7

Komier, begann Sperbers Brief, meine Gemahlin wird einen Staatsbesuch in Tamuli machen. Wir haben herausgefunden, daß die derzeitigen Unruhen in Lamorkand höchstwahrscheinlich von Daresien ausgehen, deshalb nutzen wir Ehlanas Reise, uns dort umzusehen. Ich werde Euch auf dem laufenden halten. Eure Erlaubnis vorausgesetzt, lasse ich fünfundzwanzig Genidianer von Eurem hiesigen Ordenshaus als Teil der Ehrengarde abstellen.

Ich möchte Euch anraten, Avin Wargunsson mit allen Mitteln davon abzuhalten, feste Bündnisse mit Graf Gerrich von Lamorkand zu schließen. Gerrich ist tief in dunkle Machenschaften verwickelt, die sich längst nicht mehr auf Lamorkand beschränken. Dolmant hätte sicher nichts dagegen, würdet Ihr mit Darellon und Abriel unter einem Vorwand nach Lamorkand reiten und den Kerl zur Räson bringen. Doch seid auf der Hut vor Magie. Gerrich hat jemanden hinter sich, der mehr weiß, als er dürfte. Ulath sendet Euch nähere Einzelheiten. – Sperber.

»Ist das nicht ein wenig direkt, Liebling?« gab Ehlana zu bedenken, die über Sperbers Schulter mitlas. Sie duftete verführerisch.

»Komier redet nicht gern um den heißen Brei, Ehlana.« Sperber zuckte die Schultern und legte den Federkiel zur Seite. »Und ich bin kein guter Briefeschreiber.«

»Das ist mir nicht entgangen.« Sie befanden sich in ihrer prunkvollen Zimmerflucht in einem der Kirchengebäude, das an die Basilika grenzte. Sie hielten sich bereits den ganzen Tag hier auf und verfaßten Schreiben an Personen, die über den ganzen Kontinent verstreut lebten.

»Müßtest du nicht auch ein paar Briefe schreiben?« fragte Sperber seine Gemahlin.

»Das ist längst geschehen. Ich habe lediglich einen kurzen Brief an Lenda geschickt. Er weiß, was zu tun ist.« Sie blickte durch das Gemach zu Mirtai, die geduldig Murrs Krallen stutzte, was dem Kätzchen ganz und gar nicht behagte. Ehlana lächelte. »Mirtais Nachricht an Kring war viel direkter. Sie rief einen Peloi herbei, der gerade durch Chyrellos ritt, und wies ihn an, Kring aufzusuchen und ihm ihren Befehl zu übermitteln, mit hundert seiner Stammesbrüder nach Basne an der zemochisch-astelischen Grenze zu reiten. Mirtai ließ deutlich durchblicken, daß sie davon ausgeht, Kring liebe sie nicht, falls er nicht bereits dort wartet, wenn sie eintrifft.« Ehlana strich sich das aschblonde Haar aus der Stirn.

»Armer Kring.« Sperber lächelte. »Mit einer solchen Botschaft könnte Mirtai ihn von den Toten zurückholen. Glaubst du, daß sie ihn heiraten wird?«

»Schwer zu sagen, Sperber. Er ist ihr jedenfalls nicht gleichgültig.«

Es klopfte. Mirtai öffnete die Tür und ließ Kalten ein. »Es ist ein herrlicher Tag«, sagte er. »Wir werden gutes Wetter für die Reise haben.«

»Wie geht es voran?« fragte ihn Sperber.

»Wir sind mit den Vorbereitungen so gut wie fertig.« Kalten trug ein Wams aus grünem Brokat. Er verbeugte sich höfisch vor der Königin. »Im Grund genommen sind wir bereits fertig, aber keiner scheint es wahrhaben zu wollen.«

»Könntet Ihr das näher erklären, Ritter Kalten?« bat Ehlana.

Er zuckte die Schultern. »Jeder geht noch einmal durch, was bereits alle anderen getan haben, um sich zu vergewissern, daß nichts übersehen wurde.« Er ließ sich in einen Sessel fallen. »Jeder hält sich für den wichtigsten Organisator, allen voran Emban. Wenn er mich noch ein einziges Mal fragt, ob die Ritter zum Aufbruch bereit sind, erwürge ich ihn! Er hat nicht die leiseste Ahnung, was alles dazu gehört, eine so große Reisegesellschaft von einem Ort zum anderen zu bewegen. Könnt ihr euch vorstellen, daß er uns alle auf ein Schiff verfrachten wollte? Mitsamt Pferden und allem anderen?«

»Das wäre arg eng geworden.« Ehlana lächelte. »Für wie viele Schiffe hat er sich schließlich entschieden?«

»Keine Ahnung. Ich weiß ja nicht einmal genau, wie viele Personen mitkommen. Eure Hofleute sind felsenfest überzeugt, daß Ihr ohne ihre Gesellschaft nicht leben könnt, Majestät. Es sind ihrer etwa vierzig, die Vorbereitungen für die Reise treffen.«

»Du solltest eine strenge Auswahl treffen, Ehlana«, meinte Sperber. »Ich möchte nicht den ganzen Hofstaat auf dem Hals haben.«

»Ich werde ein paar Leute brauchen, Sperber – und sei es nur, um den Schein zu wahren!«

Talen kam ins Gemach. Der schlaksige Junge trug, was er seine »Straßenkleidung« nannte. Die Sachen paßten nicht zusammen, außerdem waren sie mehr als schlicht und schon ziemlich abgetragen. »Er treibt sich immer noch da draußen herum!« rief er mit glänzenden Augen.

»Wer?« fragte Kalten.

»Krager. Er schleicht in Chyrellos herum wie ein ausgesetzter Hund, der nach einem neuen Zuhause sucht. Stragen hat ein paar Leute von der hiesigen Diebesgemeinschaft auf ihn angesetzt. Sie beobachten ihn Tag und Nacht. Aber wir haben trotzdem noch nicht herausfinden können, was er im Schilde führt.«

»Wie schaut er aus?«

»Noch schlimmer als früher.« Talens Stimme überschlug sich leicht, schwang zwischen Sopran und Bariton. Er war im Stimmbruch. »Die Jahre sind nicht besonders freundlich mit Krager umgesprungen. Seine Augen sehen aus, als wären sie in heißem Schmalz geschwommen. Er macht einen elenden Eindruck!«

»Ich kann nicht behaupten, daß sein Elend mich rührt«, brummte Sperber. »Ich werde seiner allmählich müde. Seit mehr als zehn Jahren geistert Krager in meinem Leben herum. Er ist wie ein Haufen Dung, in den man immer wieder tritt. Offenbar arbeitet er stets für die gegnerische Seite. Aber er ist nicht wichtig genug, daß man sich die Mühe macht, ihn zu beseitigen, wenn er seine Drecksarbeit getan hat.«

»Stragen könnte jemanden von der hiesigen Diebesbande bitten, ihm die Kehle durchzuschneiden«, schlug Talen vor.

Sperber dachte darüber nach. »Besser nicht«, sagte er schließlich. »Krager war immer eine gute Informationsquelle. Aber richte Stragen aus, daß wir gegen einen kleinen Plausch mit unserem alten Freund nichts einzuwenden hätten, sollte sich die Gelegenheit ergeben. Das Angebot, seine Beine zusammenzuflechten, macht Krager für gewöhnlich recht gesprächig.«

Ulath schaute etwa eine halbe Stunde später herein. »Hast du das Schreiben an Komier fertig?« fragte er Sperber.

»Den Entwurf«, antwortete Ehlana an Stelle ihres Gemahls. »Es muß noch ein wenig daran gefeilt werden.«

»Für Komier braucht Ihr nicht zu feilen, Majestät. Er ist an merkwürdige Briefe gewöhnt. Einer meiner genidianischen Mitbrüder hat ihm einmal einen Bericht auf Menschenhaut geschickt.«

Ehlana starrte ihn an. »Er hat was?«

»Er hatte nichts anderes, worauf er hätte schreiben können. Tja, ich wollte Euch ausrichten, daß soeben ein genidianischer Ritter mit einer Botschaft von Komier an mich eingetroffen ist. Er kehrt nach Emsat zurück und kann Sperbers Brief mitnehmen, wenn er fertig ist.«

»Der Brief ist gut genug«, erklärte Sperber, faltete das Pergament zusammen und versiegelte es mit ein wenig Kerzenwachs. »Was hat Komier dir mitgeteilt?«

»Zur Abwechslung mal eine gute Neuigkeit. Aus irgendeinem Grund haben sämtliche Trolle Thalesien verlassen.«

»Wohin sind sie?«

»Wer weiß? Wen interessiert das schon?«

»Die Menschen in dem Land, in das sie sich begegeben haben, könnte es sehr interessieren«, warf Kalten ein.

»Das ist ihr Problem.« Ulath zuckte die Schultern. »Aber seltsam ist es schon. Die Trolle kommen nämlich nicht sonderlich gut miteinander aus. Es ist seltsam, daß sie alle zur selben Zeit ihre Siebensachen packen und davonziehen. Muß eine interessante Versammlung gewesen sein. Normalerweise bringen sie einander um, wenn sie sich begegnen.«

»Viel helfen kann ich euch nicht, Sperber«, bedauerte Dolmant, als die beiden sich später unter vier Augen unterhielten. »In Daresien ist die Kirche gespalten. Sie erkennt dort die Oberherrschaft von Chyrellos nicht an, also kann ich sie nicht anweisen, euch zu unter stützen.« Dolmants Gesicht wirkte sorgenvoll und durch die weiße Soutane fahl. In gewisser Hinsicht herrschte Dolmant über ein Reich, das sich von Thalesien bis Cammorien erstreckte, und die Bürde seines Amtes lastete schwer auf ihm. Die Veränderung, die mit Dolmant in den vergangenen Jahren vor sich gegangen war, war eher auf seine Probleme zurückzuführen als darauf, daß ihm sein hohes Amt in den Kopf gestiegen sein könnte.

»In Astel ist es wahrscheinlicher, daß ihr Unterstützung bekommt, als in Edom oder Dakonien«, fuhr er fort. »Die Doktrin der astelischen Kirche ist der unseren sehr ähnlich – so ähnlich, daß wir sogar die astelischen geistlichen Ränge anerkennen. Edom und Dakonien haben sich bereits vor Jahrtausenden von der Astelischen Kirche gelöst und sind ihre eigenen Wege gegangen.« Der Erzprälat lächelte bedauernd. »Die Predigten in diesen beiden Reichen sind für gewöhnlich kaum mehr als hysterische Verleumdungen der Chyrellischen Kirche – und meiner Person. Sie sind antihierarchisch, ähnlich den Rendorern. Sollte Euer Weg Euch in diese beiden Reiche führen, müßt Ihr darauf gefaßt sein, daß sich die Kirche dort gegen Euch stellt. Der Umstand, daß Ihr Ordensritter seid, macht Euch für sie zum Feind. Man erzählt den Kindern dort, daß Ordensritter Hörner und Schwänze haben, Kirchen niederbrennen, Geistliche morden und das Volk unterdrücken.«

»Dann werde ich mein möglichstes tun, mich von diesen Reichen fernzuhalten, Sarathi«, versicherte Sperber. »Wer ist das Kirchenoberhaupt in Astel?«

»Der Erzmandrit von Darsas. Es ist ein obskurer Rang, in etwa mit unserem ›Patriarchen‹ vergleichbar. Die Kirche von Astel ist eine Art klösterliche Bruderschaft. Weltliche Kirchenleute gibt es dort nicht.«

»Gibt es sonst noch wichtige Unterschiede, von denen ich wissen sollte?«

»Einige der Gebräuche sind anders – liturgische Unterschiede hauptsächlich. Aber ich bezweifle, daß man Euch ersuchen wird, eine Messe zu lesen. Solche Probleme werdet Ihr nicht haben. Das ist auch gut so. Ich hörte Euch einmal predigen.«

Sperber lächelte. »Ein jeder von uns dient auf seine Weise, Sarathi. Als unsere Heilige Mutter mich in ihre Dienste nahm, ging es ihr nicht um Predigten. Wie muß ich den Erzmandriten von Darsas anreden, falls ich ihm begegne?«

»Nennt ihn ›Eminenz‹, so wie bei uns einen Patriarchen. Er ist übrigens ein imposanter Mann mit einem gewaltigen Bart. Es gibt sicher nichts in Astel, wovon er nicht weiß. Seine Priester sind überall. Das Volk traut ihnen rückhaltlos, und die Geistlichen erstatten dem Erzmandriten wöchentlich Bericht. In diesem Land hat die Kirche eine gewaltige Macht.«

»Welch ungewohnte Vorstellung!«

»Seht mich nicht so an, Sperber! In letzter Zeit lief's ohnehin nicht so, wie ich es gern gehabt hätte.«

»Wärt Ihr bereit, Euch meine Einschätzung anzuhören, Dolmant?«

»Meiner Person? Nein, lieber nicht.«

»Das habe ich nicht gemeint. Ihr seid zu alt, Euch zu ändern, glaube ich. Ich rede von Eurer Politik in Rendor. Der Grundgedanke war nicht schlecht, aber Ihr habt es falsch angepackt.«

»Hütet Eure Zunge, Sperber. Ihr wärt nicht der erste, den ich lebenslang ins Kloster schicke.«

»Eure Versöhnungstaktik mit den Rendorern war sehr vernünftig. Ich habe zehn Jahre dort gelebt und kenne die Menschen. Die gewöhnlichen Bürger ließen sich gern mit der Kirche aussöhnen – allein schon, um die heulenden Fanatiker in der Wüste loszuwerden. Eure Politik ist richtig, aber Ihr habt die falschen Leute geschickt, sie in die Tat umzusetzen.«

»Alle Priester, die ich sandte, sind Gelehrte in der Doktrin, Sperber.«

»Das ist ja das Problem. Ihr habt doktrinäre Fanatiker nach Rendor geschickt. Die wollen nichts anderes, als die Rendorer für ihre Ketzerei zu bestrafen.«

»Häresie ist ein Problem, Sperber.«

»Die Häresie der Rendorer ist nicht theologischer Natur, Dolmant. Sie beten denselben Gott an wie wir, und die Grundlage ihres Glaubens ist dieselbe wie unsere. Die Unstimmigkeiten beschränken sich ausschließlich auf den Bereich der Kirchenverwaltung. Die Kirche war korrupt, als die Rendorer sich von uns lösten. Mitglieder der Hierokratie übertrugen Verwandten Kirchenämter in Rendor, und diese Verwandten waren schmarotzende Opportunisten, die weit mehr daran interessiert waren, ihre eigenen Beutel zu füllen, als sich um das Seelenheil der Rendorer zu kümmern. So war die Ausgangslage, als die Rendorer Primasse und Priester zu ermorden begannen – und aus genau demselben Grund tun sie es auch jetzt. Ihr werdet die Rendorer nie mit der Kirche versöhnen, wenn Ihr sie bestrafen wollt. Es ist ihnen egal, wer unsere Heilige Mutter regiert. Euch werden sie nie persönlich gegenüberstehen, mein Freund, wohl aber ihrem Priester. Und wenn der nichts anderes tut, als sie Ketzer zu schimpfen und ihren Frauen die Schleier vom Gesicht zu reißen, werden sie ihn umbringen. So einfach ist das.«

Dolmants Gesicht wurde noch besorgter. »Vielleicht habe ich tatsächlich einen Fehler gemacht«, gab er zu. »Aber falls Ihr irgend jemandem erzählt, ich hätte das gesagt, streite ich es natürlich ab.«

»Natürlich.«

»Hm, und Ihr habt einen Vorschlag, was in diesem Fall zu tun wäre?«

Plötzlich kam Sperber ein Gedanke. »In einer armen Kirche in Borrata gibt es einen Vikar. Wenn ich je einem Heiligen begegnet bin, dann war er es. Ich kenne nicht einmal seinem Namen, doch Berit weiß, wie er heißt. Schickt ein paar Leute als Bettler verkleidet nach Cammorien und laßt Euch berichten, um Euch ein Bild von diesem Vikar zu machen. Er ist genau der Mann, den Ihr braucht.«

»Warum soll ich nicht einfach nach ihm schicken?«

»Vermutlich würde er keinen Ton herausbekommen, wenn er vor Euch steht, Sarathi. Er ist die Demut selbst. Außerdem würde er seine Schäfchen nie verlassen. Wenn Ihr ihn nach Chyrellos zitiert und nach Rendor entsendet, stirbt er Euch wahrscheinlich binnen sechs Monaten. Er ist so ein Mensch.«

Dolmants Augen füllten sich plötzlich mit Tränen. »Ihr stimmt mich traurig, Sperber. Dieses Ideal hatten wir einst alle, als wir unser Gelübde ablegten.« Er seufzte. »Wie konnten wir es nur so aus den Augen verlieren?«

»Die Welt hat ihren Tribut verlangt, Dolmant«, entgegnete Sperber sanft. »Die Kirche muß in der Welt bestehen, aber die Welt verdirbt sie viel schneller, als sie die Welt erlösen kann.«

»Und wie läßt sich dieses Problem beheben, Sperber?«

»Das weiß ich nicht, Sarathi. Vielleicht gar nicht.«

Sperber! Es war die Stimme seiner Tochter, und sie sprach in seinem Kopf. Da er gerade durch das Mittelschiff der Basilika ging, kniete er rasch nieder, wie um zu beten, damit nicht auffiel, was er wirklich tat.

Was gibt es, Aphrael? fragte er stumm.

Du brauchst dich nicht vor mir auf die Knie zu werfen, Sperber, kam die ironische Antwort.

Gibt es etwas Wichtiges, oder willst du dich nur über mich lustig machen?

Sephrenia möchte wieder mit dir reden.

Gut. Ich bin im Mittelschiff der Basilika. Komm herunter, dann steigen wir gemeinsam zum Turm hinauf.

Ich warte oben auf dich.

Es führt nur eine Treppe in den Turm, Aphrael. Die müssen wir hinaufsteigen.

Du vielleicht, ich nicht. Ich gehe nicht gern in den Altarraum, Sperber. Dort muß ich immer innehalten und mit deinem Gott reden, und das ist meist recht ermüdend.

Sperbers Verstand schauderte vor den möglichen Schlußfolgerungen aus ihrer Bemerkung zurück.

Die trockene Holztreppe, die sich in Spiralen zur Kuppel hinaufwand, knarrte und ächzte protestierend unter Sperbers wuchtigem Tritt. Sie war sehr hoch, und er kam atemlos oben an.

»Wieso hast du so lange gebraucht?« fragte Danae. Sie trug ein weißes Hängekleidchen, wie bei kleinen Mädchen nicht unüblich, und so fiel niemandem auf, daß es von styrischem Schnitt war. »Es gefällt dir wohl, so zu mir zu reden?« rügte Sperber.

»Ist doch bloß Spaß, Vater.« Sie lachte.

»Ich hoffe, niemand hat dich heraufkommen sehen. Ich glaube nicht, daß die Welt schon für eine fliegende Prinzessin bereit ist.«

»Niemand hat mich gesehen, Sperber. Ich tue so was ja nicht zum erstenmal. Vertrau mir.«

»Habe ich eine andere Wahl? Also, fangen wir an. Es gibt noch eine Menge zu tun, bevor wir morgen früh aufbrechen.«

Sie nickte und setzte sich mit überkreuzten Beinen neben eine der riesigen Glocken. Wieder hob sie das Gesichtchen und stieß das flötengleiche Trillern hervor. Dann schien ihre Stimme zu entschweben, und ihr Gesicht wurde ausdruckslos.

»Wo wart Ihr so lange?« fragte Sephrenia und schlug Danaes Augen auf, um zu ihrem Schüler emporzublicken.

Er seufzte. »Wenn ihr zwei nicht damit aufhört, werde ich ich gewisse Konsequenzen ziehen!«

»Hat Aphrael Euch wieder geneckt?« fragte Sephrenia.

»Was sonst? Habt Ihr gewußt, daß sie fliegen kann?«

»Selbst gesehen habe ich es nicht, aber ich nahm es natürlich an.«

»Weshalb möchtet Ihr mich sprechen?«

»Ich habe beunruhigende Gerüchte vernommen. Die Nordataner sind in den Wäldern an der Nordküste ihres Reiches auf sehr große zottelige Kreaturen mit zotteligem Fell gestoßen.«

»Also dort sind sie hin!«

»Sprecht nicht in Rätseln, Lieber.«

»Komier sandte Ulath eine Botschaft, die besagte, daß offenbar alle Trolle Thalesien verlassen hätten.«

»Die Trolle!« rief Sephrenia. »Aber so etwas würden sie niemals tun! Thalesien ist seit Urzeiten ihre Heimat!«

»Vielleicht solltet Ihr lieber die Trolle daran erinnern. Komier ist überzeugt, daß kein einziger in Thalesien geblieben ist.«

»Etwas sehr, sehr Seltsames geht da vor sich, Sperber!«

»Offensichtlich. Können die Styriker von Sarsos sich einen Reim darauf machen?«

»Nein. Zalasta ist mit seiner Weisheit am Ende.«

»Und habt Ihr inzwischen eine Idee, wer hinter allem stecken könnte?«

»Sperber, wir wissen nicht einmal, was dahintersteckt. Wir haben nicht einmal die leiseste Ahnung, von welcher Art es sein könnte!«

»Aber irgendwie kommen wir immer wieder auf die Trollgötter zurück. Irgendeine Macht brachte die Trolle dazu, Thalesien zu verlassen. Wer sonst käme da in Frage, wenn nicht die Trollgötter? Können wir denn ganz sicher sein, daß es ihnen nicht gelungen ist, sich zu befreien?«

»Bei Göttern ist nichts unmöglich, Sperber. Ich weiß nicht, welchen Zaubers sich Ghwerig bedient hat, als er die Trolle ins Innere Bhellioms verbannte, daher weiß ich auch nicht, ob dieser Zauber gebrochen werden kann.«

»Dann wäre es also möglich?«

»Das sagte ich doch eben, Lieber. Habt Ihr diesen Schatten – oder die Wolke – in letzter Zeit wieder gesehen?«

»Nein.«

»Hat Aphrael sie je gesehen?«

»Nein.«

»Sie könnte es Euch sagen, aber ich möchte sie dieser unbekannten Gefahr lieber nicht aussetzen. Vielleicht können wir den Schatten dazu bringen, sich zu zeigen, wenn Ihr hier seid, so daß ich ihn mir ansehen kann. Wann brecht ihr auf?«

»Morgen in aller Früh. Danae ließ durchblicken, daß sie die Zeit beeinflussen kann wie damals, als wir mit Warguns Armee nach Azie marschierten. Das würde uns schneller ans Ziel bringen. Aber kann sie es jetzt noch so unbemerkt tun wie damals, als sie Flöte war?«

Die Glocke hinter der reglosen Gestalt seiner Tochter gab einen tiefen, weichen Ton von sich. »Warum fragst du nicht mich, Sperber?« Danaes Stimme schwang im Glockenton. »Es ist ja nicht so, daß ich nicht hier bin.«

»Woher sollte ich das wissen?« fragte Sperber die immer noch summende Glocke. »Kannst du es?«

»Natürlich kann ich es, Sperber!« antwortete sie gereizt. »Weißt du denn überhaupt nichts?«

»Das genügt!« tadelte Sephrenia.

»Aber er ist so schwer von Begriff!«

»Aphrael! Ich sagte, das genügt! Du wirst es deinem Vater gegenüber nicht am nötigen Respekt mangeln lassen.« Ein schwaches Lächeln huschte über die Lippen der scheinbar schlafenden kleinen Prinzessin. »Mag er noch so schwer von Begriff sein.«

Sperber seufzte.

»Schon gut, Sperber«, sagte Aphrael leichthin. »Wir sind doch Freunde. Da sollten wir keine Geheimnisse voreinander haben.«

Sie verließen Chyrellos am folgenden Morgen und ritten in der hellen Morgensonne auf der arzischen Seite des Sarins südwärts – mit einhundert voll gerüsteten Ordensrittern als Eskorte. Das Gras am Ufer war saftig grün, und der Himmel war mit weißen Wölkchen betupft, die wie Wattebäuschchen aussahen.

Nach einiger Diskussion hatten Sperber und seine königliche Gemahlin sich geeinigt, daß Ehlanas Gefolge, das sie benötigen würde, um den Schein zu wahren, zum größten Teil aus den Reihen der Ordensritter rekrutiert werden sollte. »Stragen kann sie ausbilden«, sagte Sperber zu seiner Gemahlin. »Er hat so allerlei Erfahrung. Da wird es ihm auch gelingen, aufrechte Ritter wie nutzlose Hofschranzen aussehen zu lassen.«

Es hatte sich jedoch als notwendig erwiesen, eine Hofdame mitzunehmen, eine junge Frau in Ehlanas Alter, mit honigblondem Haar, tiefblauen Augen und beschränktem Verstand. Ehlana nahm zudem eine Kammermaid mit, ein Mädchen mit sanften rehbraunen Augen, namens Alean. Die beiden fuhren in der Karosse mit der Königin, Mirtai, Danae und dem außerordentlich elegant gekleideten Stragen, der sie mit humorvollem Geplauder unterhielt. Sperber war der Ansicht, daß Stragen und Mirtai seine Gemahlin und Tochter im Notfall schützen könnten.

Doch Patriarch Emban erwies sich als Problem. Schon nach wenigen Meilen war nicht zu überhören, daß sich der Kirchenmann im Sattel gar nicht wohl fühlte, da er sich lautstark beklagte.

»Das gibt ein Unglück, sag' ich dir«, bemerkte Kalten am späten Vormittag. »Kirchenmann oder nicht, wenn die Ritter den ganzen Weg quer über den daresischen Kontinent Embans Gejammer ertragen müssen, wird er vermutlich einen Unfall erleiden, ehe wir Matherion erreichen. Ich habe jetzt schon gute Lust, ihn höchstpersönlich zu ertränken, und hier am Fluß könnte die Versuchung übermächtig werden.«

Sperber ließ sich Kaltens Klage durch den Kopf gehen. Er blickte auf die Karosse der Königin. »Diese Kalesche ist nicht groß genug«, erklärte er seinem Freund. »Wir brauchen etwas Größeres. Außerdem wären sechs Pferde eindrucksvoller als vier. Sieh dich mal nach Bevier um.«

Als Kalten mit dem dunkelhäutigen Arzier zurückkam, erklärte Sperber ihm die Situation. »Wenn wir Emban nicht vom Pferd herunterholen, brauchen wir ein Jahr, um Daresien zu durchqueren. Stehst du mit deinem Vetter Lycien noch auf gutem Fuß?«

»Natürlich. Wir sind die besten Freunde!«

»Dann schlage ich vor, daß du vorausreitest und ein Wort mit ihm redest. Wir brauchen eine große Karosse mit Platz für mindestens acht Personen. Ein Sechsergespann, würde ich sagen. Wir setzen Emban und Botschafter Oscagne in die Kutsche zu meiner Gemahlin und ihrem Gefolge. Bitte deinen Vetter, eine solche Karosse für uns zu beschaffen.«

»Das wird ziemlich teuer, Sperber«, gab Bevier zu bedenken.

»Macht nichts, Bevier. Die Kirche wird es bezahlen. Nach einer Woche auf dem Pferderücken wird Emban mit Freuden alles unterzeichnen, was ihn von weiteren Mühsalen im Sattel befreit. Ach ja, und da dich der Weg ohnehin nach Madol führt, sorg bitte dafür, daß unser Schiff flußauf zu Lyciens Anlegeplätzen geschafft wird. Madol ist keine Stadt, die einen Aufenthalt wert wäre, und Lyciens Anlegeplätze liegen sehr günstig.«

»Werden wir sonst noch etwas brauchen, Sperber?« fragte Bevier.

»Zur Zeit fällt mir nichts mehr ein. Aber dir vielleicht, auf dem Ritt nach Madol. Tue dir keinen Zwang an! Uns stehen ausnahmsweise unbeschränkte Mittel zur Verfügung. Die Schatzkammern der Kirche stehen uns weit offen.«

»Das würde ich im Beisein Stragens oder Talens nicht unbedingt erwähnen, mein Freund.« Bevier lachte. »Ich erwarte Euch bei Lycien. Wir sehen uns in seinem Haus!« Bevier wendete sein Pferd und ritt im Galopp südwärts.

»Warum hast du ihn nicht einfach eine zweite Kutsche für Emban und Oscagne besorgen lassen?« fragte Kalten.

»Weil wir eine Kutsche besser im Auge behalten können, wenn wir in Tamuli sind.«

»Oh. Klingt vernünftig – irgendwie.«

Eines Spätnachmittags gelangten sie zum Haus von Beviers Vetter, dem Graf Lycien. Sie trafen Bevier und seinen korpulenten Verwandten mit dem roten Gesicht auf dem kiesbedeckten Hof vor dem prächtigen Haus an. Der Graf verbeugte sich tief vor Königin Ehlana und beharrte darauf, daß sie während des Aufenthalts in Madol sein Gast war. Kalten schickte die Ritter in Lyciens parkähnlichen Garten.

»Hast du eine Karosse aufgetrieben?« fragte Sperber Bevier.

Der Cyriniker nickte. »Sie ist groß genug für unseren Zweck«, erklärte er ein wenig zögernd, »aber Patriarch Emban bekommt vermutlich graue Haare, wenn er den Preis hört.«

»Da wäre ich mir nicht so sicher«, beruhigte Sperber ihn. »Fragen wir Emban.« Sie überquerten den schotterbedeckten Hof, um zum Patriarchen von Uzera zu gelangen, der neben seinem Pferd stand und sich mit einem Ausdruck tiefsten Elends an den Sattelknauf klammerte.

»Angenehmer Ritt, nicht wahr, Eminenz?« wandte Sperber sich gutgelaunt an den Dicken.

Emban stöhnte. »Ich glaube, ich werde mindestens eine Woche lang nicht gehen können!«

»Wir sind bisher sehr gemütlich geritten«, fuhr Sperber fort. »Wenn wir erst in Tamuli sind, werden wir viel schneller vorankommen müssen.« Er machte eine Pause. »Darf ich offen zu Euch sprechen, Eminenz?«

»Das werdet Ihr sowieso, Sperber«, brummte Emban. »Oder würdet Ihr Rücksicht darauf nehmen, wenn ich's Euch verwehrte?«

»Wahrscheinlich nicht. Ihr haltet uns auf, wißt Ihr.«

»Ihr nehmt wirklich kein Blatt vor den Mund, Sperber.«

»Ihr habt nicht die richtige Statur für einen Reiter, Patriarch Emban. Eure Vorzüge sind im Kopf, nicht im Gesäß.«

Embans Pupillen verengten sich feindselig. »Nur weiter so«, sagte er drohend.

»Da wir in Eile sind, haben wir beschlossen, Euch Räder zu besorgen. Würdet Ihr Euch in einer gepolsterten Karosse wohler fühlen, Eminenz?«

»Sperber, ich könnte Euch küssen!«

»Ich bin verheiratet, Eminenz. Meine Gemahlin könnte das mißverstehen. Aus Sicherheitsgründen ist eine Karosse besser als zwei. Deshalb nahm ich mir die Freiheit, ein Gefährt zu beschaffen, das etwas größer ist als die Karosse, in der Ehlana von Chyrellos hierherkam. Es macht Euch doch nichts aus, mit ihr zu fahren, nicht wahr? Wir würden Euch und Botschafter Oscagne gern in der Karosse mit der Königin und ihrem Gefolge unterbringen. Ist Euch das recht?«

»Wollt Ihr, daß ich den Boden küsse, auf dem Ihr steht, Sperber?«

»Oh, das ist nicht nötig, Eminenz. Ihr müßt lediglich die Genehmigung für den Kauf der Karosse unterzeichnen. Es ist schließlich eine dringende Kirchenangelegenheit, die eine solche Anschaffung rechtfertigt. Meint Ihr nicht?«

»Wo soll ich unterschreiben?« fragte Emban ungeduldig.

»Eine Karosse dieser Größe ist teuer, Eminenz«, warnte Sperber.

»Ich würde sogar die Basilika verpfänden, nur um nicht mehr im Sattel sitzen zu müssen!«

»Siehst du«, sagte Sperber zu Bevier, als sie davonschlenderten. »Das war gar nicht so schlimm, oder?«

»Woher hast du gewußt, daß er so schnell einverstanden sein wür de?«

»Es war der richtige Zeitpunkt, Bevier. Später wäre ihm der Preis vielleicht zu hoch gewesen. Aber der Leidende zahlt jeden Preis für die Erlösung.«

»Du bist ein herzloser Bursche, Sperber.« Bevier lachte.

»Das habe ich im Lauf der Zeit schon von allen möglichen Leuten gehört«, versicherte Sperber ihm grinsend.

»Meine Männer werden heute damit fertig, Eure Ausrüstung und Vorräte für die Reise aufs Schiff zu schaffen, Sperber«, versicherte ihm Graf Lycien, als sie zum Dorf am Fluß ritten, wo sich die Anlegestellen befanden. »Ihr könnt mit der Morgenflut auslaufen.«

»Ihr seid ein wahrer Freund, Graf Lycien«, bedankte sich Sperber. »Ihr seid immer für uns da, wenn wir Euch brauchen.«

»Ihr übertreibt mit Eurem Lob, Ritter Sperber.« Lycien lachte. »Ich mache mit der Versorgung Eurer Schiffe einen ordentlichen Profit.«

»Es freut mich immer, wenn meine Freunde es zu etwas bringen.«

Lycien blickte über die Schulter auf die Königin von Elenien, die ein Stück weiter hinten auf einem grauen Zelter saß.

»Ihr müßt der glücklichste Mann auf der Welt sein, Sperber«, meinte er. »Eine schönere Frau als Eure Gemahlin habe ich nie gesehen!«

»Ich werde ihr nicht verheimlichen, daß Ihr das gesagt habt, Graf Lycien. Es wird sie gewiß freuen.«

Ehlana und Emban hatten beschlossen, Sperber und Lycien auf ihrem Ausritt zu begleiten. Ehlana wollte die Räumlichkeiten auf dem Schiff begutachten und Emban die Karosse, die er erstanden hatte.

Die Flotte an Lyciens Anlegestellen bestand aus einem Dutzend gut ausgestatteter Schiffe. Verglichen mit ihnen wirkten die in der Nähe vertäuten Kauffahrer schäbig.

Der Fluß funkelte in der Vormittagssonne. Lycien zeigte ihnen die Ortschaft, die sich um die Anlegestellen erstreckte, als plötzlich eine Stimme erschallte, die einem Nebelhorn nicht unähnlich war: »Meister Cluff!«

Sperber drehte sich im Sattel. »Also, wenn das nicht Kapitän Sorgi ist!« rief er erfreut. Er mochte den rauhbeinigen silberhaarigen Seekapitän, mit dem ihn so viele gemeinsame Stunden verbanden. Er schwang sich von Farans Rücken und schüttelte herzlich die Hand seines Freundes.

»Ich habe Euch seit einem ganzen Hundealter nicht mehr gesehen, Meister Cluff«, sagte Sorgi überschwenglich. »Seid Ihr immer noch auf der Flucht vor diesen Vettern?«

Sperber verzog das Gesicht und seufzte abgrundtief. Die Gelegenheit war zu günstig, um sie ungenutzt zu lassen. »Nein«, antwortete er mit gebrochener Stimme, »jetzt nicht mehr. Ich habe den Fehler gemacht, in einer Schenke in Apalia, oben in Nordpelosien, zu tief in einen Krug Met zu blicken. Dort holten die Vettern mich ein.«

»Konntet Ihr ihnen entkommen?« Sorgis Gesicht spiegelte seine Besorgnis.

»Es waren ein Dutzend Gegner, Käpten. Sie überwältigten mich, ehe ich auch nur einen Finger rühren konnte. Sie legten mir Ketten an und schleppten mich zum Haus der häßlichen Erbin, von der ich Euch erzählte.«

»Sie haben Euch doch nicht etwa gezwungen, sie zu heiraten?« fragte Sorgi bestürzt.

»Ich fürchte ja, mein Freund«, erwiderte Sperber in düsterem Tonfall. »Die dort auf dem grauen Zelter ist meine Gemahlin.« Er zeigte auf die bildschöne Königin von Elenien.

Kapitän Sorgi riß Augen und Mund weit auf.

»Ein schrecklicher Anblick, nicht wahr?« sagte Sperber mit kummervoller Miene.