3

Nebel trieb vom Fluß herüber, kaum daß die Sonne an diesem Nachmittag untergegangen war. Wenn es nicht regnete, waren die Nächte in Cimmura im Frühjahr immer nebelig. Sperber, Stragen und Talen verließen das Schloß in schlichter Kleidung und Reiseumhängen, um zum südöstlichen Viertel der Stadt zu reiten.

Stragen schaute sich abfällig um. »Ihr solltet Eurer Gemahlin gegenüber vielleicht nicht erwähnen, daß ich es gesagt habe, Sperber, aber ihre Hauptstadt ist eine der häßlichsten Städte der Welt. Ihr habt hier ein wirklich scheußliches Klima.«

»Im Sommer ist es nicht so schlimm«, entgegnete Sperber beschwichtigend.

»Den Sommer muß ich wohl verpaßt haben«, sagte der blonde Dieb. »Ich habe eines Nachmittags ein Nickerchen gemacht und ihn dabei wohl verschlafen. Wo wollen wir überhaupt hin?«

»Zu Platime.«

»Wenn ich mich recht entsinne, befindet sein Keller sich nahe dem Westtor. Ihr führt uns in die falsche Richtung.«

»Wir müssen zuerst zu einem bestimmten Gasthaus.« Sperber blickte über die Schulter. »Werden wir beschattet, Talen?« fragte er.

»Natürlich.«

»Damit habe ich gerechnet«, murmelte Sperber.

Sie ritten weiter, während der dichte Nebel um die Beine ihrer Pferde wallte und die Fassaden der nahen Häuser verschwimmen ließ. Sie erreichten das Gasthaus an der Rosenstraße, wo ein scheinbar mürrischer Türhüter das Tor zum Hof für sie öffnete und hinter ihnen wieder verschloß.

»Behaltet alles für euch, was ihr hier seht«, ermahnte Sperber Talen und Stragen, während er absaß. Er reichte dem Türsteher Farans Zügel. »Ihr wißt über dieses Pferd Bescheid, Bruder, nicht wahr?« vergewisserte er sich.

»Faran ist eine Legende, Sperber«, versicherte der Mann ihm. »Was Ihr braucht, befindet sich in der Kammer ganz oben an der Treppe.«

»Wie sieht es heute abend mit den Gästen in der Schenke aus?«

»Sie sind laut, anrüchig und zum größten Teil betrunken.«

»Das ist doch immer so. Wie viele sind es?«

»Zwischen fünfzehn und zwanzig. Es sind drei unserer Leute in der Schankstube. Die wissen schon, was zu tun ist.«

»Gut. Vielen Dank, Herr Ritter.«

»Nichts zu danken, Herr Ritter.«

Sperber führte Talen und Stragen die Treppe hinauf.

»Dieses Gasthaus ist offenbar nicht so ganz, was es zu sein scheint«, bemerkte Stragen.

»Es gehört den Pandionern«, erklärte Talen. »Sie kommen hierher, wenn sie kein Aufsehen erregen wollen.«

»Es ist ein wenig mehr als das«, sagte Sperber. Er öffnete die Tür oben an der Treppe, und die drei traten hindurch.

Stragen blickte auf die Arbeiterkittel, die an Haken neben der Tür hingen. »Wie ich sehe, werden wir zu einer List greifen.«

»Das tun wir für gewöhnlich.« Sperber zuckte die Schultern. »Ziehen wir uns um. Ich würde gern zurück im Schloß sein, ehe meine Gemahlin Suchtrupps nach mir ausschickt.«

Die Kittel waren aus festem, blauem Baumwollgewebe, abgetragen, mit Flicken und ein paar künstlich angebrachten Flecken versehen. Zudem gab es wollene Socken und Arbeitsstiefel mit dicken Sohlen sowie bauschige Mützen, die mehr als Wetterschutz getragen wurden, denn des Aussehens wegen.

»Den müßt Ihr hierlassen.« Sperber deutete auf Stragens Degen. »Er ist zu auffällig.« Der große Pandioner schob einen schweren Dolch unter seinen Gürtel.

»Ihr wißt hoffentlich, daß einige Leute da draußen sind, die das Gasthaustor nicht aus den Augen lassen, Sperber«, warnte Talen.

»Ich wünsche ihnen eine angenehme Nacht, denn wir werden das Gasthaus nicht durch das Tor verlassen.« Sperber führte die Gefährten wieder hinunter zum Hof, begab sich dort zu einer schmalen Tür in der Seitenwand und öffnete sie. Die warme Luft, die ihnen entgegenschlug, roch nach verschüttetem Bier und ungewaschenen Leibern. Die drei Gefährten traten ins Innere und schlossen die Tür hinter sich. Sie schienen sich in einem kleinen Lagerraum zu befinden. Das Stroh auf dem Boden roch modrig.

»Wo sind wir?« flüsterte Talen.

»In einer Schenke«, antwortete Sperber leise. »In wenigen Minuten wird es zu einer Schlägerei kommen. Während des Durcheinanders begeben wir uns in die Schankstube.« Er trat zum gegenüberliegenden Türbogen, der mit einem Vorhang verdeckt war, an dem er mehrmals zupfte. »Macht euch bereit«, flüsterte er. »Wenn die Schlägerei beginnt, mischen wir uns unter die Gäste und verschwinden nach einer Weile. Benehmt euch, als wärt ihr leicht betrunken. Aber übertreibt nicht.«

»Ich bin beeindruckt«, stellte Stragen anerkennend fest.

»Ich bin mehr als beeindruckt«, warf Talen ein. »Nicht einmal Platime weiß, daß es mehr als einen Ausgang aus diesem Gasthof gibt.«

Die Schlägerei begann kurz darauf. Es wurde gebrüllt, geflucht, gestoßen und geschlagen. Zwei harmlose Zuschauer, die offenbar überhaupt nichts mit der Rauferei zu tun hatten, landeten bewußtlos zwischen den Tischen. Sperber und seine Freunde mischten sich unauffällig unter die Menge und taumelten etwa zehn Minuten später durch die Tür nach draußen.

»Ziemlich unprofessionell, das Ganze«, stellte Stragen abfällig fest. »Bei einer gespielten Schlägerei sollten Außenstehende ungeschoren bleiben.«

»Manchmal ist es sicherer, sie zu verprügeln«, entgegnete Sperber, »es könnte ja sein, daß sie wegen etwas anderem als ein paar Krug Bier gekommen sind. Die beiden, die ins Traumland geschickt wurden, waren keine Stammgäste. Möglich, daß die Burschen völlig harmlos waren – aber vielleicht auch nicht. So brauchen wir uns wenigstens keine Sorgen zu machen, daß sie hinter uns herschleichen.«

»Es gehört offenbar mehr dazu, pandionischer Ritter zu sein, als ich dachte«, bemerkte Talen. »Vielleicht wird es mir doch Spaß machen.«

Sie schritten durch die nebligen Straßen auf das ärmliche Viertel nahe dem Westtor zu – ein wahres Labyrinth aus ungepflasterten schmalen Straßen und verschachtelten Gassen. In eine dieser Gassen bogen sie ein und begaben sich zu einer schmutzigen Steintreppe, die in die Tiefe führte. Ein dicker Mann kauerte am oberen Ende. »Ihr kommt spät«, sagte er mürrisch zu Talen.

»Wir mußten sichergehen, daß niemand uns folgt«, erwiderte der Junge.

»Geht hinunter«, forderte der Wächter sie auf. »Platime wartet.«

Im Keller hatte sich augenscheinlich nichts verändert. Er war immer noch rauchig und düster, und ein Stimmengewirr der Diebe, Huren und Meuchler, die hier hausten, schlug den Gefährten entgegen.

»Ich verstehe nicht, wie Platime es hier aushält.« Stragen schüttelte sich.

Platime thronte auf einem großen Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite eines rauchigen Feuers, das in einer offenen Grube brannte. Er stemmte sich auf die Füße, als er Sperber sah. »Wo habt ihr so lange gesteckt?« brüllte er.

»Wir mußten uns erst vergewissern, daß niemand uns folgt«, antwortete Sperber.

Der feiste Mann schnaufte. »Er ist dort drüben«, sagte er dann und führte die Gefährten zum hinteren Ende des Kellers. »Er ist zur Zeit sehr auf seine Gesundheit bedacht, drum sorg' ich dafür, daß ihn keiner sieht.« Platime zwängte sich durch den Eingang zu einer winzigen Kammer, in der ein Mann auf einem Hocker kauerte und an einem Krug verwässertem Bier nippte. Der Mann war ein kleiner, nervöser Kerl mit spärlichem Haar und kriecherischem Benehmen.

»Das ist Pelk«, stellte Platime ihn vor. »Ein Dieb und Einbrecher. Ich hab' ihn nach Cardos geschickt, damit er sich dort umsieht und möglichst viel über die Leute in Erfahrung bringt, an denen wir interessiert sind. Erzähl ihm, was du herausgefunden hast, Pelk.«

»Nun, Herr Ritter und meine guten Herren«, begann der Schmächtige, »es war gar nicht so leicht, an diese Burschen heranzukommen, das dürft Ihr mir glauben. Aber ich hab' mich nützlich gemacht, und schließlich haben die Kerle mich halbwegs akzeptiert. Aber ich mußte allerlei Hokuspokus über mich ergehen lassen – Eide schwören und mir anfangs die Augen verbinden lassen, wenn sie mich zum Lager mitnahmen. Aber mit der Zeit haben sie's nicht mehr so genau genommen, und ich konnte mehr oder weniger kommen und gehen, wann ich wollte. Wie Platime Euch wahrscheinlich schon gesagt hat, hielten wir sie für blutige Amateure, die keine Ahnung haben, worauf man in unserem Gewerbe achten muß. So was kommt uns häufig unter, nicht wahr, Platime? Ihresgleichen wird schnell erwischt und aufgehängt.«

»Und es ist nicht schade um sie«, brummte Platime.

»Nun, mein Herr«, fuhr Pelk fort, »wie ich schon sagte, hielten ich und Platime diese Kerle in den Bergen für eine Bande von Amateuren – Burschen, die bloß zum Vergnügen und um des Gewinns willen Reisende überfallen. Aber wie sich herausgestellt hat, sind sie mehr als das. Ihre Führer sind sechs oder sieben Edelleute, die bitter enttäuscht waren, weil der Plan von Primas Annias fehlgeschlagen ist, und denen es gar nicht gefällt, was die Königin auf die Haftbefehle geschrieben hat, die sie für die Burschen hat ausstellen lassen – Edle sind's nun mal nicht gewöhnt, daß man sie Verbrecher und Halunken nennt.

Nun, mein Herr, um es kurz zu machen, diese Edelleute sind dem Henker mit Müh' und Not in die Berge entkommen. Dort haben sie dann angefangen, Reisende auszuplündern und umzubringen, um nicht selbst am Hungertuch nagen zu müssen. Die übrige Zeit verbringen sie damit, sich häßliche Namen für die Königin auszudenken.«

»Komm zur Sache, Pelk«, wies Platime ihn ungeduldig an.

»Jawohl, Herr, das wollt' ich gerade. Also, mit dem Plündern und Morden lief's eine Zeitlang ganz gut, bis dieser Krager ins Lager gekommen ist. Ein paar von den Edelleuten kannten ihn. Krager hat ihnen erzählt, daß er Verbindung zu einigen Ausländern hat, die ihnen helfen würden, wenn sie hier in Elenien nur genug Unruhe stiften, so daß die Königin und ihre Vertrauten beschäftigt sind, sich Gedanken darüber zu machen, was in Lamorkand vor sich geht. Dieser Krager hat gesagt, die Geschehnisse in Lamorkand wären die große Chance für sie alle, ihrem Glück wieder auf die Sprünge zu helfen, das sie mit Annias' Tod verlassen hat. Da spitzten diese Herzöge und Grafen die Ohren und befahlen uns, mit den Bauern zu reden, die Steuereintreiber zu überfallen und laut herumzuschreien, daß es nicht richtig ist, wenn eine Frau ein Land regiert und dergleichen. Wir sollten die Bauern aufwiegeln und dazu bringen, daß sie sich zusammenrotten und die Königin vom Thron holen. Tja, dann haben die Edlen ein paar Steuereintreiber abgefangen und sie aufgehängt und das Geld den Leuten zurückgegeben, denen sie's weggenommen hatten. Und die Bauern waren so glücklich darüber wie Sauen in der Suhle.« Pelk kratzte sich am Kopf. »Nun, meine Herren, ich glaub', ich hab' alles gesagt, was ich weiß. Jedenfalls sieht's in den Bergen jetzt so aus. Dieser Krager hat ziemlich viel Geld mitgebracht und ist recht freigebig. Damit hat er sich bei den Edlen, die bisher recht sparsam leben mußten, lieb Kind gemacht.«

»Pelk«, lobte Sperber, »Ihr seid ein Goldstück.« Er gab dem Mann mehrere Münzen; dann verließen er und seine Freunde die winzige Kammer.

»Was sollen wir in dieser Sache tun, Sperber?« fragte Platime.

»Die nötigen Schritte unternehmen«, antwortete Sperber. »Wie viele dieser ›Befreier‹ gibt es dort?«

»Ungefähr hundert.«

»Ich werde etwa zwei Dutzend Eurer Leute brauchen, die sich in der Gegend auskennen.«

Platime nickte. »Werdet Ihr die Armee einsetzen?«

»Ich glaube nicht. Ein Trupp Pandioner dürfte einen bleibenderen Eindruck auf diese Leute machen, die sich einbilden, sie hätten einen Grund, mit unserer Königin unzufrieden zu sein. Was meint Ihr?«

»Ist das nicht ein klein wenig übertrieben?« warf Stragen ein.

»Ich will, daß man mich von vornherein richtig versteht, Stragen. In Elenien soll jedermann wissen, wie sehr mir Leute mißfallen, die Komplotte gegen meine Gemahlin schmieden. Ich möchte es gleich beim erstenmal richtig machen, dann bleibt uns ein zweites Mal erspart.«

»Er hat doch nicht wirklich so geredet, Sperber?« fragte Ehlana ungläubig.

»Doch, genau so«, versicherte Sperber. »Stragen hat ein gutes Ohr für Ausdrucksweisen.«

Ehlana lächelte plötzlich schelmisch. »Schreibt auf, Lenda:

›glücklich wie Sauen in der Suhle‹. Ich werde das irgendwann in einem offiziellen Schreiben verwenden.«

»Wie Ihr wünscht, Majestät.« Lendas Stimme verriet nichts, doch Sperber wußte, daß der alte Höfling es mißbilligte.

»Was werden wir tun?« fragte die Königin.

»Sperber hat gesagt, er würde die nötigen Schritte unternehmen, Majestät«, erklärte ihr Talen. »Aber die Einzelheiten würden Euch sicher nur langweilen.«

»Sperber und ich haben keine Geheimnisse voreinander, Talen.«

»Ich spreche nicht von Geheimnissen, Majestät«, erwiderte der Junge arglos, »nur von langweiligen, unwichtigen Einzelheiten, mit denen Ihr bestimmt nicht Eure Zeit vergeuden wollt.« Es hörte sich ganz vernünftig an, doch Ehlana wirkte mehr als nur ein wenig argwöhnisch.

»Bring mich nicht in Verlegenheit, Sperber«, warnte sie.

»Natürlich nicht«, versicherte er ihr.

Es war ein kurzer Feldzug. Da Pelk den genauen Ort des Lagers der Dissidenten beschreiben konnte und Platimes Männer alle anderen Verstecke in den Bergen ringsum kannten, blieb den Banditen keine Möglichkeit mehr, sich zu verkriechen. Zudem waren sie den dreißig Pandionern in schwarzer Rüstung, mit denen Sperber, Kalten und Ulath angerückt kamen, nicht gewachsen. Die überlebenden Edelleute wurden dem Gericht der Königin überstellt, und der Rest der Gesetzlosen den örtlichen Ordnungshütern übergeben.

»Nun, Graf von Belton«, sagte Sperber zu einem Edlen, der mit einem blutigen Verband um den Kopf und auf den Rücken gebundenen Händen vor ihm auf einem Baumstumpf hockte, »es lief wohl nicht alles wie erwartet, nicht wahr?«

»Seid verflucht, Sperber!« Belton spuckte in weitem Bogen aus und blinzelte in die Nachmittagssonne. »Wie habt Ihr uns aufgespürt?«

Sperber lachte. »Mein teurer Belton, habt Ihr Euch etwa eingebildet, Ihr könntet Euch vor meiner Gemahlin verstecken? Sie hat ein sehr persönliches Interesse an ihrem Reich. Sie kennt jeden Baum, jede Stadt, jedes Dorf und jeden einzelnen Bauern. Man erzählt sich sogar, daß sie die meisten Rehe beim Namen nennen könnte, wenn sie wollte.«

»Dann wärt Ihr nicht erst jetzt gekommen!« höhnte Belton.

»Die Königin war beschäftigt. Aber nun fand sie endlich Zeit, Entscheidungen über Euch und Eure Freunde zu treffen. Ich fürchte allerdings, sie werden Euch nicht gefallen, alter Junge. Mich interessiert im Grunde genommen nur, was Ihr über Krager wißt. Ich habe ihn schon geraume Zeit nicht mehr gesehen und stelle fest, daß mich wieder nach seiner Gesellschaft verlangt.«

Beltons Augen wurden weit vor Angst. »Ihr werdet nichts aus mir herausbekommen, Sperber«, prahlte er.

»Wieviel würdet Ihr darauf wetten?« fragte Kalten ihn. »Ihr erspart Euch eine Menge Unannehmlichkeiten, wenn Ihr Sperber sagt, was er wissen will. Und Krager ist doch nun wirklich nicht so liebenswert, daß Ihr seinetwegen etwas so Unangenehmes auf Euch nehmen wollt.«

»Redet, Belton«, forderte Sperber ihn unerbittlich auf.

»Ich – ich kann nicht!« Beltons prahlerischer Hohn schwand. Sein Gesicht wurde totenbleich. Er begann heftig zu zittern. »Sperber, ich flehe Euch an! Mein Leben ist verwirkt, wenn ich etwas sage!«

»Euer Leben ist ohnehin nicht mehr viel wert«, warf Ulath barsch ein. »So oder so – Ihr werdet reden.«

»Um Gottes willen, Sperber! Ihr wißt ja nicht, was Ihr da verlangt!«

»Ihr habt keine Wahl, Belton«, entgegnete Sperber mit düsterem Gesicht.

Übergangslos, ohne Vorwarnung, hüllte plötzlich eine tödliche Kälte den Wald ein, und die Nachmittagssonne verdunkelte sich. Sperber hob den Blick. Der Himmel war blau, doch die Sonne sah blaß und kränklich aus.

Belton schrie gellend.

Eine tintige Wolke schien von den Bäumen ringsum loszuschnellen und sich um den brüllenden Gefangenen zusammenzuziehen. Verblüfft fluchend, sprang Sperber zurück. Seine Hand fuhr an den Schwertgriff.

Beltons Stimme war zu einem Kreischen geworden, und aus der nun undurchdringlichen Finsternis um ihn herum drangen grauenvolle Laute – wie von berstenden Knochen und zerreißendem Fleisch. Die Schreie verstummten abrupt, doch die gräßlichen Laute waren noch minutenlang zu vernehmen. Dann verschwand die Wolke so schnell, wie sie gekommen war.

Sperber wich vor Ekel einen Schritt zurück. Sein Gefangener war in Stücke gerissen worden.

»Großer Gott!« krächzte Kalten. »Was ist passiert?«

»Wir wissen es beide, Kalten«, antwortete Sperber. »Wir haben so etwas nicht zum ersten Mal erlebt. Versuch nicht, die anderen Gefangenen zu befragen. Ich bin sicher, sie werden auf die gleiche Weise am Antworten gehindert!«

Sie waren zu fünft: Sperber, Ehlana, Kalten, Ulath und Stragen. In düsterer Stimmung saßen sie im königlichen Wohngemach.

»War es dieselbe Wolke?« fragte Stragen angespannt.

»Manches war anders«, erwiderte Sperber. »Aber das ist mehr ein Gefühl. Ich könnte nicht sagen, was anders war.«

»Aber welches Interesse könnten die Trollgötter haben, Krager zu beschützen?« wunderte sich Ehlana.

»Ich glaube nicht, daß es Krager ist, den sie beschützen«, entgegnete Sperber. »Es hat eher etwas mit den Vorgängen in Lamorkand zu tun.« Er schlug die Faust auf die Armlehne seines Sessels. »Ich wünschte, Sephrenia wäre hier!« platzte er plötzlich heftig heraus. »Wir tappen völlig im dunkeln.«

»Dann habt Ihr wohl nichts gegen ein paar logische Schlußfolgerungen einzuwenden?« fragte Stragen.

»Im Augenblick würde ich sogar astrologische Deutungen über mich ergehen lassen«, brummte Sperber säuerlich.

»Also gut.« Der blonde thalesische Diebeskönig erhob sich und schritt nachdenklich auf und ab. »Erstens wissen wir jetzt, daß es den Trollgöttern irgendwie gelungen ist, sich aus der Schatulle zu befreien.«

»Genaugenommen ist das nicht bewiesen, Stragen«, widersprach Ulath. »Jedenfalls ist es nicht logisch.«

Stragen blieb stehen. »Das stimmt«, gab er zu. »Diese Folgerung beruht lediglich auf einer Vermutung. Mit Gewißheit können wir nur sagen, daß wir es mit irgend etwas zu tun hatten, das wie eine Manifestation der Trollgötter aussah. Seid Ihr mit dieser Formulierung einverstanden, Ritter Ulath?«

»Ja, ich schätze, soweit würde ich gehen, Durchlaucht Stragen.«

»Das freut mich. Nun, kennen wir irgend etwas, oder haben wir von etwas gehört, das sich auf ähnliche Weise manifestiert?«

»Nein«, antwortete Ulath. »Aber das hat nichts zu sagen. Wir wissen nicht, was alles Schatten- oder Wolkenform annehmen, Menschen zerfetzen und ein Gefühl von Eiseskälte vermitteln kann.«

»Stimmt. Ich bezweifle, daß wir mit Logik sehr weit kommen«, gestand Stragen.

»An Eurer Logik ist nichts verkehrt, Stragen«, warf Ehlana ein. »Ihr geht nur von der falschen Voraussetzung aus.«

»Nicht doch, Majestät!« Kalten stöhnte. »Ich dachte, in diesem Gemach gäbe es wenigstens eine Person, die sich auf gesunden Menschenverstand verläßt, statt auf diese umständliche Logik.«

»Und was sagt Euch Euer gesunder Menschenverstand, Ritter Kalten?« fragte Ehlana scharf.

»Nun, zuerst einmal sagt er mir, daß ihr alle das Problem beim verkehrten Ende anpackt. Die Frage, die wir stellen sollten, lautet: Was macht Krager zu einem so besonderen Mann, daß irgend etwas Übernatürliches derart um seinen Schutz bemüht ist? Spielt es denn eine Rolle, um was es sich bei diesem Übernatürlichen handelt?«

»Das hat etwas für sich«, meinte Ulath. »Krager ist im Grunde genommen ein Wurm. Sein einziger Lebenszweck besteht darin, zertreten zu werden.«

»Da wäre ich nicht so sicher«, widersprach Ehlana. »Krager arbeitete für Martel, und Martel für Annias.«

»Genaugenommen ist es anders herum, Liebes«, verbesserte Sperber.

Ehlana winkte ab. »Belton und die anderen waren mit Annias verbündet, und Krager übermittelte Nachrichten zwischen Annias und Martel. Belton und seine Kumpane müssen Krager gekannt haben. Pelks Geschichte bestätigt das mehr oder weniger. Deshalb war Krager für alle ein wichtiger Mann.« Sie hielt stirnrunzelnd inne. »Aber weshalb ist er noch immer wichtig, nachdem alle Renegaten festgenommen sind?«

»Weil er eine Spur ist«, brummte Ulath.

»Wie bitte?« Die Königin blickte ihn verdutzt an.

»Diese Macht, von der wir nicht wissen, was sie ist, will verhindern, daß wir über Krager zu dessen derzeitigem Auftraggeber vordringen.«

»Aber das ist doch offensichtlich, Ulath«, schnaubte Kalten. »Sein Auftraggeber ist Graf Gerrich. Pelk erzählte Sperber, daß es in Lamorkand jemanden gibt, der uns hier in Elenien so sehr beschäftigen will, daß wir gar nicht dazu kommen, uns um die dunklen Machenschaften dort zu kümmern. Das kann nur Gerrich sein!«

»Das ist reine Spekulation, Kalten«, widersprach Ulath. »Natürlich könntet Ihr recht haben, trotzdem ist es lediglich eine Vermutung.«

»Versteht ihr jetzt meine Ansicht über Logik?« Kalten ließ den Blick in die Runde schweifen. »Was wollt Ihr, Ulath? Ein Geständnis von Gerrich?«

»Wenn Ihr damit aufwarten könnt? Ich will nur sagen, daß wir unvoreingenommen sein müssen und keine voreiligen Schlüsse ziehen dürfen. Das ist alles.«

Ein lautes Klopfen erklang an der Tür, die sofort geöffnet wurde. Mirtai steckte den Kopf ins Zimmer. »Bevier und Tynian sind gekommen«, meldete sie.

»Sie sollten doch in Rendor sein!« wunderte sich Sperber. »Was machen sie hier?«

»Warum fragt Ihr sie nicht?« schlug Mirtai vor. »Sie stehen vor der Tür.«

Die beiden Ritter traten ins Gemach. Ritter Bevier war ein schlanker braunhäutiger Arzier und Ritter Tynian ein blonder stämmiger Deiraner. Beide trugen volle Rüstung.

»Wie läuft's in Rendor?« erkundigte sich Kalten.

»Es ist heiß, trocken, staubig und die Stimmung hysterisch«, antwortete Tynian. »Rendor ändert sich nie. Das weißt du doch.«

Bevier sank vor Ehlana auf ein Knie. Trotz aller Bemühungen seiner Freunde ließ der junge cyrinische Ritter nicht von seinem fast peinlich förmlichen Benehmen ab. »Majestät«, murmelte er respektvoll.

»Oh, steht doch auf, mein lieber Bevier.« Ehlana lächelte ihn an. »Wir sind Freunde, da ist das wahrhaftig nicht nötig! Außerdem knarrt Ihr wie rostige Türangeln, wenn Ihr kniet!«

»Abnutzungserscheinungen, Majestät«, erklärte Bevier entschuldigend.

»Was macht ihr zwei hier?« fragte Sperber.

»Wir überbringen Nachrichten«, antwortete Tynian. »Darellon kümmert sich dort unten um alles, und er möchte die anderen Präzeptoren auf dem laufenden halten. Wir sollen weiter nach Chyrellos und den Erzprälaten unterrichten.«

»Wie sieht's mit dem Feldzug in Rendor aus?« wollte Kalten wissen.

»Nicht so gut.« Tynian zuckte die Schultern. »Die rendorischen Rebellen sind kaum organisiert, infolgedessen gibt es keine Armeen, gegen die wir kämpfen könnten. Die Burschen verstecken sich unter der Bevölkerung und kommen nur des Nachts hervor, um Feuer zu legen und Priester umzubringen. Danach verkriechen sie sich sofort wieder in ihren Löchern. Und wir ergreifen am nächsten Tag Vergeltungsmaßnahmen – wir stecken Dörfer in Brand, metzeln ganze Schafherden nieder, und dergleichen eben. Das alles führt zu nichts.«

»Haben die Rebellen inzwischen einen Anführer?« fragte Sperber.

»Sie machen sich die Entscheidung nicht leicht«, erklärte Bevier trocken. »Fast jeden Morgen finden wir gleich mehrere tote Kandidaten in den Gassen.«

»Sarathi hat es falsch angefangen«, sagte Tynian.

Bevier schnappte nach Luft.

»Es liegt nicht in meiner Absicht, deine religiösen Gefühle zu verletzen, mein junger Freund«, versicherte ihm Tynian, »aber es ist so. Die meisten Geistlichen, die er nach Rendor gesandt hat, waren viel mehr an Bestrafung als an Aussöhnung interessiert. Wir hatten eine echte Chance, Frieden in Rendor zu schaffen, doch wir haben sie verspielt, weil Dolmant niemanden hinunterschickte, der die Missionare der Heiligen Mutter Kirche an die Leine nahm.« Er legte seinen Helm auf einen Tisch und schnallte den Waffengurt ab. »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie so ein Esel in Soutane auf der Straße Frauen die Schleier vom Gesicht riß. Nachdem die Menge sich seiner bemächtigt hatte, wollte er mir befehlen, ihn zu beschützen. Das ist die Art von Priestern, welche die Kirche nach Rendor gesandt hat!«

»Was habt Ihr gemacht?« fragte ihn Stragen.

»Irgendwie konnte ich nicht so recht hören, was er rief«, antwortete Tynian. »Ist ja auch kein Wunder bei dem Krach, den die Menge gemacht hat.«

»Was ist aus dem Priester geworden?« Kalten grinste.

»Er ist bei seinem Brötchengeber. Sie haben ihn aufgehängt.«

»Du bist ihm nicht zu Hilfe geeilt?« rief Bevier entsetzt.

»Unsere Anweisungen waren unmißverständlich, Bevier. Sie lauteten, die Geistlichen bei nicht provozierten Angriffen zu beschützen. Dieser Idiot aber hat gut ein Dutzend Rendorerinnen in ihrem Schicklichkeitsempfinden verletzt! Die Menge war hinreichend provoziert worden. Hätten die Leute ihn nicht aufgehängt – wer weiß, ob ich es nicht selbst getan hätte! Das ist die Botschaft, die wir Sarathi in Darellons Auftrag überbringen sollen! Daß Bevormundung der falsche Weg ist und daß die Kirche diese fanatischen Missionare aus Rendor zurückziehen soll, bis die Dinge sich beruhigen. Dann, schlägt er vor, sollten wir andere Leute entsenden. Weniger dogmatische.« Der Alzioner legte sein Schwert neben seinen Helm und ließ sich vorsichtig in einem Sessel nieder. »Was hat sich inzwischen hier getan?«

»Wie wär's, wenn ihr ihnen alles berichtet?« bat Sperber. »Ich möchte derweil mit jemandem sprechen.« Er wandte sich um und kehrte in die königlichen Gemächer zurück.

Die Person, mit der er sich unterhalten wollte, war kein Höfling, sondern seine Tochter. Sie spielte gerade mit ihrem Kätzchen. Nach einiger Überlegung hatte ihre königliche Hoheit sich entschlossen, den winzigen Stubentiger Murr zu nennen, ein Laut, der aus Danaes Mund dem Schnurren des Kätzchens so ähnlich klang, daß Sperber für gewöhnlich nicht zu sagen vermochte, von wem der beiden er stammte.

»Wir müssen uns unterhalten«, sagte Sperber und schloß die Tür hinter sich.

»Worüber, Sperber?« fragte Danae.

»Tynian und Bevier sind soeben eingetroffen.«

»Ja. Ich weiß.«

»Treibst du wieder mal dein Spiel? Führst du alle unsere Freunde mit Absicht hierher?«

»Natürlich, Vater.«

»Sei so nett und sag mir warum.«

»Weil wir bald etwas Bestimmtes tun müssen. Ich habe mir gedacht, wir sparen Zeit, wenn ich alle zeitig herhole.«

»Wie wär's, wenn du mir sagst, was wir vorhaben?«

»Das darf ich nicht.«

»Du kümmerst dich doch sonst auch nicht darum, was du tun darfst und was nicht.«

»Das ist etwas anderes, Vater. Über zukünftige Dinge dürfen wir auf keinen Fall etwas verlauten lassen. Wenn du darüber nachdenkst, wirst du sicher einsehen, weshalb. Au!« Murr hatte sie in den Finger gebissen. Danae wies das Kätzchen streng zurecht – mit einer Reihe von Knurrlauten und einem oder zwei Miaus; sie endete jedoch mit einem versöhnlichen Schnurren. Das Kätzchen schien sich tatsächlich zu schämen und begann behutsam, Danaes verletzten Finger zu lecken.

»Bitte laß die Katzensprache, Danae«, bat Sperber mit gequälter Miene. »Wenn eine Kammermaid dich hört, werden wir große Mühe haben, ihr zu erklären, was hier vor sich geht.«

»Mich wird niemand hören, Sperber. Aber du bist doch aus einem bestimmten Grund gekommen, nicht wahr?«

»Ich möchte mit Sephrenia reden. Es gibt einige Dinge, die ich nicht verstehe, und ich brauche ihre Hilfe.«

»Ich helfe dir, Vater.«

Er schüttelte den Kopf. »Deine Erklärungen werfen normalerweise mehr Fragen auf, als ich zuvor hatte. Kannst du dich mit Sephrenia in Verbindung setzen?«

Danae schaute sich um. »Hier im Schloß wäre das vermutlich keine so gute Idee, Vater. Denn dabei geschieht etwas, das sich nur schwer erklären ließe, falls uns jemand sieht.«

»Du wirst wieder zur selben Zeit an zwei Orten sein.«

»Na ja – sozusagen.« Sie hob das Kätzchen auf die Arme. »Überleg dir einen guten Grund, morgen mit mir auszureiten. Außerhalb der Stadt kümmere ich mich dann darum. Sag Mutter, daß du mir das Reiten beibringen willst.«

»Du hast doch gar kein Pony, Danae.«

Sie lächelte ihn unschuldig an. »O je. Das bedeutet, daß du mir eines schenken mußt, nicht wahr?«

Er blickte sie durchdringend an.

»Irgendwann wolltest du mir doch sowieso eins besorgen, oder täusche ich mich, Vater?« Sie überlegte kurz. »Ich möchte ein weißes, Sperber. Ja, unbedingt ein Schimmelpony!« Dann schmiegte sie die Wange an ihr Kätzchen und begann gleichzeitig mit ihm zu schnurren.

Sperber und seine Tochter ritten am nächsten Morgen kurz nach dem Frühstück aus Cimmura. Es war windig, und Mirtai hatte ziemlich lautstarke Einwände erhoben, bis Prinzessin Danae ihr gesagt hatte, sie solle sich nicht so aufführen. Aus irgendeinem Grund war die tamulische Riesin darauf so in Wut geraten, daß sie davongestürmt war, wild in ihrer Muttersprache fluchend.

Sperber hatte Stunden gebraucht, ein weißes Pony für seine Tochter zu finden. Nachdem es ihm endlich geglückt war, zweifelte er nicht daran, daß es das einzige in der ganzen Stadt war. Und als Danae das struppige Wesen wie einen alten Freund begrüßte, regte sich so mancher Verdacht in Sperber. In den letzten zwei Jahren hatten er und seine Tochter eingehendst darüber gesprochen, was Danae lieber nicht tun sollte. Es hatte damit begonnen, als Sperber eines Nachmittags unerwartet im Garten um eine Hecke gebogen war und gesehen hatte, wie eine Schar Elflein unter Danaes Anleitung Blumen bestäubte. Obgleich Danae mit ihrer Annahme vermutlich recht gehabt hatte, daß Elfen dies viel besser könnten als Bienen, hatte Sperber energisch ein Machtwort gesprochen. Diesmal jedoch beschloß er, keine Staatsaffäre daraus zu machen, daß seine Tochter zweifellos nachgeholfen hatte, ein ganz bestimmtes Pony zu bekommen. Er brauchte jetzt ihre Hilfe, und Danae könnte zu Recht darauf hinweisen, daß es erzieherisch falsch sei, ihr auf der einen Seite dieses »Nachhelfen«, wie sie es inzwischen nannten, zu verbieten, wenn er sie auf der anderen Seite sogar darum ersuchte.

»Wirst du irgend etwas Spektakuläres tun?« fragte Sperber, als sie sich mehrere Meilen außerhalb der Stadt befanden.

»Was meinst du mit spektakulär?«

»Du mußt doch nicht etwa fliegen oder dergleichen?«

»Das wäre ziemlich umständlich. Aber ich kann es natürlich, wenn du möchtest.«

»Nein, nein«, wehrte er ab. »Ich meine, wirst du etwas tun müssen, das Vorüberkommende überrascht, wenn sie uns dabei sehen?«

»Sie werden überhaupt nichts sehen, Vater«, versicherte sie. »Komm, reiten wir um die Wette zu dem Baum dort drüben.«

Obwohl Faran sich mächtig ins Zeug legte, schlug das kleine Pony ihn um gut zwanzig Meter. Als Sperber den riesigen Fuchshengst zügelte, funkelte dieser seinen kurzbeinigen Bezwinger mißtrauisch an.

»Du hast geschummelt«, beschuldigte Sperber seine Tochter.

»Nur ein bißchen.« Sie rutschte vom Rücken ihres Ponys und setzte sich mit verschränkten Beinen unter den Baum; dann hob sie das Gesichtchen und sang mit trillernder, flötengleicher Stimme. Ihr Lied brach ab, und einen Augenblick lang saß sie mit unbewegtem Gesicht und vollkommen reglos da. Nicht einmal zu atmen schien sie. Sperber überkam das erschreckende Gefühl, völlig allein zu sein, obwohl Danae keine sechs Fuß von ihm entfernt saß.

»Was ist los, Sperber?« Danaes Lippen bewegten sich, doch es war Sephrenias Stimme, die diese Frage gestellt hatte. Als Danae die Augen aufschlug, hatten sie sich verändert: Die Augen des Mädchens waren sehr dunkel, Sephrenias dagegen tiefblau, fast lavendelfarben.

»Ihr fehlt uns sehr, kleine Mutter«, flüsterte Sperber. Er kniete sich nieder und küßte die Handflächen seiner Tochter.

»Habt Ihr mich um die halbe Welt geholt, um mir das zu sagen?«

»Natürlich nicht, Sephrenia. Wir haben diesen Schatten – diese Wolke – wieder gesehen.«

»Das ist unmöglich.«

»Das dachte ich auch, aber wir haben sie gesehen! Sie ist jedoch anders. Sie fühlt sich anders an. Und diesmal haben nicht nur Ehlana und ich sie gesehen, auch Stragen und Ulath.«

»Erzählt mir ganz genau, was geschehen ist, Sperber.«

Er beschrieb den Schatten, so gut er es vermochte, und berichtete dann kurz von dem Vorfall im Gebirge vor Cardos. »Was immer dieses Etwas ist«, schloß er, »es scheint mit allen Mitteln verhindern zu wollen, daß wir herausfinden, was sich in Lamorkand tut.«

»Gibt es dort Schwierigkeiten?«

»Graf Gerrich wiegelt zur Rebellion auf. Er bildet sich offenbar ein, daß ihm die Krone gut stehen würde. Er ist sogar so weit gegangen, zu behaupten, Fyrchtnfles sei zurückgekehrt. Ist das nicht lächerlich?«

Ihr Blick wirkte abwesend. »Gleicht dieser Schatten genau dem, den Ihr und Ehlana damals gesehen habt?« erkundigte sie sich.

»Er vermittelt irgendwie ein anderes Gefühl.«

»Und habt Ihr das Gefühl wie damals? Daß er mehr als nur eine Bewußtheit einschließt?«

»Daran hat sich nichts geändert. Es ist eine kleine Gruppe von Wesenheiten, und die Wolke, die den Grafen von Belton zerfetzte, war zweifellos dieselbe. Ist es den Trollgöttern irgendwie gelungen, aus der Bhelliomschatulle zu entkommen?«

»Ich muß mir das Ganze erst einmal durch den Kopf gehen lassen, Sperber.« Sephrenia überlegte eine Zeitlang. Auf seltsame Weise war Danaes Gesichtchen auch zu ihrem geworden. »Ich glaube, wir haben ein Problem«, sagte sie schließlich.

»Das habe ich selbst bemerkt, kleine Mutter.«

»Laßt Eure weisen Sprüche, Sperber! Erinnert Ihr Euch an die Männer aus der Urzeit, die in Pelosien aus jener Wolke kamen?«

Sperber schauderte. »Ich habe mich redlich bemüht, das zu vergessen.«

»Freundet Euch mit der Möglichkeit an, daß die verrückten Geschichten über Fyrchtnfles nicht völlig aus der Luft geholt sind. Die Trollgötter können in die Vergangenheit greifen und Menschen und andere Wesen in die Gegenwart holen. Fyrchtnfles könnte tatsächlich zurückgekehrt sein.«

Sperber stöhnte. »Dann ist den Trollgöttern also doch die Flucht gelungen?«

»Das will ich damit nicht sagen, Sperber. Vielleicht sind die Trollgötter einmal nicht die einzigen, die in die Vergangenheit greifen können. Aphrael vermag es vielleicht auch.« Sephrenia machte eine Pause. »Ihr hättet ihr diese Fragen stellen können, wißt Ihr?«

»Vielleicht. Aber hätte es etwas genutzt, ihr diese eine Frage zu stellen? Ich glaube nicht, daß sie die Antwort kennt. Irgendwie scheint sie Grenzen und Beschränkungen nicht zu begreifen.«

»Das ist Euch also aufgefallen«, sagte Sephrenia trocken.

»Seid nicht so spöttisch. Sie ist schließlich meine Tochter.«

»Doch zuvor war sie meine Schwester, also habe ich in dieser Sache ein älteres Recht. Welche Frage könnte Aphrael denn nicht beantworten?«

»Ob ein styrischer Magier – oder überhaupt ein Magier – dies alles bewirken könnte. Wäre es möglich, daß wir es mit einem Sterblichen zu tun haben?«

»Nein, Sperber, das glaube ich nicht. In vierzigtausend Jahren gab es lediglich zwei Magier, die imstande waren, in die Vergangenheit zu greifen, und sie waren nicht sehr erfolgreich. Womit wir es zu tun haben, geht weit über menschliches Vermögen hinaus.«

»Das wollte ich wissen. Dann haben wir es also mit Göttern zu tun?«

»Ich fürchte ja, Sperber. Das ist so gut wie sicher.«