritt. Jeder in diesen Mauern mußte sich ihrem Gefolge anschließen. Die Königin benötigte Leibmägde, die Leibmägde ihrerseits Kammermaiden, und alle brauchten Lakaien und andere Diener. Lenda und Platime, die als einzige im Schloß bleiben sollten, hatten kaum noch Hilfen.

»Kommt mir vor wie die allgemeine Mobilmachung«, stellte Kalten vergnügt fest, als er am Morgen ihrer Abreise die Freitreppe des Schlosses hinunterstieg.

»Hoffen wir, daß der Erzprälat es nicht mißversteht«, murmelte Ulath. »Er wird doch wohl nicht annehmen, daß deine Gemahlin beabsichtigt, die Basilika zu belagern? Was meinst du, Sperber?«

Als Cimmura hinter ihnen lag, erstreckte sich der farbenfrohe Hofstaat von Elenien meilenweit unter dem strahlendblauen Frühlingshimmel. Wäre nicht dieser harte Glanz in der Königin Augen gewesen, hätte es einer dieser Ausflüge sein können, wie sie bei den müßigen Hofleuten so beliebt waren. Ehlana hatte »vorgeschlagen«, daß Sperber als amtierender Hochmeister des Pandionischen Ordens ebenfalls eine angemessene Begleitung haben müsse. Sie hatten um die Zahl der Pandioner, die Sperber nach Chyrellos mitnehmen sollte, geradezu gefeilscht. Sperber wollte nur Kalten, Berit und vielleicht noch ein oder zwei andere Begleiter mitnehmen, während die Königin dafür plädiert hatte, ihm sämtliche pandionischen Ordensritter und -novizen zuzuteilen. Schließlich hatten sie sich auf zwanzig Ritter in schwarzer Paraderüstung geeinigt.

Bei einem solchen Gefolge war es unmöglich, schnell voranzukommen. Es kam Sperber so vor, als würde der riesige Zug wie ein träger Wurm durch Elenien kriechen, erst ostwärts nach Lenda und dann in südöstlicher Richtung nach Demos und Chyrellos. Die Landleute nahmen den Vorbeimarsch des gesamten königlichen Hofstaats zum Anlaß, die Arbeit Arbeit sein zu lassen, und so war die Landstraße mitunter meilenweit von Menschenmassen gesäumt, die zum Gaffen herbeigeeilt waren. »Nur gut, daß wir so was nicht oft tun«, bemerkte Sperber zu seiner Gemahlin, kaum daß Lenda hinter ihnen lag.

»Mir macht es Spaß, mal ein bißchen herauszukommen.« Die Königin und Prinzessin Danae fuhren in einer prächtigen, von sechs Schimmeln gezogenen Staatskarosse.

»Das glaube ich dir gern. Aber jetzt sollten die Bauern eigentlich ihre Felder bestellen. Zu viele solcher Ausflüge könnten zu einer Hungersnot führen.«

»Billigst du nicht, daß ich auf die königlichen Rechte poche, Sperber?«

»Ich verstehe dich durchaus, Ehlana, und du tust recht. Dolmant sollte wirklich daran erinnert werden, daß er nicht die absolute Macht besitzt. Aber ich halte deine Reaktion für ein wenig übertrieben.«

»Natürlich ist sie übertrieben, Sperber«, gab Ehlana gelassen zu. »Das ist der Sinn der Sache. Trotz aller gegenteiligen Beweise hält Dolmant mich immer noch für ein törichtes kleines Mädchen. Ich werde mich entsprechend benehmen. Und wenn er genug davon hat, gebe ich ihm zu verstehen, daß er es sich viel leichter machen kann, wenn er mich ernst nimmt. Ich glaube, dann wird er mir zuhören, und wir können zur Sache kommen.«

»Dir ist in der Politik wohl jedes Mittel recht?«

»Nicht jedes, Sperber.«

Sie hielten kurz in Demos an, wo das Königspaar, Danae und Mirtai Kuriks Söhne Khalad und Talen zu einem Besuch ihrer Mütter begleiteten. Aslade und Elys verwöhnten alle gleichermaßen herzlich. Sperber vermutete stark, daß dies einer der Hauptgründe war, weshalb seine Gemahlin so oft einen Vorwand suchte, nach Demos zu reisen. Ihre Kindheit war freudlos und mutterlos gewesen, und jedesmal, wenn sie sich unsicher fühlte und Geborgenheit suchte, ließ sie sich irgendeinen Grund einfallen, weshalb ihre Anwesenheit in Demos unbedingt erforderlich war. Aslades Küche war warm und die Wände mit polierten Kupferpfannen und -töpfen behangen. Es war eine heimelige Stube, die offenbar ein tiefes Bedürfnis der Königin von Elenien befriedigte. Allein die Düfte genügten, fast alle Sorgen der Gäste eine Zeitlang zu vertreiben.

Elys, Talens Mutter, war eine strahlend blonde Frau, und Aslade schien wie ein der Mutterschaft geweihtes Denkmal zu sein. Die beiden Frauen hingen sehr aneinander. Aslade war Kuriks Gattin gewesen, und Elys seine Geliebte, doch es gab offenbar keine Eifersucht zwischen den Frauen. Beide waren praktisch veranlagt, und beiden war klar, daß Eifersucht etwas völlig Nutzloses und für alle Unerfreuliches war. Sperber und Kalten wurden sofort aus der Küche verbannt, Khalad und Talen erhielten umgehend den Auftrag, einen Zaun auszubessern, und die Königin von Elenien sowie ihre tamulische Sklavin nahmen ihre unterbrochene Ausbildung in der Kunst des Kochens wieder auf, während Aslade und Elys Danae verhätschelten.

»Ich glaube, ich habe noch nie eine Königin Brotteig kneten sehen.« Kalten grinste, als er und Sperber auf dem Innenhof herumspazierten.

»Ich glaube, sie macht Tortenböden«, verbesserte Sperber den Freund.

»Teig ist Teig.«

»Erinnere mich bloß daran, dich nie zu bitten, mir eine Torte zu backen.«

»Ich glaube nicht, daß du je in diese Gefahr kommen wirst.« Kalten lachte. »Bei Mirtai sieht es allerdings ganz natürlich aus. Sie hat viel Übung, Dinge zu zerschneiden – und Menschen. Ich wünschte nur, sie würde nicht ihre eigenen Dolche benutzen. Wer weiß, wozu sie vorher gedient haben.«

»Mirtai säubert die Dolche jedesmal, wenn sie jemanden damit erstochen hat.«

»Mir genügt schon die Vorstellung, Sperber!« Kalten schüttelte sich. »Allein bei dem Gedanken laufen mir kalte Schauder den Rücken hinab.«

»Dann denk eben nicht daran.«

»Du wirst dich verspäten«, erinnerte Kalten seinen Freund. »Dolmant hat dir befohlen, binnen einer Woche bei ihm zu erscheinen.«

»Das läßt sich nicht ändern.«

»Soll ich vorausreiten und ihm Bescheid geben, daß du unterwegs bist?«

»Und die Überraschung verderben, die Ehlana ihm machen möchte? Kommt gar nicht in Frage.«

Am nächsten Morgen befanden sie sich knapp drei Meilen südöstlich von Demos, als sie angegriffen wurden. Etwa hundert Mann – in eigenartiger Aufmachung und mit seltsamen Waffen, stürmten über die Kuppe einer niedrigen Erhebung, wild ihre Schlachtrufe brüllend. Die meisten Angreifer waren zu Fuß – die wenigen Berittenen schienen ihre Führer zu sein.

Vor Angst schreiend ergriffen die Hofleute die Flucht, während Sperber seinen Pandionern Befehle erteilte. Die zwanzig Ritter in den schwarzen Plattenpanzern formierten sich rund um die Karosse der Königin und wehrten mühelos den ersten Angriff ab. Fußsoldaten sind für gewöhnlich keine ernsten Gegner für Ritter im Sattel.

»Was ist das für eine Sprache?« brüllte Kalten.

»Altlamorkisch, glaube ich«, rief Ulath zurück. »Unterscheidet sich kaum von Altthalesisch.«

»Sperber!« brüllte Mirtai. »Laßt ihnen keine Zeit, sich neu zu formieren.« Sie deutete mit ihrer blutbesudelten Schwertklinge auf die Angreifer, die sich auf der Kuppe drängten.

»Sie hat recht!« rief Tynian.

Sperber machte sich rasch ein umfassendes Bild der Lage, stellte einige seiner Ritter zum Schutz von Ehlana ab und formierte die übrigen.

»Attacke!« donnerte er.

Vor allem die Lanze macht den berittenen Kämpfer so gefährlich für Fußtruppen. Zu Fuß hat der Angegriffene keinen Schutz gegen diese Waffe; er kann nicht einmal fliehen. Ein Drittel der Angreifer war beim ersten Sturm gefallen, und gut zwanzig weitere gingen bei Sperbers Attacke unter den Lanzen zu Boden. Danach setzten die Ritter ihre Schwerter und Streitäxte ein. Besonders tödlich war Beviers Lochaberaxt. Sie schlug eine breite Schneise in die Reihen der jetzt völlig verwirrten Angreifer.

Es war jedoch Mirtai, die den Gegner mit ihrer ungezügelten Wildheit nahezu lähmte. Ihr Schwert war leichter als die Breitschwerter der Ordensritter, und sie führte es fast mit der gleichen Eleganz wie Stragen seinen Degen. Nur selten stach sie nach dem Leib eines Gegners; statt dessen richtete sie die Spitze auf Gesicht und Kehle oder, falls notwendig, auf die Beine. Ihre Stiche waren knapp und exakt, und ihre Hiebe nicht auf Muskeln gerichtet, sondern auf Sehnen, und so verkrüppelte Mirtai mehr Gegner als sie tötete. Das Ächzen, Stöhnen und Schreien ihrer Opfer hallte ohrenbetäubend über das blutige Schlachtfeld.

Die übliche Taktik beim Kampf gerüsteter Ritter gegen Fußtruppen war, zuerst mit den Lanzen anzugreifen und anschließend die unberittenen Gegner mit den Pferden so dicht zusammenzutreiben, daß sie einander behinderten. Sobald sie mehr oder weniger wehrlos waren, kostete es wenig Mühe, ihnen den Garaus zu machen.

»Ulath!« brüllte Sperber. »Fordere sie auf, ihre Waffen niederzulegen.«

»Ich will's versuchen«, schrie Ulath zurück. Dann rief er den zusammengedrängten Fußtruppen irgend etwas in einer für seine Freunde fremden Sprache zu.

Ein Berittener in einem grotesk verzierten Helm rief etwas zurück.

»Der mit den Flügeln am Helm ist ihr Anführer, Sperber!« Ulath zeigte mit seiner blutigen Axt auf den Mann.

»Was hat er gesagt?« wollte Kalten wissen.

»Er hat eine keineswegs schmeichelhafte Bemerkung über meine Mutter gemacht. Entschuldigt mich kurz, Freunde. Ich kann das so nicht hinnehmen.« Er wendete sein Pferd und näherte sich dem ebenfalls mit einer Streitaxt bewaffneten Berittenen mit dem Flügelhelm.

Sperber war nie zuvor Zeuge eines Axtkampfs gewesen. Es überraschte ihn, daß er viel finessenreicher geführt wurde, als er erwartet hatte. Die größere Kraft spielte dabei natürlich die wichtigste Rolle, doch plötzliche Richtungsänderungen der Hiebe, Finten und Ausfälle waren Manöver, die Sperber nicht erwartet hatte. Beide Gegner trugen schwere Rundschilde, und die Abwehr der Hiebe erforderte mehr Kraft, als bei einem Kampf mit Schwertern.

Ulath stellte sich in seinen Steigbügeln auf und hob seine Axt hoch über den Kopf. Der Mann im Flügelhelm riß seinen Schild schräg in die Höhe, doch der hünenhafte Thalesier schwang den Arm zurück, drehte die Schulter und schlug unterhalb der Deckung zu. Er traf seinen Gegner unmittelbar unter dem Brustkorb. Der Führer der Angreifer krümmte sich zusammen, drückte die Hand auf den Bauch und fiel aus dem Sattel.

Die Angreifer, die noch auf den Beinen waren, stöhnten laut. Und plötzlich, wie Dunst in einem Windstoß, verschwammen und verschwanden sie.

»Wo sind sie hin?« brüllte Berit und starrte erschrocken um sich.

Doch diese Frage konnte ihm niemand beantworten. Wo soeben noch an die vierzig Fußsoldaten gekämpft hatten, war nun Leere, und abrupt senkte sich Stille über das Schlachtfeld, als auch die schreienden Verwundeten verschwanden. Nur die Toten blieben, doch eine seltsame Verwandlung ging mit ihnen vor. Die Leichen sahen seltsam ausgetrocknet, geschrumpft und verrunzelt aus. Das Blut, das ihre Wunden bedeckt hatte, war nicht mehr hellrot, sondern schwarz, trocken und verkrustet.

»Was für ein Zauber ist das, Sperber?« fragte Tynian scharf.

»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Sperber verblüfft. »Jemand treibt seine Spielchen mit uns, und ich kann nicht behaupten, daß sie mir gefallen.«

»Bronze!« rief Bevier aus der Nähe. Der junge Cyriniker war abgesessen und besah sich die Rüstung eines der verschrumpelten Toten. »Sie tragen Bronzerüstungen, Sperber. Ihre Waffen und Helme sind aus Stahl, aber dieses Kettenhemd ist aus Bronze.«

»Was geht hier vor?« fragte Kalten.

»Berit«, bat Sperber, »reite zurück zum Mutterhaus in Demos. Rufe alle Brüder zusammen, die noch nicht zu alt sind, eine Rüstung zu tragen. Ich möchte, daß sie noch vor Mittag hier sind.«

»Jawohl«, antwortete Berit knapp. Er galoppierte den Weg zurück, den sie gekommen waren.

Sperber schaute sich rasch um. »Dort hinauf!« Er deutete auf einen steilen Hügel auf der anderen Straßenseite. »Sammeln wir unsere Leute und bringen sie auf die Kuppe dieses Hügels. Wir teilen die Höflinge, Lakaien und Diener zur Arbeit ein. Ich möchte, daß dort oben Gräben ausgehoben und die Hänge des Hügels mit zugespitzten Pfählen gespickt werden. Ich weiß nicht, wohin diese Krieger in Bronzerüstung verschwunden sind, aber ich möchte bereit sein, falls sie zurückkehren.«

»So könnt Ihr mich nicht herumkommandieren!« beschwerte sich ein Höfling in übertrieben prunkvoller Gewandung empört bei Khalad. »Wißt Ihr nicht, wen Ihr vor Euch habt?«

»Natürlich weiß ich das«, erwiderte Sperbers Knappe mit bedrohlich ruhiger Stimme. »Ihr seid derjenige, der jetzt nach dieser Schaufel greift und zu graben anfängt. Doch wenn es Euch lieber ist, könnt Ihr auch auf Händen und Knien herumkriechen und Eure Zähne suchen.« Khalad zeigte dem Hofschranzen die Faust. Der in Samt und Seide prangende Höfling wurde blaß.

»Es ist fast wie früher, nicht wahr?« Kalten lachte. »Khalad hört sich genauso an wie Kurik.«

Sperber seufzte. »Ja«, pflichtete er ihm ernst bei. »Er entwickelt sich zum würdigen Nachfolger seines Vaters. Hol die anderen, Kalten. Ich möchte wissen, wie sie die Lage einschätzen.«

Sie sammelten sich neben Ehlanas Kutsche. Die Königin war ein bißchen bleich und hielt ihre Tochter in den Armen.

»Also«, begann Sperber, »mit wem haben wir es zu tun?«

»Offensichtlich mit Lamorkern«, meinte Ulath. »Ich bezweifle, daß sonst jemand Altlamorkisch sprechen könnte.«

»Aber warum sprechen sie Altlamorkisch?« gab Tynian zu bedenken. »Die Sprache ist seit tausend Jahren tot.«

»Und es ist sogar noch länger her, seit man Bronzerüstungen trug«, fügte Bevier hinzu.

»Jemand wirkt hier einen Zauber, von dem ich noch nie gehört habe«, sagte Sperber. »Womit mögen wir es zu tun haben?«

»Ist das nicht offensichtlich?« warf Stragen ein. »Jemand greift in die Vergangenheit zurück – so, wie's die Trollgötter in Pelosien getan haben. Es muß da einen mächtigen Magier geben, der seine Spielchen mit uns treibt.«

»Es paßt alles zusammen«, brummte Ulath. »Sie redeten in einer alten Sprache, hatten alte Waffen und Ausrüstung, waren mit moderner Taktik vertraut, und ganz offenbar hat sich jemand der Magie bedient, sie dorthin zurückzuschicken, von wo er sie geholt hat – von den Toten abgesehen.«

»Da ist noch etwas«, fügte Bevier nachdenklich hinzu. »Sie waren Lamorker, und der derzeitige Aufruhr in Lamorkand ist zum Teil auf Geschichten von Fyrchtnfles' Rückkehr zurückzuführen. Der Angriff deutet darauf hin, daß diese Geschichten nicht einfach aus der Luft gegriffen sind und auch nicht von Trinkern in den Schenken erdacht wurden. Könnte es sein, daß ein styrischer Zauberer Graf Gerrich hilft? Wenn Fyrchtnfles tatsächlich in die Gegenwart zurückgeholt wurde, gibt es nichts, was die Lamorker aufhalten könnte. Schon die Erwähnung seines Namens läßt sie außer Rand und Band geraten.«

»Das ist alles sehr interessant, meine Herren«, sagte Ehlana, »aber der Angriff war nicht zufällig. Wir sind weitab von Lamorkand. Diese uralten Krieger haben es sich nicht leicht gemacht, ausgerechnet uns anzugreifen. Die eigentliche Frage lautet: Warum?«

»Wir werden unser Bestes tun, eine Antwort darauf zu finden, Majestät«, versprach Tynian ihr.

Berit kehrte kurz vor Mittag mit dreihundert gerüsteten Pandionern zurück, und das letzte Stück ihrer Reise nach Chyrellos vermittelte den Eindruck eines Feldzugs.

Ihre Ankunft in der Heiligen Stadt und ihr feierlicher Marsch durch die Straßen zur Basilika glichen einer Parade und erregten ziemliches Aufsehen.

Der Erzprälat höchstpersönlich trat auf einen Balkon im ersten Stock, um sich ihre Ankunft auf dem Platz vor der Basilika nicht entgehen zu lassen. Selbst aus dieser Entfernung sah Sperber deutlich, daß Dolmants Nasenflügel weiß und seine Lippen schmal waren. Ehlanas Haltung war majestätisch und kühl.

Sperber hob seine Tochter aus der Karosse. »Lauf nicht davon«, murmelte er ihr ins Öhrchen. »Ich muß etwas mit dir bereden.«

»Später«, flüsterte sie zurück. »Erst muß ich für Frieden zwischen Dolmant und Mutter sorgen.«

»Das wird nicht so einfach sein.«

»Schau zu, Sperber – und lerne!«

Die Begrüßung des Erzprälaten war kühl – ja beinahe eisig –, und er ließ keinen Zweifel daran, daß er es nicht erwarten konnte, sich eingehend mit der Königin von Elenien zu unterhalten. Er schickte nach seinem Ersten Sekretär, dem Patriarchen Emban, und überließ es dem wohlbeleibten Kirchenmann, für die Unterbringung von Ehlanas Gefolge zu sorgen. Emban machte ein finsteres Gesicht und watschelte vor sich hin murmelnd davon.

Dann lud Dolmant die Königin und ihren Prinzgemahl in die private Audienzkammer ein. Mirtai baute sich vor der Tür auf. »Keine Handgreiflichkeiten!« warnte sie Dolmant und Ehlana, als diese eintraten.

Die kleine Kammer hatte blaue Vorhänge und Teppiche; in der Mitte standen ein Tisch und mehrere Sessel.

»Eine seltsame Frau«, brummte Dolmant und blickte über die Schulter zu Mirtai. Er nahm Platz und wandte sich an Ehlana. »Kommen wir zur Sache. Würdet Ihr mir erklären, was das soll?«

»Gewiß, Erzprälat Dolmant…« Sie schob ihm sein Schreiben über den Tisch zu. »… sobald Ihr mir das erklärt.« Ihre Stimme war schneidend.

Er nahm den Brief und überflog ihn. »Es scheint mir ziemlich unmißverständlich zu sein. Welchen Teil davon habt Ihr nicht begriffen?«

Von da an ging es steil bergab.

Ehlana und Dolmant waren nahe daran, sämtliche diplomatischen Beziehungen abzubrechen, als die königliche Prinzessin Danae die Kammer betrat und ihren königlichen Plüschbären Rollo an einem Bein hinter sich herzog. Ernst durchquerte sie die Kammer, kletterte auf den Schoß des Erzprälaten und küßte den Mann. Sperber selbst hatte eine Menge solcher Küsse von seiner Tochter bekommen, wenn sie etwas von ihm wollte, und er wußte nur zu gut, wie wirkungsvoll sie waren. Dolmant hatte keine echte Chance mehr.

»Ich hätte den Brief durchlesen sollen, ehe ich ihn sandte«, gab er widerwillig zu. »Schreiber formulieren die Dinge mitunter recht undiplomatisch.«

»Vielleicht habe ich ein klein wenig zu heftig reagiert«, räumte Ehlana ein.

»Und ich war ein bißchen überarbeitet.« Dolmants Entschuldigung hörte sich wie ein Friedensangebot an.

»Und ich war gereizt an dem Tag, als Euer Schreiben kam«, entgegnete Ehlana.

Sperber lehnte sich zurück. Die Spannung in der Kammer hatte merklich nachgelassen. Dolmant hatte sich seit seiner Erhebung zum Erzprälaten verändert. Zuvor war er sehr zurückhaltend gewesen – so sehr, daß seine Brüder in der Hierokratie ihn für dieses hohe Amt nicht einmal in Erwägung gezogen hatten, bis Ehlana auf seine vielen unübertrefflichen Fähigkeiten hinwies. Die Ironie entging Sperber nicht. Jetzt aber schien Dolmant mit zwei Stimmen zu sprechen. Die eine war die vertraute Stimme ihres alten Freundes, die andere die des Erzprälaten, herrisch und streng. Offenbar ging ihr alter Freund in seinem Amt allmählich ganz auf. Sperber seufzte. Vermutlich war das unausbleiblich, aber er bedauerte es trotzdem.

Ehlana und der Erzprälat fuhren fort, Entschuldigungen für ihr Verhalten aufzuführen. Nach einer Weile einigten sie sich darauf, einander Respekt zu zollen, und beendeten ihre Konferenz mit dem gegenseitigen Versprechen, in Zukunft besser auf die kleinen Höflichkeiten zu achten.

Prinzessin Danae, die immer noch auf des Erzprälaten Schoß saß, zwinkerte Sperber heimlich zu. Was sie gerade vollbracht hatte, ließ für die Zukunft handfeste politische und theologische Verwicklungen erahnen, über die Sperber gar nicht erst nachdenken wollte.

Der Grund für das Schreiben des Erzprälaten, das beinahe zum Privatkrieg zwischen ihm und Ehlana geführt hätte, war die Ankunft eines hohen Gesandten des Tamulischen Imperiums auf dem Daresischen Kontinent, jener gewaltigen Landmasse östlich von Zemoch. Formelle diplomatische Beziehungen zwischen den elenischen Königreichen von Eosien und dem Tamulischen Imperium von Daresien gab es nicht. Doch die Kirche schickte routinemäßig Gesandte im Botschafterrang in die Reichsstadt Matherion, vor allem weil die drei westlichsten Königtümer von Eleniern bewohnt waren, deren Religion sich nur geringfügig von jener der eosischen Kirche unterschied.

Der Gesandte war ein Tamuler von derselben Rasse wie Mirtai, allerdings hätte die Riesin gut zwei seinesgleichen abgegeben. Die Haut des Mannes besaß jedoch den gleichen bronzegoldenen Ton, sein schwarzes Haar hatte einen Hauch von Grau, und seine dunklen Augen waren an den Winkeln hochgezogen.

»Er ist sehr klug«, warnte Dolmant leise, als sie in einer der Audienzkammern saßen, während Emban und der Gesandte in der Nähe der Tür Höflichkeiten austauschten. »In gewisser Hinsicht ist er sogar klüger als Emban. Seid vorsichtig, was Ihr in seinem Beisein sagt. Tamuler sind sehr empfänglich für Nuancen in der Wahl der Worte.«

Emban geleitete den in Seide gewandeten Gesandten zu ihnen. »Majestät, ich habe die Ehre, Euch Seine Exzellenz, Botschafter Oscagne, vorzustellen, den Gesandten des kaiserlichen Hofes in Matherion.« Der kleine fette Mann verbeugte sich vor Ehlana.

»Die göttliche Anwesenheit Eurer Majestät raubt mir die Sinne.« Der Gesandte machte einen eleganten Kratzfuß.

»Ach, wirklich, Exzellenz?« Ehlana lächelte.

»Nein, natürlich nicht«, entgegnete er ohne jede Verlegenheit. »Ich hielt die Phrase jedoch für höflich. War sie zu übertrieben? Ich bin in den Feinheiten elenischer Höflichkeitsfloskeln nicht bewandert.«

»Ihr habt wahrlich keine Schwierigkeiten damit, Exzellenz.« Ehlana lachte.

»Ich kann nicht umhin zu sagen, daß Ihr eine verflixt attraktive junge Dame seid, wenn Majestät gestatten. Ich habe im Lauf der Zeit schon so manche Königin kennengelernt, bei der sich die üblichen Komplimente nur mit größter Ignoranz mit dem Gewissen vereinbaren ließen.« Botschafter Oscagne sprach ein tadelloses Elenisch.

»Ich möchte Euch mit meinem Gemahl, Prinz Sperber, bekannt machen«, sagte Ehlana.

»Der legendäre Ritter Sperber? Es ist mir eine Ehre, holde Dame. Ich bin um die halbe Welt gereist, seine Bekanntschaft zu machen. Meine Hochachtung, Ritter Sperber.« Oscagne verbeugte sich.

»Exzellenz«, dankte Sperber und verneigte sich ebenfalls kurz.

Anschließend stellte Ehlana die übrigen vor, und der Austausch diplomatischer Höflichkeiten zog sich eine Stunde dahin. Oscagne und Mirtai unterhielten sich eine Zeitlang auf tamulisch, eine Sprache, die Sperber ungemein melodisch fand.

»Haben wir nun alle höfischen Erfordernisse abgeschlossen?« erkundigte der Botschafter sich schließlich. »Gewiß, jedes Volk ist anders, doch in Tamuli rechnet man ungefähr eine Dreiviertelstunde für die üblichen nichtssagenden Höflichkeiten.«

»Das erscheint auch mir angemessen.« Stragen grinste. »Wenn wir das höfische Gebaren übertreiben, steigt es Ihrer Majestät vielleicht zu Kopf, und sie erwartet von Mal zu Mal mehr Unterwürfigkeit.«

»Ihr habt mir aus der Seele gesprochen, Durchlaucht Stragen«, versicherte Oscagne. »Der Grund meines Hierseins ist schnell erklärt, werte Freunde. Ich bin in Schwierigkeiten.« Er blickte sich um. »Ich erlaube mir eine Pause für die üblichen Ausrufe des Erstaunens, während ihr euch bemüht, euch mit der Vorstellung vertraut zu machen, daß irgend jemand an einem so charmanten und liebenswerten Menschen wie mir Anstoß nehmen könnte.«

»Ich glaube, ich mag ihn«, murmelte Stragen.

»Kann ich mir denken«, brummte Ulath.

»Ich bitte Euch, verratet mir, Exzellenz, wie in aller Welt könnte jemand mit Euch unzufrieden sein?« Die blumige Redeweise des Botschafters war ansteckend.

»Ich übertrieb ein wenig, um der Wirkung willen«, gestand Oscagne. »So schlimm sind meine Schwierigkeiten nicht. Es ist eigentlich so, daß Seine Kaiserliche Majestät mich nach Chyrellos gesandt hat, damit ich um Hilfe ersuche, und ich soll die Bitte so formulieren, daß sie ihn auf keine Weise demütigt.«

Embans Augen glänzten. Er war in seinem Element. »Ich halte es für das beste, unseren Freunden das Problem in schlichten Worten darzulegen«, meinte er, »dann können sie sich auf den eigentlichen Punkt konzentrieren, der Kaiserlichen Regierung Verlegenheit zu ersparen. Sie sind außerordentlich klug, einer wie der andere. Wenn sie die Köpfe zusammenstecken, werden sie die richtige Lösung finden, daran zweifle ich nicht.«

Dolmant seufzte. »Hättet Ihr denn gar niemand anderes für dieses Amt auswählen können, Ehlana?«

Oscagne blickte die beiden fragend an.

»Das ist eine lange Geschichte, Exzellenz«, sagte Emban. »Ich werde sie Euch irgendwann einmal erzählen, wenn wir nichts Besseres zu tun haben. Aber berichtet doch, was sich so Ernstes in Tamuli tut, daß Seine Kaiserliche Majestät Euch hierher um Hilfe gesandt hat.«

»Versprecht Ihr, daß Ihr nicht lacht?« wandte Oscagne sich an Ehlana.

»Ich werde mein möglichstes tun, einen Heiterkeitsanfall zu unterdrücken«, versprach sie.

»In Tamuli ist es zu Unruhen unter der Bevölkerung gekommen«, sagte Oscagne.

Alle warteten.

»Das wär's auch schon«, gestand Oscagne zerknirscht. »Ich zitiere selbstredend den Kaiser wörtlich – auf seine Anweisung. Um die Botschaft richtig zu verstehen, müßtet ihr natürlich unseren Kaiser kennen. Er würde eher sterben, als auch nur im geringsten zu übertreiben. Einmal bezeichnete er einen Orkan als ›Brise‹ und den Verlust seiner halben Flotte als ›kleine Unannehmlichkeit‹.«

»Gut, Exzellenz.« Ehlana nickte. »Jetzt wissen wir, wie Euer Kaiser das Problem bezeichnen würde. Doch welche Worte würdet Ihr dafür gebrauchen?«

»Nun«, entgegnete Oscagne, »da Majestät so gütig ist zu fragen, möchte ich es am treffendsten als Katastrophe bezeichnen. Es ließe sich vielleicht auch ein übermächtiges Problem nennen, oder eine Heimsuchung, oder der Weltuntergang – derlei Ungemach eben. Jedenfalls solltet ihr der Bitte Seiner Majestät Beachtung schenken, meine Freunde, denn wir haben Grund zu der Annahme, daß die Geschehnisse auf dem daresischen Kontinent vielleicht schon bald auf Eosien übergreifen. Und wenn dies geschieht, könnte es durchaus das Ende der Zivilisation bedeuten, wie wir sie kennen. Ich weiß nicht, wie ihr Elenier darüber denkt, aber wir Tamuler sind der Ansicht, daß etwas dagegen unternommen werden sollte. Man kann dem Volk ja nicht mehr ins Auge schauen, wenn man zuläßt, daß die Welt jeden Augenblick untergeht. Es untergräbt jegliches Vertrauen, das man als Regierung genießt.«