9

Die Peloi waren nomadische Pferdezüchter aus den Marschen Ostpelosiens, hervorragende Reiter und wilde Krieger. Sie sprachen eine archaische Form des Elenischen; viele Worte ihrer Sprache wurden längst nicht mehr benutzt, darunter der Begriff Domi, der größte Hochachtung ausdrückte. Das Wort bedeutete soviel wie Häuptling, verlor jedoch sehr in der Übersetzung, wie Ritter Ulath einmal bemerkt hatte.

Der derzeitige Domi der Peloi hieß Kring, ein hagerer Mann von mittlerer Größe. Wie unter den Männern seines Volkes üblich, hatte er den Kopf kahl geschoren. So waren die häßlichen Narben von Säbelwunden ebenso deutlich auf dem Schädel zu sehen wie im Gesicht. Sie bewiesen, daß beim Aufstieg in eine pelosische Führungsposition ein Menge Konkurrenten überzeugt werden mußte. Kring trug schwarze Lederkleidung, und das Leben auf dem Pferderücken hatte ihm O-Beine verschafft. Seinen Freunden hielt er unerschütterlich die Treue, und Mirtai betete er an, seit er sie zum erstenmal gesehen hatte. Sie wies Kring nicht ab, wenngleich sie sich weigerte, seine Frau zu werden. Die beiden gaben rein äußerlich ein seltsames Paar ab, da die Atanerin ihren glühenden Verehrer um gut einen Fuß überragte.

Pelosische Gastfreundschaft war außerordentlich großzügig, und der Brauch, ›Salz miteinander zu essen‹, erforderte in der Regel den Verzehr gewaltiger Mengen von Spießbraten, wobei die Männer ›wichtige Angelegenheiten berieten‹, was von einer Unterhaltung über das Wetter bis zur formellen Kriegserklärung reichen mochte.

Nachdem sie gegessen hatten, berichtete Kring, was ihm während des Rittes durch Zemoch aufgefallen war, den er mit seinen hundert Peloi unternommen hatte.

»Zemoch war nie ein richtiges Reich, Freund Sperber«, sagte er, »jedenfalls nicht so, wie wir es verstehen. In Zemoch leben zu viele verschiedene Völker, als daß man sie alle unter einen Hut bringen könnte. Das einzige, das sie zusammenhielt, war ihre Furcht vor Otha und Azash. Nun, da es weder ihren Kaiser noch ihren Gott mehr gibt, zerfällt das zemochische Reich. Nicht, daß es einen Krieg oder dergleichen gäbe. Die Zemocher pflegen lediglich keinen Kontakt mehr untereinander. Alle haben ihre eigenen Probleme. Es gibt tatsächlich keinen Grund, miteinander zu reden.«

»Gibt es überhaupt irgendeine Art von Regierung?« fragte Tynian den Domi.

»Mehr Schein als Sein, Freund Tynian«, antwortete Kring.

Sie saßen in einem riesigen offenen Zelt in der Mitte des Peloilagers und aßen Stücke eines am Spieß gebratenen Ochsen. Die Sonne ging unter und die westlichen Gipfel warfen lange Schatten über das schöne Tal. In Basne, etwa eine Meile entfernt, brannte bereits Licht hinter den Fenstern der Häuser.

»Sämtliche Regierungsämter Othas sind nach Gana Dorit verlegt worden«, erklärte Kring. »Niemand wagt sich auch nur in die Nähe der Stadt Zemoch. Die Bürokraten in Gana Dorit verbringen ihre Zeit damit, sich neue Vorschriften auszudenken. Doch die Boten, die sie mit der Übermittlung dieser Erlasse beauftragen, kehren normalerweise gleich im nächsten Ort ein, zerreißen das Dokument, warten eine Zeitlang und kehren dann zurück, um ihren Vorgesetzten zu versichern, daß sie ihren Auftrag ausgeführt hätten. Die Beamten sind zufrieden, die Boten brauchen nicht weit zu reisen, und die Bürger gehen ihren täglichen Geschäften nach. Eigentlich gar keine schlechte Art von Regierung.«

»Und ihre Religion?« erkundigte Bevier sich gespannt. Bevier war ein sehr frommer junger Ritter, der viel Zeit damit verbrachte, im Gebet mit Gott zu sprechen und über religiöse Fragen nachzusinnen. Seine Gefährten mochten ihn trotzdem.

»Die Zemocher reden nicht viel über ihren Glauben, Freund Bevier«, antwortete Kring. »Es war ihre Religion, die sie überhaupt erst in Schwierigkeiten brachte; deshalb unterhalten sie sich nicht gern offen darüber. Sie bauen ihre Feldfrüchte an, hüten ihre Schafe und Ziegen, und überlassen es den Göttern, ihre Meinungsverschiedenheiten unter sich auszumachen. Sie sind für niemanden mehr eine Bedrohung.«

»Wenn man davon absieht, daß ein zerfallendes Reich für jeden Nachbarn, der eine halbwegs schlagkräftige Streitmacht besitzt, geradezu eine Herausforderung sein muß«, fügte Botschafter Oscagne hinzu.

»Warum sollte sich jemand die Mühe machen, Exzellenz?« fragte Stragen. »In Zemoch gibt es nichts von Wert. Die Diebe dort müssen einer ehrlichen Arbeit nachgehen, um ein Auskommen zu haben. Othas Gold war offenbar eine Illusion. Es verschwand, als Azash starb.« Er lächelte spöttisch. »Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie sehr die Anhänger des Primas' von Cimmura sich darüber geärgert haben!«

In diesem Moment geschah etwas Merkwürdiges mit Krings Gesicht. Der wilde Reiter, dessen bloßer Name Furcht und Schrecken verbreitete, erblaßte zuerst, dann fing sein Gesicht zu glühen an. Mirtai war aus dem Frauenzelt getreten, in dem sie und die anderen Damen sich nach peloischer Sitte aufhielten. Seltsamerweise hatte Königin Ehlana keine Einwände dagegen erhoben, was eine gewisse Nervosität in Sperber hervorrief. Mirtai hatte die Einrichtung des Zeltes genutzt, um sich herauszuputzen, und Kring war ganz offensichtlich tief beeindruckt.

»Entschuldigt mich bitte«, sagte er, erhob sich rasch und beeilte sich, zu seiner Angebeteten zu kommen.

»Ich glaube, wir sind Zeugen der Entstehung einer Legende«, meinte Tynian. »Bestimmt werden die Peloi in den nächsten hundert Jahren Lieder über Kring und Mirtai schreiben.« Er blickte den tamulischen Botschafter an. »Benehmen alle Atanerinnen sich so wie Mirtai, Exzellenz? Sie ist offenbar glücklich, daß Kring sie verehrt, aber sie kann sich einfach nicht entschließen, ihn zu erhören.«

»Mirtai tut, was üblich ist, Ritter Tynian«, erwiderte Oscagne. »Atanerinnen lieben es, wenn man ihnen ergeben und ausdauernd den Hof macht. Sie genießen diese Aufmerksamkeit des Mannes. Das liegt wohl daran, daß die meisten Männer sich nach der Hochzeit anderen Dingen zuwenden. Doch solange sie umworben werden, wissen die Atanerinnen, daß sie der alleinige Mittelpunkt im Leben ihres Verehrers sind. Alle Frauen legen auf solche Dinge großen Wert, habe ich gehört.«

»Sie führt ihn doch nicht bloß an der Nase herum, oder?« fragte Berit. »Ich mag den Domi und möchte nicht, daß es ihm das Herz bricht.«

»O nein, Ritter Berit. Mirtai fühlt sich ehrlich zu ihm hingezogen. Würde sie seine Aufmerksamkeit als lästig empfinden, hätte sie ihn längst schon getötet.«

»Bei den Atanern um eine Frau zu freien, dürfte eine sehr aufreibende Sache sein«, bemerkte Kalten.

»Das kann man wohl sagen.« Oscagne lachte. »Der Freier muß sehr vorsichtig sein. Ist er zu forsch, kostet es ihn das Leben, ist er zu lasch, kostet es ihn die Braut; denn sie heiratet einen anderen.«

»Das ist ja barbarisch«, brummte Kalten mißbilligend.

»Atanerinnen scheint es zu gefallen. Aber Frauen sind ja auch elementarere Geschöpfe als wir.«

Sie verließen Basne früh am folgenden Morgen und ritten ostwärts nach Esos an der Grenze zwischen Zemoch und Astel. Für Sperber war es eine seltsame Reise. Sie dauerte drei Tage; dessen war er absolut sicher. An jede Minute, an jede Meile in diesen drei Tagen konnte er sich ganz genau erinnern. Doch wenn er überzeugt war, in einem Zelt zu schlafen, und seine Tochter ihn weckte, zuckte er regelmäßig heftig zusammen, als er feststellte, daß er statt dessen auf Farans Rücken döste und die Stellung der Sonne bewies, daß die vermeintliche Tagesreise keine sechs Stunden gedauert hatte. Prinzessin Danae weckte ihren Vater deshalb, weil er ihr helfen mußte, jede ›Nacht‹ ihre Vorräte und die der mitreisenden Peloi zu verrin gern, indem sie die Lebensmittel an Tiere verfütterten.

»Was hast du eigentlich mit den ganzen Vorräten angestellt, als wir damals mit Warguns Armee ritten?« fragte Sperber sie in der zweiten ›Nacht‹, die in Wirklichkeit nur eine halbe Stunde am frühen Nachmittag des schier endlosen Tages dauerte.

»Da hab' ich es auf die andere Art gemacht.« Sie zuckte die Schultern.

»Auf andere Art?«

»Ich habe die nicht benötigten Lebensmittel einfach verschwinden lassen.«

»Könntest du das nicht auch jetzt tun?«

»Natürlich. Aber dann hätten die Tiere nichts davon. Außerdem verschafft es mir die Gelegenheit, mit dir zu reden, wenn niemand uns hören kann. Schütte den Sack Getreide unter den Büschen dort aus, Sperber. Im Gras dahinter nisten Wachteln. Sie haben in letzter Zeit nicht genug Futter gefunden, und ihre Jungen brauchen gerade jetzt viel zum Wachsen.«

»Wolltest du über irgend etwas Bestimmtes mit mir reden?« fragte Sperber, als er den Sack mit seinem Dolch aufschnitt.

»Nein, ich plaudere nur gern mit dir, und meistens bist du zu beschäftigt dafür.«

»Und dabei hast du Gelegenheit, ein bißchen anzugeben, nicht wahr?«

»Ja, das wird's wohl sein. Weißt du, es macht gar nicht soviel Spaß, Göttin zu sein, wenn man es nicht hin und wieder auch ein bißchen zeigen kann.«

»Ich liebe dich!« sagte er lachend.

»Oh, das ist wundervoll, Sperber!« rief sie glücklich. »So spontan und aus dem Herzen. Möchtest du, daß ich das Gras für dich lila färbe – nur um dir zu zeigen, wie ich mich darüber freue?«

»Ein Kuß ist mir lieber. Lila Gras würde nur die Pferde verwirren.«

Am Abend dieses Tages erreichten sie Esos. Die Kindgöttin verknüpfte die wirkliche und die scheinbare Zeit so perfekt, daß sie nahtlos ineinander übergingen. Sperber war Ordensritter und im Gebrauch von Magie ausgebildet, doch ehrfürchtig schauderte er vor der gewaltigen Macht zurück, über welche diese drollige kleine Göttin verfügte, die sich – wie sie ihm während der Konfrontation mit Azash in der Stadt Zemoch erklärt hatte – selbst erschaffen und aus freien Stücken entschlossen hatte, als seine Tochter wiedergeboren zu werden.

Sie schlugen ihr Nachtlager in einiger Entfernung von der Stadt auf. Nachdem sie zu Abend gegessen hatten, zogen Talen und Stragen Sperber zur Seite.

»Was haltet Ihr davon, wenn wir uns ein wenig umsehen?« fragte Stragen den großen Pandioner.

»Schwebt Euch etwas Bestimmtes vor?«

»Esos ist eine recht große Stadt«, antwortete der blonde Thalesier, »in der es mit ziemlicher Sicherheit organisierte Diebe gibt. Vielleicht erfahren wir allerlei Nützliches, wenn wir uns mit ihrem Anführer in Verbindung setzen.«

»Meint Ihr, er kennt Euch?«

»Nein, das glaube ich nicht. Emsat ist viel zu weit von hier.«

»Weshalb sollte der Anführer der Diebe dann mit Euch reden wollen?«

»Aus Höflichkeit, Sperber. Diebe und Mörder sind ungemein höflich zueinander. Das ist gesünder für alle Beteiligten.«

»Aber wenn er doch gar keine Ahnung hat, wer Ihr seid, wie will er dann wissen, daß er höflich zu Euch sein soll?«

»Es gibt bestimmte Zeichen, die er erkennen wird.«

»Euer Völkchen hat eine sehr komplizierte Gesellschaftsform, wie mir scheint.«

»Alle Gesellschaftsformen sind kompliziert, Sperber. Das ist eine der Bürden der Zivilisation.«

»Irgendwann müßt Ihr mich diese Zeichen lehren, an denen man einen Dieb erkennt.«

»Nein, das werde ich nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil Ihr kein Dieb seid! Also, wir machen uns jetzt auf die Suche nach meinen Berufskollegen. Unsere Informationen sind zu spärlich, Sperber – kaum mehr als die ziemlich allgemeinen Vorstellungen des Botschafters. Ich hätte gern Genaueres gewußt. Ihr nicht?«

»Allerdings, mein Freund.«

»Warum machen wir uns dann nicht auf den Weg nach Esos und verschaffen uns ein wenig Klarheit?«

»Worauf warten wir noch?«

Die drei schlüpften in einfache, unauffällige Kleidung und ritten aus dem Lager. Sie machten einen Bogen nach Westen, um aus dieser Richtung in die Stadt zu gelangen.

Beim Näherkommen betrachtete Talen kritisch die Befestigungen und das unbewachte Tor. »Man scheint hier ein wenig zu sorglos zu sein, so nah an der zemochischen Grenze«, meinte er.

»Zemoch stellt keine Bedrohung mehr dar«, erklärte Stragen.

»Alte Gewohnheiten legt man nicht so schnell ab, Durchlaucht Stragen, und so lange ist es auch wieder nicht her, daß Otha schäumend an der Grenze stand, und Azash unmittelbar hinter ihm.«

»Ich glaube nicht, daß diese Leute Azash fürchteten«, meinte Sperber. »Othas Gott hatte kein Interesse an ihnen. Sein Blick war nach Westen gerichtet, wo er Bhelliom wußte.«

»Da habt Ihr wahrscheinlich recht«, stimmte Talen ihm zu.

Esos war keine sehr große Stadt, bestenfalls von der Größe Lendas in Mitteleosien. Sie wirkte jedoch sehr alt, was davon herrührte, daß an diesem Ort fast seit Anbeginn der Zeit eine Stadt gestanden hatte. Die mit Kopfsteinen gepflasterten Straßen waren schmal und krumm und wanden sich scheinbar ziellos dahin.

»Wie finden wir den Stadtteil, in dem sich Eure Kollegen aufhalten?« wandte Sperber sich an Stragen. »Wir können schließlich nicht irgendeinen Bewohner aufhalten und fragen, wo die Diebe zu finden sind.«

»Überlaßt das nur uns.« Stragen lächelte. »Talen, frag irgendeinen Taschendieb, wo der Diebeskönig sein Domizil hat.«

»Wird gemacht.« Talen grinste und rutschte von seinem Pferd.

»Das kann die ganze Nacht dauern«, befürchtete Sperber.

»Da müßte Talen schon blind geworden sein«, entgegnete Stragen, während der Junge in einer belebten Nebenstraße verschwand. »Seit wir in der Stadt sind, habe ich bereits sechs Taschendiebe gesehen, ohne daß ich nach ihnen Ausschau gehalten hätte.« Er spitzte die Lippen. »Ihre Technik ist hier allerdings ein wenig anders. Wahrscheinlich liegt's daran, daß die Straßen so schmal sind.«

»Was hat das damit zu tun?«

»Im Gedränge rempeln die Leute einander an.« Stragen zuckte die Schultern. »In Emsat oder Cimmura hätte ein Taschendieb ausgespielt, wenn er einen Kunden so anrempelt, wie sie's hier tun. Ich gebe zu, es erleichtert die Arbeit, aber es verdirbt das Fingerspitzengefühl.«

Talen kehrte bereits nach wenigen Minuten zurück. »Es ist gleich unten am Fluß«, berichtete er.

»Das war zu erwarten.« Stragen nickte. »Flüsse ziehen Diebe irgendwie an. Ich habe allerdings nie herausgefunden, weshalb.«

»Wahrscheinlich, um einen Fluchtweg im Rücken zu haben, wenn etwas schiefgeht«, meinte Talen mit einem Schulterzucken. »Wir sollten aber zu Fuß gehen. Berittene erregen zuviel Aufmerksamkeit. Am Ende der Straße gibt es einen Mietstall, in dem wir die Pferde unterbringen können.«

Sie sprachen kurz mit dem mürrischen Stallbesitzer und gingen dann zu Fuß weiter.

Der Unterschlupf der Diebe erwies sich als eine schäbige Spelunke am Ende einer engen Sackgasse. Ein schlichtes Schild mit einer Weinrebe darauf hing von einem rostigen Haken über der Tür, und zwei stämmige Burschen lungerten vor der Eingangstreppe und tranken Bier aus zerbeulten Bechern.

»Wir suchen einen Mann namens Djukta«, sagte Talen zu ihnen.

»Worum geht's?« fragte einer der beiden mißtrauisch.

»Ein Geschäft«, antwortete Stragen kühl.

»Das kann jeder behaupten«, brummte der Bartstoppelige und hob drohend einen schweren Prügel.

Stragen wandte sich seufzend an Sperber. »Es ist doch immer dasselbe!« Seine Hand schoß zum Degengriff, und die dünne Klinge zuckte singend aus der Scheide. »Freund«, sagte er zu dem Herumlungernden, »wenn Ihr zwischen Frühstück und Abendbrot nicht drei Fuß Stahl im Magen haben wollt, solltet Ihr lieber zur Seite treten.« Die nadelgleiche Degenspitze berührte auffordernd des Mannes Bauch.

Der andere Bursche wich ein Stück zur Seite und seine Hand tastete verstohlen nach dem Griff seines Dolchs.

»Das würde ich lassen«, warnte Sperber ihn mit bedrohlich ruhiger Stimme. Er schob den Umhang zur Seite, daß sein Kettenhemd und der Griff seines Breitschwerts sichtbar wurden. »Ich weiß zwar nicht, was Ihr zuletzt gegessen habt, Nachbar, würd's aber erfahren, wenn Eure Gedärme erst auf der Straße liegen.«

Der Halunke erstarrte und schluckte schwer.

»Das Messer!« verlangte Sperber grimmig. »Laßt es fallen.«

Der Dolch landete klirrend auf dem Kopfsteinpflaster.

»Freut mich, daß wir dieses kleine Problem ohne Mißhelligkeiten lösen konnten«, sagte Stragen. »Wie wär's, wenn wir jetzt alle hineingehen, und Ihr uns mit Djukta bekannt macht?«

Die Kaschemme hatte eine niedrige Decke, und auf dem Boden lag moderndes Stroh. Nur ein paar einfache, mit geschmolzenem Talg gefüllte Lampen beleuchteten die Stube.

Djukta war der haarigste Mann, den Sperber je gesehen hatte. Seine Arme und Hände schienen von krausem schwarzem Pelz bedeckt zu sein. Dichte Haarbüschel ragten aus dem Ausschnitt seines Kittels; seine Ohren und Nasenlöcher sahen wie Vogelnester aus, und sein Bart begann unmittelbar unterhalb der unteren Lider. »Was hat das zu bedeuten?« erklang es irgendwo aus dem Gestrüpp auf seinem Gesicht.

»Die Kerle haben uns gezwungen, sie einzulassen, Djukta«, winselte der Bartstoppelige, der die Tür bewacht hatte, und deutete auf Stragens Degen.

Djuktas Schweinsäuglein verengten sich drohend.

»Macht Euch nicht lächerlich«, warnte Stragen, »Ihr solltet lieber aufpassen. Ich habe das Erkennungszeichen bereits zweimal gemacht, und Ihr habt es noch immer nicht bemerkt!«

»Ich hab' es wohl bemerkt. Aber sich mit einem Degen Einlaß zu verschaffen ist nicht gerade ein kollegialer Höflichkeitsbeweis!«

»Wir waren ein wenig in Zeitnot. Ich glaube, jemand ist uns gefolgt.« Stragen schob den Degen in die Scheide zurück.

»Ihr seid nicht von hier, oder?«

»Nein. Wir kommen aus Eosien.«

»Dann seid ihr weit von zu Haus.«

»Nicht ohne Grund. Die Dinge spitzten sich dort ziemlich zu.«

»Was ist euer Gewerbe?«

»Wir schätzen das ungebundene Leben, und wir haben auf den Straßen und Wegen Pelosiens Ruhm und Reichtum gesucht. Bedauerlicherweise bekam ein hoher Kirchenmann, während wir uns geschäftlich mit ihm unterhielten, plötzlich gesundheitliche Probleme und starb. Woraufhin die Ordensritter beschlossen, die Ursache seiner Krankheit zu ermitteln. Meine Freunde und ich beschlossen sofort, uns anderswo umzusehen.«

»Sind diese Ordensritter wirklich so schlimm, wie man sich erzählt?«

»Wahrscheinlich noch schlimmer. Wir drei sind die einzigen Überlebenden unserer Bande. Wir waren dreißig.«

»Habt Ihr vor, Euren Geschäften jetzt hier nachzugehen?«

»Wir haben uns noch nicht entschieden. Wir dachten, wir sehen uns lieber erst einmal um – und vergewissern uns, daß die Ritter uns nicht mehr auf den Fersen sind.«

»Wollt Ihr uns nicht eure Namen nennen?«

»Nein, eigentlich nicht. Wir sind ja nicht sicher, ob wir bleiben werden, und es wäre unnötige Mühe, uns neue Namen auszudenken, falls wir uns gar nicht hier niederlassen.«

Djukta lachte. »Wenn ihr noch nicht wißt, ob ihr hier Geschäften nachgehen werdet, weshalb sucht ihr mich dann auf?«

»Es ist vor allem ein Höflichkeitsbesuch. Es würde von schlechten Manieren zeugen, sich in einer fremden Stadt nicht bei Kollegen sehen zu lassen. Außerdem haben wir uns gedacht, vielleicht ein wenig Zeit sparen zu können, wenn Ihr uns ein paar Hinweise über die Praktiken der hiesigen Ordnungshüter gebt.«

»Ich bin zwar nie in Eosien gewesen, könnte mir aber vorstellen, daß es hier ähnlich zugeht wie bei euch zu Haus. Wegelagerer sind nirgends sehr beliebt.«

»Überall dieselben Vorurteile«, seufzte Stragen. »Es gibt die üblichen Schutzmänner und Stadtwachen, nehme ich an?«

»Ja, es gibt Schutzmänner. Aber in diesem Teil Astels halten sie sich fast ausschließlich in den Städten auf. In den ländlichen Gegenden haben die Edlen ihre eigenen Leute, die für Ordnung sorgen. Zu den Pflichten der Schutzmänner gehört es auch, Steuern einzutreiben. Deshalb werden sie gar nicht gern gesehen, vor allem außerhalb der Stadt nicht.«

»Gut, das zu wissen. Dann hätten wir es nur mit schlecht ausgebildeten Leibeigenen zu tun, die vielleicht ein bißchen Erfahrung haben, Hühnerdiebe zu fangen, die es sich aber überlegen würden, sich mit Leuten wie uns anzulegen. Sehe ich das richtig?«

Djukta nickte. »Und das Gute an diesen leibeigenen Ordnungshütern ist, daß sie die Grenzen der Besitztümer ihrer Herren nicht überschreiten.«

»Der Wunschtraum jedes Räubers!« Stragen grinste.

»Nicht ganz«, widersprach Djukta. »Es ist besser, da draußen nicht allzuviel Aufsehen zu machen. Die leibeigenen Schutzleute würden euch zwar nicht verfolgen, wohl aber die Garnison der Ataner in Canae benachrichtigen. Die erwischen jeden. Und niemand hat diesen Kerlen je beigebracht, Gefangene zu machen.«

»Das spricht nicht gerade für diese Gegend!« gab Stragen zu. »Gibt es sonst noch etwas, das wir wissen sollten?«

»Habt ihr je von Ayachin gehört?«

»Kann mich nicht erinnern.«

»Da könnten euch allerlei Schwierigkeiten bevorstehen.«

»Wer ist er?«

Djukta drehte den Kopf. »Akros!« rief er. »Komm her und erzähl unseren Kollegen von Ayachin.« Djukta zuckte die Schultern und spreizte die Hände. »Ich bin in der Geschichte der alten Zeit nicht sehr bewandert. Aber Akros war Lehrer, bevor er erwischt wurde, wie er seinen Dienstherrn bestohlen hat. Und manches, was er sagt, mag euch schleierhaft erscheinen. Akros säuft wie ein Loch, müßt ihr wissen.«

Akros war ein heruntergekommenes Männchen mit blutunterlaufenen Augen und Fünftagebartstoppeln. »Was willst du wissen, Djukta?« fragte er schwankend.

»Forsch in deinem Gehirn, falls noch was davon übrig ist, und erzähl unseren Freunden alles, was du über Ayachin weißt.«

Der betrunkene Schulmeister lächelte, und seine trüben Augen leuchteten auf. Er setzte sich auf einen Stuhl und nahm einen Schluck aus seinem Krug. »Ihr habt Glück«, erklärte er mit schwerer Zunge. »Ich bin so gut wie nüchtern.«

»Das stimmt«, versicherte Djukta. »Wenn er besoffen ist, bringt er keinen Ton hervor.«

»Was wißt Ihr Herren von der Geschichte Astels?« fragte Akros die drei Fremden.

»Nicht sehr viel«, gestand Stragen.

»Dann will ich das Wichtigste zusammenfassen.« Akros lehnte sich im Stuhl zurück. »Es war im neunten Jahrhundert, als der damalige Erzprälat in Chyrellos beschloß, der elenische Glaube müsse wiedervereint werden – unter seiner Oberherrschaft natürlich.«

»Natürlich.« Stragen lächelte. »Darauf läuft es offenbar immer hinaus, nicht wahr?«

Akros rieb sich das Gesicht. »So ganz macht mein Gedächtnis nicht mehr mit. Deshalb könnte es sein, daß ich etwas auslasse. Jedenfalls zwang der Erzprälat die Könige von Eosien – es war vor der Gründung der Ritterorden –, ihm Streitkräfte zur Verfügung zu stellen. Otha war damals noch nicht geboren, und es war niemand in Zemoch, der die Truppen ernsthaft daran hinderte, als sie hier durchmarschierten. Der Erzprälat wollte die religiöse Einheit, doch die Edelleute in seiner Armee interessierten sich mehr für Eroberung. Sie verheerten Astel, bis Ayachin kam.«

Talen beugte sich mit leuchtenden Augen vor. Es war des Jungen einzige Schwäche: Eine gute Geschichte konnte ihn völlig in Bann schlagen.

Akros nahm einen weiteren Schluck. »Es gibt die widersprüchlichsten Geschichten darüber, wer Ayachin tatsächlich war«, fuhr er fort. »Einige meinen, er sei ein Prinz gewesen, andere, ein Baron, und es gibt sogar welche, die behaupten, nur ein Leibeigener. Ganz sicher aber war Ayachin ein fanatischer Patriot. Er rüttelte jene Edlen auf, die noch nicht zu den Invasoren übergelaufen waren. Und dann tat er etwas, was noch niemand zuvor gewagt hatte: Er bewaffnete die Leibeigenen. Der Feldzug gegen die Invasoren dauerte Jahre, und nach einer ziemlich großen Schlacht, die er scheinbar verlor, floh Ayachin gen Süden und lockte die eosischen Armeen in die astelischen Sümpfe im Süden des Reiches. Er hatte heimlich ein Bündnis mit Patrioten in Edom geschlossen, und so wartete eine große Streitmacht am Südrand des Sumpfes. Leibeigene, die in der Gegend lebten, führten Ayachins Männer durch den Sumpf. Die Eosier versuchten, das unsichere Gelände im Sturm zu nehmen; dabei fanden die meisten jedoch im Morast den Tod. Die wenigen, die es schafften, südlich des Sumpfes festen Boden zu erreichen, wurden von den vereinigten Streitkräften Ayachins und seiner edomischen Verbündeten niedergemacht.

Natürlich wurde er eine Zeitlang als großer Nationalheld gefeiert, doch die Edlen waren empört, weil er die Leibeigenen bewaffnet hatte. Sie verschworen sich gegen ihn, und schließlich fiel er einem Anschlag zum Opfer.«

»Warum müssen diese Geschichten immer so enden?« beschwerte sich Talen.

»Unser junger Freund hier ist ein beherzter Kritiker epischer Werke«, sagte Stragen lächelnd. »Er möchte, daß alle Geschichten ein gutes Ende haben.«

»Diese alte Geschichte ist ja schön und gut«, brummte Djukta, »aber entscheidend ist, daß dieser Ayachin zurückgekommen ist – das jedenfalls behaupten die Leibeigenen.«

»Das ist Teil der Volkssage Astels«, erklärte Akros. »Unter den Leibeigenen gab es die Prophezeiung, daß eines Tages erneut ein großer Kampf bevorstünde, und daß Ayachin dann aus dem Grab auferstehen würde, um sie wieder zu führen.«

Stragen seufzte. »Kann sich denn nicht jemand mal was Neues ausdenken?«

»Was meint Ihr damit?« fragte Djukta.

»Nichts weiter. Außer daß in Eosien zur Zeit eine ähnliche Geschichte die Runde macht. Aber welche Auswirkungen hätte das alles auf unsere Geschäfte, falls wir uns entschließen sollten, hier in der Gegend unserem Gewerbe nachzugehen?«

»In einem Abschnitt der Sage, die Akros erzählte, wird etwas berichtet, das jedermanns Blut zum Stocken bringt. Die Leibeigenen glauben, daß Ayachin ihnen die Freiheit bringen wird, wenn er zurückkehrt. Und jetzt gibt es da draußen einen Hitzkopf, der sie aufwiegelt. Wir kennen seinen richtigen Namen nicht. Wir wissen nur, daß die Leibeigenen ihn ›Säbel‹ nennen. Er wandert umher und erzählt ihnen, daß er Ayachin wahrhaftig gesehen habe. Die Leibeigenen tragen heimlich Waffen zusammen – oder stellen welche her. Und des Nachts schleichen sie sich in den Wald, um diesem ›Säbel‹ zuzuhören, wenn er seine Reden hält. Ihr solltet wissen, daß diese Fanatiker sich da draußen herumtreiben, denn es könnte gefährlich werden, falls ihr ihnen unvermutet in die Arme lauft.« Djukta kratzte sich unter dem zotteligen Bart. »Normalerweise wünsche ich das niemand, aber jetzt wär's mir ganz recht, wenn die Regierung sich dieses ›Säbels‹ annähme und ihn an den Galgen brächte. Er hat die Leibeigenen gegen die Unterdrücker aufgebracht, ohne so recht zu sagen, welche Unterdrücker. Er könnte die Tamuler meinen, aber viele seiner Anhänger glauben, daß er die Edlen meint. Unruhige Leibeigene sind gefährliche Leibeigene. Niemand weiß genau, wie groß ihre Zahl wirklich ist. Aber wenn sie erst anfangen, sich wirre Vorstellungen über Gleichheit und Gerechtigkeit zu machen, weiß nur Gott, wo das enden wird.«