23

Mit Ghworgs Verschwinden zerrissen auch die Bande, welche die Trolle zusammenhielten. Sie wurden wieder die Einzelgänger, als die Ulath sie oft genug beschrieben hatte. Ohne den auf übernatürliche Weise einigenden Einfluß ihres Gottes brach ihre gewohnte Aggressivität gegeneinander wieder hervor. Der Ansturm geriet ins Stocken, als einige Trolle geifernd aufeinander losgingen. Die Wut griff rasch auf andere über, und in kürzester Zeit herrschte vor dem Eingang zur Schlucht ein wildes Handgemenge.

»Nun?« Kalten blickte Ulath fragend an.

»Es ist vorbei.« Der genidianische Ritter zuckte die Schultern. »Zumindest für uns. Die Trolle werden sich vermutlich noch geraume Weile die Köpfe einschlagen.«

Kring war offenbar zum gleichen Schluß gekommen. Mit Säbeln und Lanzen in den Fäusten ritten er und seine Peloi auf Sperbers Bitte hin suchend zwischen die zuhauf liegenden Trollkörper, um die noch lebenden Ungeheuer zu töten.

Noch immer stand Khalad mit entrückter Miene hinter seiner selbstgebauten Speerschleuder. Plötzlich schien er zu erwachen. Er schaute sich verwirrt um. »Was ist geschehen?«

»Du hast diese Riesenechse getötet, junger Freund«, lobte Tynian ihn. »Das war ein außergewöhnlicher Schuß.«

»Ich? Ich kann mich gar nicht erinnern, daß ich auf die Bestie gezielt hätte. Ich dachte, sie wäre außerhalb meiner Schußweite.«

Zalasta kam mit zufriedener Miene den Hang herab. »Es tut mir leid, ich mußte kurz über Eure Gedanken verfügen, junger Herr«, wandte er sich an Sperbers Knappen. »Ich brauchte Eure Maschine, um die Donnerbestie zu erlegen. Ich hoffe, Ihr verzeiht mir. Es blieb leider keine Zeit, Euch zuvor darum zu bitten.«

»Das ist schon recht so, Weiser. Ich wünschte nur, ich hätte diesen Schuß sehen können. Was war das für ein Tier?«

»Seine Gattung lebte vor Abermillionen Jahren auf der Erde«, erklärte der Styriker ihm, »noch vor den Menschen, ja, sogar vor den Trollen. Unser Gegner vermag offenbar selbst Wesen aus der Urzeit wiederzubeleben.«

»War er das in der Feuerkugel?« fragte Kalten. »Unser Gegner?«

»Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen, Ritter Kalten. Es scheint, daß wir da draußen viele Ebenen verschiedener Gegner haben. Falls das Wesen in der Kugel nicht unser Hauptfeind war, gehörte er zumindest einer der höchsten Ebenen an. Er besaß sehr großes Können!«

»Sehen wir nach den Verwundeten!« bestimmte Vanion. Trotz seiner Proteste, nicht er sei jetzt der Hochmeister der Pandioner, sondern Sperber, ging Vanion das Befehlen noch immer leicht von der Hand.

»Wir sollten auch den Zugang zur Schlucht gänzlich verbarrikadieren«, schlug Ulath vor. »Schon um nachts keine unerwarteten Besuche von Trollen zu bekommen.«

»Ich werde den Damen Bescheid geben, daß das Schlimmste überstanden ist«, sagte Sperber. Er wendete Faran und ritt zur Höhle. Er war erstaunt und verärgert zugleich, als er sah, daß Ehlana und die anderen im Freien standen. »Ich habe angeordnet, daß ihr in der Höhle bleibt!« rügte er seine Gemahlin scharf.

»Aber du hast doch nicht ernsthaft erwartet, daß ich dir gehorche, oder?«

»Doch, das habe ich!«

»Das Leben hält leider immer wieder kleine Enttäuschungen bereit, nicht wahr?« entgegnete sie herausfordernd.

»Das reicht jetzt, Kinder!« tadelte Sephrenia sie müde. »Eheliche Unstimmigkeiten sollten nicht in der Öffentlichkeit ausgetragen werden. Streitet, wenn ihr allein seid!«

»Wir haben doch gar nicht gestritten, oder, Sperber?« sagte Ehlana unschuldig.

»Wir wollten gerade loslegen.«

»Tut mir leid, Liebster«, entschuldigte Ehlana sich zerknirscht. »Ich habe es in der Höhle einfach nicht ausgehalten, während du dich in so schrecklicher Gefahr befunden hast.« Sie verzog das Gesicht. »Ich fürchte, ich muß die bittere Arznei schlucken und Zalasta Abbitte leisten. Ich habe ihm schrecklich Unrecht getan. Er hat uns alle gerettet, nicht wahr?«

»Jedenfalls hat er uns nicht geschadet«, stimmte Talen zu.

»Er war großartig« rief die Königin.

»Er ist ungemein geschickt«, bestätigte Sephrenia stolz. Sie nahm Danae auf den Arm. Vermutlich war es ihr gar nicht bewußt; nach Jahrhunderten ihrer Schwesterschaft geschah es ganz von selbst.

»Was war das für eine gräßliche Fratze am Waldrand?« fragte Berit schaudernd.

»Ulath meint, es sei Ghworg gewesen, der Trollgott des Tötens«, antwortete Sperber. »Aus dem Azashtempel in Zemoch kann ich mich schwach an diese Gottheit erinnern. Allerdings habe ich dort nicht weiter auf Ghworg geachtet, dazu war ich zu beschäftigt.« Er verzog das Gesicht. »Unsere Vermutung scheint zu stimmen. Ghwerigs Zauber war demnach nicht so wirkungsvoll, wie wir ursprünglich gedacht hatten. Die Trollgötter sind frei – Ghworg jedenfalls. Mich wundert nur, weshalb sie sich nicht schon eher befreit haben. Wenn sie Bhelliom jederzeit verlassen konnten, warum haben sie es dann nicht getan, als ich im Tempel drohte, den Stein zu zerschmettern?«

»Vielleicht, weil sie Hilfe dazu brauchten.« Sephrenia zuckte die Schultern. »Es ist durchaus möglich, daß unser Feind den Pakt mit den Trollgöttern nur deshalb schließen konnte, weil er ihnen versprach, sie aus ihrem Gefängnis zu befreien. Fragen wir Zalasta, vielleicht weiß er es.«

Der Kampf gegen die Trolle hatte mehr Opfer gefordert, als Sperber gedacht hatte. Viele Ritter waren verwundet worden, und fünfzehn waren gefallen. Als der Abend sich in die Klamm herabsenkte, kam Engessa mit grimmigem Gesicht zu Sperber. »Ich breche jetzt auf, Sperber-Ritter«, sagte er knapp.

Sperber blickte ihn erstaunt an.

»Ich habe ein Wörtchen mit dem Clan dieses Gebiets zu reden. Daß er uns nicht an seiner Grenze erwartet hat, ist unentschuldbar.«

»Es gab wahrscheinlich einen guten Grund dafür, Atan Engessa.«

»Einen solchen Grund kann es nicht geben! Ich werde am Morgen zurück sein – mit genügend Kriegern zum Schutz für EhlanaKönigin.«

»Da draußen im Wald sind Trolle, wie Ihr wißt.«

»Sie werden mich nicht aufhalten, Sperber-Ritter.«

»Seid vorsichtig, Atan Engessa. Ich bin es müde, Freunde begraben zu müssen.«

Engessa grinste plötzlich. »Das ist das Gute beim Kampf gegen Trolle, Sperber-Ritter. Man braucht tote Freunde nicht zu begraben. Die Trolle fressen sie.«

Sperber schauderte.

Zalasta war zweifellos der Held des Tages. Alle Peloi und die meisten Ordensritter blickten voll Ehrfurcht zu ihm auf. Das Bild des feurigen Zweikampfs mit dem Vermummten in der purpurnen Flammenkugel und das spektakuläre Ende der gigantischen Echse haftete jedem noch frisch im Gedächtnis. Zalasta gab sich jedoch bescheiden und tat diese unglaublichen Leistungen ab, als wären sie nichts Besonderes gewesen. Doch er freute sich sichtlich darüber, daß Ehlanas Abneigung in Herzlichkeit umgeschlagen war. Zalasta zeigte plötzlich Gefühle – Ehlana hatte diese Wirkung auf andere –, er war nicht mehr so zurückhaltend und viel menschlicher.

Engessa kehrte am nächsten Morgen mit eintausend atanischen Clansmännern zurück. Die Gesichter ihrer Führer verrieten unverkennbar, daß Engessa sie heftig zur Rede gestellt hatte, weil sie nicht zur vereinbarten Zeit an der Grenze gewesen waren.

Die verwundeten Ritter wurden auf Bahren gehoben und von atanischen Kriegern getragen, und die beträchtlich angewachsene Reisegesellschaft kehrte langsam zur Straße zurück und zog wieder ostwärts, in Richtung Lebas in Tamul.

Durch die Verwundeten behindert, kamen sie nicht sehr schnell voran – so schien es zumindest. Nach scheinbar zwei vollen Reisetagen ließ Sperber seine Tochter verstohlen wissen, daß er unbedingt mit ihr reden müsse, sobald die anderen der Wirklichkeit entrückt waren. Als die leeren Gesichter seiner Kameraden Sperber verrieten, daß Aphrael wieder den Zeitablauf beeinflußte, ritt er zur Karosse zurück.

»Bitte komm gleich zur Sache, Sperber«, bat die kleine Göttin ihn. »Es ist diesmal sehr schwierig.«

»Ist es denn jetzt anders?«

»Natürlich. Ich verlängere die Schmerzen der Verwundeten, und das ist sehr unangenehm. Natürlich sorge ich dafür, daß sie soviel wie möglich schlafen, aber es gibt Grenzen, weißt du.«

»Die Geschehnisse in der Schlucht – was war Wirklichkeit und was war Illusion?«

»Wie soll ich das wissen?«

»Willst du damit sagen, du konntest es nicht erkennen?«

»Natürlich nicht, Sperber! Wenn wir ein Trugbild schaffen, kann niemand den Unterschied erkennen. Was nutzt das beste Trugbild, wenn jemand es durchschauen kann?«

»Du hast ›wir‹ gesagt. Wenn es also ein Trugbild war, muß ein Gott dahinterstecken, richtig?«

»Ja. Direkt oder indirekt. War es indirekt, muß der Verantwortliche allerdings einen sehr großen Einfluß auf den betreffenden Gott gehabt haben. Wir übertragen eine solche Kraft nicht sehr oft auf andere – und auch nicht gern. Rede nicht um den heißen Brei, Sperber. Was beunruhigt dich?«

»Ich wollte, ich wüßte es, Aphrael«, gestand er. »Beim Kampf in der Schlucht hat irgend etwas mich stutzig gemacht.«

»Das ist mir zu ungenau, Sperber. Ich brauche schon einen Anhaltspunkt.«

»Das Ganze kam mir einfach übertrieben vor. Ich hatte das Gefühl, daß jemand angeben wollte. Es war – kindisch!«

Sie dachte darüber nach und verzog das Schmollmündchen ein wenig. »Vielleicht sind wir kindisch, Sperber. Es gibt nichts, was uns zwingt, erwachsen zu werden; deshalb steht es uns frei, in unserer Kindheit zu schwelgen. Diesen Zug habe ich sogar an mir selbst schon festgestellt.«

»An dir?«

»Ach, Vater«, rügte sie fast abwesend. Sie hatte die kleinen dunklen Brauen nachdenklich zusammengezogen. »Aber es ist nicht ganz aus der Luft gegriffen«, fügte sie hinzu. »Auch diesem Burschen in Astel, diesem Säbel, fehlte jegliche Reife. Außerdem war er nur eine Marionette. Vielleicht bist du tatsächlich auf eine unserer Schwächen gestoßen, Sperber. Es wäre mir allerdings lieb, wenn du es als einen allgemeinen göttlichen Mangel an geistiger Reife und nicht als meine persönliche Schwäche betrachten würdest. Mir selbst fällt es natürlich nicht so auf. Falls es wirklich eine unserer kleinen Unvollkommenheiten ist, bin ich ebenso davon betroffen wie die übrigen. Jeder von uns liebt es, die anderen zu beeindrucken, und es gilt bei uns als höflich, sich beeindruckt zu zeigen, wenn ein anderer seine Talente herausstreicht.« Sie verzog das Gesichtchen. »Das tun wir ganz unbewußt, fürchte ich. Behalte einen klaren Blick, Sperber. Daß man dir nicht so schnell etwas vormachen kann, mag sich noch als sehr nützlich erweisen. Aber schlaf jetzt bitte weiter. Ich bin wirklich sehr beschäftigt.«

Sie überquerten den Kamm des atanischen Gebirges und begaben sich über die östlichen Hänge hinunter zur Grenze zwischen Atan und Tamul, die abrupt und deutlich erkennbar war. Atan war eine Wildnis aus Bäumen und schroffen Bergen, Tamul hingegen ähnelte einem gepflegten Park. Die Felder waren ordentlich und regelmäßig angelegt, und sogar die Hügel sahen kunstvoll geformt aus, um einen Anblick zu bieten, der das Auge erfreut. Die Landbevölkerung machte einen fleißigen Eindruck, und ihre Gesichter wiesen nicht den Ausdruck hoffnungslosen Elends auf wie jene der Bauern und Leibeigenen der elenischen Königreiche.

»Organisation, mein teurer Emban«, sagte Oscagne zu dem dicken kleinen Kirchenherrn. »Unser Schlüssel zum Erfolg liegt in der Organisation. Alle Macht in Tamul kommt vom Kaiser, und alle Entscheidungen werden in Matherion getroffen. Wir schreiben unseren Bauern sogar vor, wann sie pflanzen und wann sie ernten sollen. Ich gebe zu, daß zentralisierte Planung ihre Nachteile hat, aber das Wesen der Tamuler scheint danach zu verlangen.«

»Elenier sind bedauerlicherweise viel weniger diszipliniert«, entgegnete Emban. »Mit fügsameren Schäfchen wäre die Kirche bedeutend glücklicher. Aber wir müssen nun mal mit dem zurechtkommen, was Gott uns gegeben hat.« Er lächelte. »Was soll's, es macht das Leben interessant.«

Sie erreichten Lebas an einem Spätnachmittag. Es war eine kleine, saubere Stadt mit für Elenier ausgesprochen fremdartiger Architektur, die stark zu kunstvoller Verzierung neigte. Die Häuser waren niedrig und breit, mit anmutigen Dächern, die sich am Firstende aufwärts krümmten, als hätten die Baumeister schroffe gerade Linien für unvollkommen befunden. Die mit Kopfsteinen gepflasterten Straßen waren breit und gerade, und von Bürgern in bunten Seidengewändern bevölkert.

Die Ankunft der Menschen aus dem Westen erregte beachtliches Aufsehen, da die Tamuler bisher noch nie elenische Ritter zu Gesicht bekommen hatten. Was sie jedoch am meisten beeindruckte, war die Königin von Elenien. Die Tamuler waren ein Volk mit bronzefarbener Haut und dunklem Haar, und die blasse, aschblonde Königin weckte Ehrfurcht in ihnen, als ihre Kutsche beinahe feierlich durch die Straßen rollte.

Ehlanas größte Sorge indes galt den Verwundeten. Oscagne versicherte ihnen, daß die tamulischen Ärzte zu den besten der Welt zählten. Offenbar war der Botschafter ein sehr einflußreicher Mann im Reich. Sofort wurde ein Haus für die verwundeten Ritter zur Verfügung gestellt, und auf Oscagnes Befehl hin erschienen umgehend Ärzte und Pfleger. Auch den anderen teilte man gut eingerichtete Häuser mitsamt Dienerschaft zu, die allerdings kein Wort Elenisch verstand.

»Ihr habt hier offenbar sehr großen Einfluß, Oscagne«, sagte Emban an diesem Abend nach einem exotischen Mahl, das aus Gängen um Gängen unbekannter Delikatessen von mitunter erstaunlichem Geschmack bestand.

»Es ist nicht mein Gewicht, das so schwer wiegt, mein Freund.« Oscagne lächelte. »Meine Bevollmächtigung ist vom Kaiser unterzeichnet, und seine Hand schrieb mit dem Gewicht des gesamten daresischen Kontinents. Er hat ganz Tamuli befohlen, alles nur Mögliche – ja, sogar Unmögliche – zu tun, um den Besuch Königin Ehlanas angenehm und erfreulich zu gestalten. Niemand widersetzt sich je des Kaisers Befehlen.«

»Dann müssen seine Anweisungen noch nicht bis zu den Trollen vorgedrungen sein«, sagte Ulath mit unbewegtem Gesicht. »Natürlich haben Trolle eine andere Weltanschauung als wir. Vielleicht dachten sie, Königin Ehlana würde sich über ihre Art der Begrüßung freuen.«

»Nimmt er denn gar nichts ernst?« beschwerte Oscagne sich bei Sperber.

»Ulath? Nein, ich glaube nicht, Exzellenz. Es ist ein thalesischer Wesenszug – schwer zu verstehen, fürchte ich, und möglicherweise abartig.«

»Sperber!« protestierte der Genidianer.

»Ist nicht persönlich gemeint, alter Freund.« Sperber grinste. »Nur ein kleiner Hinweis, daß ich dir deine Hinterlist, mich zum Kochen einzuteilen, als ich gar nicht an der Reihe war, noch nicht ganz vergeben habe.«

»Halt still!« befahl Mirtai.

»Ich hab' was davon ins Auge gekriegt!« beklagte sich Talen.

»Es wird dir nicht schaden! Also, halt endlich still!« Mirtai fuhr fort, die Mischung auf seine Wangen zu reiben.

»Was ist das, Mirtai?« erkundigte Baroneß Melidere sich neugierig.

»Safran. Wir benutzen es zum Kochen. Es ist eine Art Gewürz.«

»Was geht hier vor?« erkundigte Ehlana sich erstaunt, als sie und Sperber das Zimmer betraten und sahen, wie Mirtai das gelbe Gewürz auf Talens Gesicht verteilte.

»Wir verändern das Aussehen Eures Pagen ein wenig, Hoheit«, erklärte Stragen. »Er muß sich auf den Straßen umsehen, und da darf er nicht auffallen. Mirtai färbt seine Haut.«

»Das hättest du doch mit Magie tun können, Sperber, nicht wahr?« fragte Ehlana.

»Vermutlich«, antwortete ihr Gemahl. »Und wenn nicht, wäre es für Sephrenia kein Problem gewesen.«

»Das sagt ihr mir jetzt«, beschwerte Talen sich verärgert. »Mirtai würzt mich bereits seit über einer halben Stunde.«

»Du riechst jedenfalls gut«, versicherte Melidere.

»Ich habe nicht vor, in jemandes Kochtopf zu enden. Au!«

»Tut mir leid«, murmelte Alean und löste vorsichtig den Kamm aus einem Knoten in Talens Haar. »Aber ich muß das Mittel gut einkämmen, sonst färbt das Haar sich ungleich.« Alean strich schwarze Farbe ins Haar des jungen Mannes.

»Wie lange wird es dauern, das gelbe Zeug wieder abzuwaschen?« fragte Talen.

»Das weiß ich nicht genau.« Mirtai zuckte die Schultern. »Vielleicht läßt sie sich gar nicht mehr abwaschen. Aber in einem Monat ist sie sowieso nicht mehr zu sehen.«

»Das werdet Ihr mir büßen, Stragen!« drohte Talen.

»Halt still!« warnte Mirtai aufs neue und setzte die Prozedur fort.

»Wir müssen Verbindung zu den hiesigen Dieben aufnehmen«, erklärte Stragen. »Die Kollegen aus Sarsos haben uns versichert, daß wir die endgültige Antwort hier in Lebas bekommen würden.«

»Ich fürchte, Ihr habt bei Eurem Vorhaben etwas übersehen, Stragen«, gab Sperber zu bedenken. »Talen spricht kein Tamulisch.«

»Das ist kein Problem.« Stragen zuckte die Schultern. »Der hiesige Diebeskönig ist Cammorier.«

»Wie ist das möglich?«

»Wir sind sehr weltoffen, Sperber. Schließlich sind alle Diebe Brüder, und Können gilt mehr als Herkunft. Sobald Talen tamulisch genug aussieht, wird er sich ins Hauptquartier der hiesigen Diebe begeben und mit Caalador reden – das ist der Name des Cammoriers. Talen wird ihn hierher bringen. Dann können wir ungestört miteinander sprechen.«

»Warum begebt Ihr Euch nicht zu ihm?«

»Und lasse mir Safran ins Gesicht schmieren? Haltet Ihr mich für verrückt, Sperber?«

Caalador, der Cammorier, war ein gedrungener Mann mit rotem Gesicht, krausem schwarzem Haar und einer offenen, freundlichen Miene. Er sah eher wie ein fröhlicher Wirt denn wie der Anführer einer Bande von Dieben und Mördern aus. Caalador war auf gutmütige Weise derb, und seine Sprache war das typisch gedehnte Cammorisch mit den grammatikalischen Eigenwilligkeiten des cammorischen Hinterwäldlers. »Ihr seid also der, wo die ganzen Diebe von Daresien so verblüfft«, sagte er zu Stragen, als Talen die beiden miteinander bekannt gemacht hatte.

»In diesem Punkt muß ich mich wohl schuldig bekennen, Caalador.« Stragen lächelte.

»Tut so was lieber nie nicht, Bruder. Streitet alles ab, gebt nix zu.«

»Ich werde versuchen, das zu beachten. Was macht Ihr so fern von zu Hause, mein Freund?«

»Des gleiche wollt' ich Euch auch fragn, Stragn. 's is a weita Weg von hier noch Thalesien.«

»Und fast genauso weit von Cammorien.«

»Ah, das ist leicht erklärt, mein Freund. Hab' eigentlich als Wilderer angefangen, hab' Hasen auf Land gefangen, das mir nicht gehört hat. Aber war harte Arbeit mit viel Risiko und kaum Gewinn. Also hab' ich Hühnerhäuser ausg'nommen – Hennen rennen nicht so schnell wie Hasen, gleich gar nicht bei der Nacht. Dann bin ich zum Schafstehl'n übergegangen – aber einmal in der Nacht ist's zur Auseinandersetzung mit einer ganzen Meute Hirtenhunde gekommen, die mich trotz Bestechung verraten haben.«

»Wie besticht man einen Hund?« fragte Ehlana neugierig.

»Nix leichter als das, edle Frau. Man braucht ihm bloß ein paar Fleischbrocken zuwerfen. Na ja, die Köter sind wie wild auf mich los, da bin ich g'laufen, so schnell wie ich nur können hab'. Dummerweis' hab' ich dabei meinen Hut verloren, an dem ich sehr gehängt hab' und von dem die halbe Gemeinde gewußt hat, daß er mir gehört. Ich bin bloß ein Bauernbub und hätt' nicht gewußt, wie ich mich in der Stadt benehmen müßt', drum hab' ich auf einem Schiff angeheuert. Um's kurz zu machen, ich bin hier an dieser fremden Küste gestrandet und hab' mich landeinwärts durchgeschlagen, weil der Käpten von dem Schiff, wo ich mitgekommen war, ein Wörtchen mit mir über so einige Dinge reden wollt', die aus dem Frachtraum verschwunden waren, wißt Ihr.« Er machte eine Pause. »Hab' ich Euch gut unterhalten, Durchlaucht Stragen?« Er grinste.

»Sehr, sehr gut, Caalador«, versicherte Stragen. »Überzeugend – obwohl Ihr eine Spur zu dick aufgetragen habt.«

»Eine meiner Untugenden, Durchlaucht. Es macht soviel Spaß, daß es mich mitreißt. Ich schwindle natürlich. Ich habe festgestellt, daß es die Leute entwaffnet, wenn ich mich als unwissenden Hinterwäldler präsentiere. Keiner läßt sich leichter hereinlegen, als jemand, der sich für klüger hält.«

»Oh!« Ehlana war sichtlich enttäuscht.

»War Eure Majestät von meiner tölpelhaften Redeweise angetan gewesen?« fragte Caalador mitfühlend. »Wenn Ihr möchtet, red' ich so weiter, nur dauert es auf diese Weise verflixt lange, etwas verständlich zu machen.«

Sie lachte. »Ich glaube, Ihr könntet mit Eurem Charme die Vögel aus den Büschen locken, Caalador.«

»Danke, Majestät.« Er verbeugte sich mit erstaunlicher Eleganz. Dann wandte er sich an Stragen. »Euer Vorschlag hat unsere tamulischen Freunde verblüfft, Durchlaucht. Die Trennungslinie zwischen Bestechung und Diebstahl ist in der tamulischen Kultur klar festgelegt. Tamulische Diebe sind außerordentlich klassenbewußt und betrachten die Vorstellung, mit der Obrigkeit Hand in Hand zu arbeiten, aus irgendeinem Grund als unnatürlich. Glücklicherweise sind wir Elenier viel bestechlicher als unsere gelben Brüder, und Elenier steigen in unserer eigentümlichen Gesellschaft offenbar mühelos bis zur Spitze auf – eine Naturbegabung höchstwahrscheinlich. Wir haben die Vorteile Eures Vorschlags sofort erkannt. Kondrak von Darsas war in seiner Darlegung äußerst überzeugend. Ihr scheint ihn ungemein beeindruckt zu haben. Die Unruhen hier in Tamuli waren katastrophal fürs Geschäft, und als wir den Tamulern Gewinn und Verlust in Zahlen vorlegten, öffneten sie der Vernunft die Ohren. Sie erklärten sich einverstanden – wenngleich widerwillig, das dürft Ihr mir glauben. Aber sie werden euch nun helfen, Informationen zu sammeln.«

»Gott sei Dank!« Stragen seufzte erleichtert. »Ich war schon ein wenig nervös.«

»Ihr habt Eurer Königin Versprechen gegeben und wart jetzt nicht mehr sicher, ob Ihr sie halten könnt, war's das?«

»Damit trefft Ihr den Nagel so ziemlich auf den Kopf, mein Freund.«

»Ich werde Euch die Namen von einigen Leuten in Matherion geben.« Caalador schaute sich um. »Später, unter vier Augen, versteht Ihr?« Dann fügte er hinzu: »Unterstützung hin, Unterstützung her, aber in der erlauchten Gesellschaft von Königinnen und Rittern wäre es nicht recht, wenn solche Namen fielen.« Er grinste Ehlana verschmitzt an. »Was haltet Ihr davon, Majestät, wenn ich Euch eine lange, lange Geschichte über meine Abenteuer in der Unterwelt des Verbrechens erzähl'?«

»Wie aufregend, Caalador«, antwortete sie erwartungsvoll.

Ein weiterer verwundeter Ritter erlag in dieser Nacht seinen Verletzungen, doch bei den übrigen fünfundzwanzig Schwerverwundeten sah es so aus, als würden sie durchkommen. Wie Oscagne ihnen versichert hatte, waren tamulische Ärzte tatsächlich außerordentlich fähig, auch wenn einige ihrer Heilmethoden Eleniern sehr ungewöhnlich erschienen. Nach einer kurzen Besprechung beschlossen Sperber und seine Freunde, schnellstens nach Matherion weiterzureisen. Auf ihrem Weg durch den Kontinent hatten sie sehr viel in Erfahrung gebracht, das sie möglichst rasch mit den Erkenntnissen der Imperiumsregierung vergleichen wollten.

So brachen sie eines Morgens in aller Frühe auf und ritten unter einem freundlichen Sommerhimmel nach Süden. Auch die ländliche Gegend war fast pedantisch ordentlich. Getreide und andere Feldfrüchte wuchsen in schnurgeraden Reihen auf unkrautfreien Äckern, die von niedrigen Steinmauern eingezäunt waren. Sogar die Bäume der Wälder standen wie zu einer Parade aufgereiht. Offenbar durfte nichts hier ungehindert, auf natürliche Weise wachsen. Die Bauern auf den Feldern trugen weite Hosen und Hemden aus weißem Leinen und dicht geflochtene Strohhüte, die an Pilzköpfe erinnerten. Viele der Feldfrüchte – seltsame Bohnen und eigenartige Getreidearten – waren den Eleniern fremd. Sie kamen am Samasee vorbei, wo Fischer ihre Netze aus merkwürdig aussehenden Booten mit hohem Bug und Heck auswarfen, von denen Khalad ganz und gar nichts hielt. »Eine heftige Böe von der Seite, und sie kentern«, meinte er.

Sie erreichten das etwa hundertachtzig Meilen nördlich der Hauptstadt liegende Tosa mit einer Ungeduld, wie sie sich am Ende jeder langen Reise einstellt.

Das schöne Wetter hielt an. Sie brachen jeden Morgen sehr zeitig auf und schlugen erst spätabends ihr Lager auf. Die Straße verlief am Tamulischen Meer entlang, einer Gegend, wo sich niedrige Hügel von der flachen Küste hoben, und lange, sanfte Wellen warfen sich aus dem tiefblauen Meer schäumend auf breite, weiße Sandstrände.

Ungefähr acht Tagereisen von Tosa entfernt bauten sie ihr Lager des Abends in einem parkähnlichen Hain auf und waren bester Stimmung, da Oscagne ihnen versicherte, daß sie sich keine fünfzehn Meilen mehr von Matherion entfernt befanden.

»Wenn wir weiterreiten«, meinte Kalten, »könnten wir gegen Morgen dort sein.«

»Kommt nicht in Frage, Ritter Kalten«, sagte Ehlana entschieden. »Setzt Wasser aufs Feuer, meine Herren, und stellt ein Badezelt auf. Die Damen und ich beabsichtigen nicht, mit dem Schmutz von halb Daresien auf unserer Haut in Matherion einzureiten. Und spannt Wäscheleinen, damit wir unsere Gewänder zum Auslüften aufhängen können und der Wind die Knitterfalten ausweht.« Sie blickte sich um. »Und dann, meine Herren, möchte ich, daß ihr euch eures Aussehens und dem eurer Ausrüstung annehmt. Ich werde morgen eine Inspektion machen, und ich möchte nicht einen einzigen Rostflecken finden!«

Kalten seufzte abgrundtief. »Jawohl, meine Königin«, antwortete er resigniert.

Am nächsten Morgen reihten sie sich zu einer ordentlichen Kolonne auf. Die Karosse rollte nahe der Spitze. Sie bewegte sich langsam, um möglichst wenig Staub aufzuwirbeln, und Ehlana, in blauem Gewand und einer brillantenbesetzten Goldkrone auf dem aschblonden Haar, saß in so majestätischer Haltung in der Karosse, daß man hätte meinen können, alles in weitem Umkreis gehöre ihr. Allerdings hatte es vor ihrem Aufbruch eine kleine, aber heftige Meinungsverschiedenheit gegeben. Ihre Königliche Hoheit, Prinzessin Danae, hatte leidenschaftlich aufbegehrt, als sie ein ihrem Stand angemessenes Gewand anziehen und dazu ein zierliches Krönchen aufsetzen sollte. Ehlana hatte gar nicht erst versucht, ihrer Tochter gut zuzureden; statt dessen hatte sie etwas getan, was sie noch nie zuvor getan hatte. »Prinzessin Danae«, sagte sie förmlich, »ich bin die Königin. Du wirst mir gehorchen!«

Danae blinzelte überrascht. Sperber war ziemlich sicher, daß noch nie jemand so zu ihr gesprochen hatte. »Jawohl, Majestät«, antwortete sie schließlich fast untertänig.

Natürlich war ihnen die Kunde von ihrer baldigen Ankunft vor ausgeeilt. Engessa hatte dafür gesorgt, und als sie am Nachmittag einen langen, schrägen Hang emporritten, sahen sie, daß sie auf der Kuppe von einer Abteilung berittener Gardetruppen in Galarüstung aus schwarzlackiertem Stahl mit Goldintarsien erwartet wurden. Die Ehrenwache war in langen Reihen zu beiden Straßenseiten aufgestellt. Noch hieß man sie nicht willkommen, doch als die Kolonne die Hügelkuppe erreichte, erkannte Sperber sogleich den Grund dafür.

»Großer Gott!« hauchte Bevier ehrfürchtig.

Eine sichelförmige Stadt umsäumte einen tiefblauen Hafen unter ihnen. Die Sonne hatte längst den Mittag überschritten und schien hinunter auf die Krone von Tamuli: Matherion. Sie war von anmutiger Architektur, und jedes Haus besaß ein kuppelähnliches Dach. Die Stadt war nicht so groß wie Chyrellos, doch war es nicht ihre Größe, die Ritter Bevier den ehrfurchtsvollen Seufzer entlockt hatte; es war die atemberaubende Schönheit Matherions. Die Pracht dieser Stadt war nicht die von Marmor, sondern erinnerte an schillernde Opale. Ein lebendiges, regenbogenfarbiges Feuer schien unter der Oberfläche eines jeden Steins zu brennen, ein Feuer, das den Betrachter mit seinem Glanz schier blendete.

»Sehet!« sprach Oscagne feierlich. »Schaut die Krone der Schönheit und Wahrheit! Schaut die Heimstatt der Weisheit und Macht! Schaut die schimmernden Kuppeln Matherions, des Mittelpunkts der Welt!«