8

Baroneß Melidere war ein hübsches Mädchen. Ihr Haar besaß die Farbe frischen Honigs, ihre Augen waren so blau wie der Sommerhimmel, und ihr Hirn hatte die Größe einer Walnuß – jedenfalls benahm sie sich so.

In Wirklichkeit war die Baroneß klüger als die meisten von Ehlanas Hofleuten. Sie hatte jedoch schon früh im Leben erkannt, daß sich Menschen mit beschränktem Verstand durch hübsche, kluge junge Frauen bedroht fühlen. So hatte sie sich ein geistloses Lächeln, einen dümmlichen Gesichtausdruck und ein albernes Kichern angeeignet, womit sie erfolgreich verbarg, was hinter ihrer Stirn wirklich vor sich ging.

Königin Ehlana durchschaute Melideres Maskerade und ermutigte sie sogar. Melidere war ungemein aufmerksam und hatte sehr scharfe Ohren. Die Menschen achten für gewöhnlich nicht auf einfältige Mädchen und sagen in ihrem Beisein Dinge, die sie sonst für sich behalten würden. So bestand Melideres Aufgabe darin, der Königin von solch unvorsichtigen Gesprächen zu berichten.

Indes trieb Melidere Stragen beinahe in den Wahnsinn. Er wußte mit absoluter Gewißheit, daß sie nicht so dumm sein konnte, wie sie sich gab. Doch sie verriet sich nie, trotz all seiner Bemühungen, sie dabei zu ertappen.

Alean, die Kammerzofe der Königin, war ganz anders. Sie war nicht besonders intelligent, doch ihr Wesen war von einer Art, daß man sie gernhaben mußte. Sie war sanftmütig und liebevoll, schüchtern und bescheiden und sprach selten von sich aus. Sie hatte brünettes Haar und schöne rehbraune Augen. Für Kalten war sie jagdbares Wild, etwa so, wie das Reh für den Wolf. Kalten mochte Zofen. Sie waren ungefährlich und in der Regel willfährig.

Das Schiff, auf dem sie in jenem Frühjahr von Madol aus fuhren, war außerordentlich gut ausgestattet. Es gehörte der Kirche und war erbaut worden, um Kirchenfürsten mit ihrem Gefolge in die verschiedensten Regionen Eosiens zu bringen.

Die Kabinen waren komfortabel und gemütlich, und allesamt mit dunklem, von Öl schimmerndem Holz ausgestattet. Das Öl war ein notwendiger Schutz für Holz, das fortwährend großer Feuchtigkeit ausgesetzt ist. Das Mobiliar widersetzte sich jedem Versuch, es umzustellen oder zu verrücken, da es auf dem Boden befestigt war, so daß es sich bei stürmischem Wetter nicht in Bewegung setzen konnte. Weil auf einem Schiff die Decken der Kabinen gleichzeitig die Unterseite des Oberdecks sind, auf dem die Seeleute ihrer Arbeit nachgehen, befindet sich dickes Gebälk unter den Decken der Räume.

Auf dem Schiff, mit dem die Königin von Elenien samt ihrem Gefolge fuhr, war eine große Kabine im Heck, deren breites Fenster sich über das gesamte Achterschiff erstreckte. Es war eine Art schwimmende Audienzkammer, ideal für Besprechungen. Da sich das Fenster am Heck befand, war die Kabine hell und luftig, und weil das Schiff durch seine Segel bewegt wurde, kam der Wind immer von achtern und trug den Geruch der Bilge ausnahmslos bugwärts, wo ihn die Mannschaft in ihrem engen Quartier auf dem Vorderdeck genießen konnte.

Am zweiten Tag ihrer Seereise zogen Sperber und Ehlana schlichte, praktische Kleidung an und stiegen von ihrer Privatkabine hinauf zum »Thronsaal«, wie er inzwischen allgemein genannt wurde. Alean bereitete Prinzessin Danaes Frühstück über einem kunstvollen kleinen Gerät zu, das halb Lampe, halb Herd war. Alean kochte fast alle Mahlzeiten Danaes, da sie sich kommentarlos mit den eigenwilligen Essensgewohnheiten des Kindes abfand.

Nach einem höflichen Klopfen traten Kalten und Stragen ein. Kalten ging seltsam gebeugt und nach einer Seite gekrümmt. Er schien Schmerzen zu haben.

»Was ist dir denn passiert?« fragte Sperber.

»Ich habe versucht, in einer Hängematte zu schlafen«, ächzte Kalten. »Aber ich glaube, das war keine gute Idee, Sperber.«

Mirtai erhob sich von dem Stuhl neben der Tür. »Steht still«, wies sie den blonden Mann gebieterisch an.

»Was habt Ihr vor?« erkundigte Kalten sich mißtrauisch.

»Steht still!« Sie fuhr mit einer Hand seinen Rücken hinauf und betastete ihn vorsichtig mit den Fingerspitzen. »Legt Euch auf den Boden!« befahl sie. »Auf den Bauch!«

»O nein!«

»Wollt Ihr, daß ich nachhelfe?«

Murrend legte Kalten sich vorsichtig auf den Boden. »Wird es weh tun?« fragte er.

»Mir nicht«, antwortete Mirtai und zog ihre Sandalen aus. »Versucht Euch zu entspannen.« Dann ging sie auf seinem Rücken hin und her. Ein Knacken und Knirschen war zu vernehmen, begleitet von Schmerzensschreien und Stöhnen. Kalten wand sich unter Mirtais Füßen. Schließlich hielt sie inne und stupste mit den Zehen nachdenklich auf eine hartnäckige Stelle zwischen seinen Schulterblättern. Dann reckte sie sich auf die Zehen hoch und rammte die Fersen nach unten.

Kaltens Schrei klang erstickt, als ihm die Luft aus den Lungen fuhr. Das Geräusch, das sein Rücken von sich gab, war sehr laut; es hörte sich wie ein berstender Baumstamm an. Nach Atem ringend und ächzend blieb Kalten mit dem Gesicht nach unten liegen.

»Seid nicht so wehleidig!« rügte Mirtai ihn herzlos. »Steht auf!«

»Ich kann nicht. Ihr habt mich umgebracht!«

Sie faßte ihn an einem Arm und zog ihn auf die Füße. »Geht herum!« befahl sie.

»Gehen? Ich kann nicht einmal schnaufen!«

Sie zog einen ihrer Dolche.

»Schon gut, schon gut! Regt Euch nicht auf! Ich gehe.«

»Schwingt die Arme hin und her!«

»Warum?«

»Tut einfach, was ich sage, Kalten. Ihr müßt die Muskeln lockern!«

Er ging hin und her, schwang dabei die Arme und drehte vorsichtig den Kopf. »Wißt Ihr, ich gebe es ja nicht gern zu, aber ich fühle mich besser – viel besser sogar, um ehrlich zu sein.«

»Seht Ihr?« Sie steckte den Dolch weg.

»Ihr hättet aber nicht so grob sein müssen.«

»Wenn Ihr wollt, kann ich Euch wieder genau in den Zustand versetzen, in dem Ihr gekommen seid.«

»Nein, nein, ist schon gut, Mirtai«, sagte Kalten hastig und wich vor ihr zurück. Und weil er die Gelegenheit nicht ungenutzt lassen konnte, beugte er sich zu Alean vor. »Tue ich Euch nicht leid?« fragte er sie mit einschmeichelnder Stimme.

»Kalten!« fauchte Mirtai. »Laßt das Mädchen in Ruhe!«

»Ich wollte doch nur …«

Sie schlug ihm zwei Finger über die Nase, ähnlich einem Welpen, den man davon abhalten will, ein Paar Schuhe zu zerkauen.

»Das tut weh!« beschwerte er sich und drückte eine Hand auf die Nase.

»Sollte es auch! Laßt sie in Ruhe!«

»Und du stehst da und läßt zu, daß sie das mit mir macht, Sperber!« beschwor Kalten seinen Freund.

»Hör lieber auf sie«, riet Sperber. »Laß das Mädchen in Frieden!«

»Sieht so aus, als wärt Ihr heute mit dem falschen Fuß aufgestanden, Ritter Kalten«, stellte Stragen fest.

Wortlos setzte Kalten sich in eine Ecke und schmollte.

Nach und nach kamen die anderen herein und setzten sich zum Frühstück nieder, das zwei Matrosen aus der Kombüse brachten. Prinzessin Danae saß allein am großen Fenster im Heck, wo die salzige Meeresbrise den Geruch der Schweinswürste von ihrer empfindlichen Nase fernhielt.

Nach dem Frühstück begaben Sperber und Kalten sich an Deck, um ein bißchen Luft zu schöpfen. Sie lehnten sich an die Backbordreling und beobachteten, wie die Südküste Cammoriens vorüberglitt. Es war ein besonders schöner Tag. Die Sonne schien von einem wolkenlos blauen Himmel; sie hatten guten Wind, der die weißen Segel blähte, und ihr Schiff führte die kleine Flotte in schneller Fahrt über die gischtgesprenkelte See.

»Der Käpten meint, daß wir gegen Mittag Miruscum passieren«, sagte Kalten. »Wir kommen schneller voran, als wir dachten.«

»Der Wind steht günstig.« Sperber nickte. »Wie geht's deinem Rücken?«

»Tut weh. Ich habe blaue Flecken von den Hüften bis zum Hals.«

»Jedenfalls kannst du wieder aufrecht stehen.«

Kalten brummelte. Schließlich sagte er: »Mirtai ist sehr direkt, nicht wahr? Ich weiß immer noch nicht so recht, was ich von ihr halten soll. Ich meine, wie sollen wir sie behandeln? Sie ist schließlich eine Frau.«

»Daß du das bemerkt hast!«

»Sehr komisch, Sperber! Aber kann man eine Frau wie Mirtai wirklich wie eine Frau behandeln? Sie ist so groß wie Ulath, und sie erwartet offenbar, daß wir sie als Waffenbruder akzeptieren.«

»Na und?«

»Das ist unnatürlich.«

»Behandle sie als Sonderfall, wie ich es tue. Das ist ungefährlicher, als mit ihr zu streiten. Darf ich dir einen Rat geben?«

»Das kommt auf den Rat an.«

»Mirtai hält es für ihre Pflicht, die Königsfamilie zu beschützen, und das schließt die Kammermaid meiner Frau ein. Ich kann dir nur empfehlen, dich zu zügeln. Wir begreifen Mirtai nicht völlig, deshalb wissen wir nicht, wie weit sie gehen würde. Selbst wenn Alean dich ermutigt, würde ich lieber die Hände von ihr lassen. Es könnte sich als sehr ungesund erweisen.«

»Das Mädchen mag mich«, protestierte Kalten. »Ich habe genug Erfahrung, das zu erkennen.«

»Das mag stimmen. Aber ich bin sicher, daß es Mirtai vollkommen egal ist. Tu mir einen Gefallen, Kalten. Laß das Mädchen in Ruhe.«

»Aber sie ist die einzige an Bord!« wandte Kalten ein.

»Du wirst es überleben.« Sperber drehte sich um und sah Patriarch Emban mit Botschafter Oscagne nahe dem Heck stehen. Sie waren ein eigenartiges Paar. Der Patriarch von Uzera hatte für die Seereise seine Soutane abgelegt und trug statt dessen ein braunes Wams über einem schlichten Gewand. Er war fast so breit wie groß und hatte ein rotes Gesicht. Oscagne dagegen war ein zierlicher Mann mit feinem Knochenbau und keinerlei Fett. Seine Haut war blaßbronzefarben. Aber die Männer waren verwandte Naturen. Beide waren leidenschaftliche Politiker. Sperber und Kalten schlenderten zu ihnen.

»Alle Macht kommt vom Thron in Tamuli, Eminenz«, erklärte Oscagne gerade. »Dort geschieht nichts ohne ausdrücklichen Befehl des Kaisers.«

»In Eosien delegieren wir die Dinge, Exzellenz«, erklärte Emban ihm seinerseits. »Wir wählen einen guten Mann aus, sagen ihm, was wir von ihm erwarten, und überlassen ihm die Erledigung der Aufgabe.«

»Das haben wir auch versucht. Aber in unserer Kultur funktioniert es nicht. Unsere Religion ist zu oberflächlich, als daß sie eine so tiefe persönliche Treue hervorbringen könnte wie die Eure.«

»Euer Kaiser muß alle Entscheidungen treffen?« fragte Emban ungläubig. »Woher nimmt er die Zeit dafür?«

Oscagne lächelte. »Nein, nein, Eminenz. Alltägliche Entscheidungen werden durch Gebräuche und Tradition bestimmt. Wir halten sehr viel auf Sitten und Gebräuche. Sobald aber ein Tamuli diese schützenden Pfade verläßt, muß er improvisieren, und das bringt ihn meist in Schwierigkeiten. Aus irgendeinem Grund werden seine Improvisationen immer von persönlichen Interessen diktiert. Jedenfalls haben wir festgestellt, daß man von solchen Ausflügen in den Bereich der freien Entscheidung abraten sollte. Der Definition nach ist unser Kaiser ohnehin allwissend. Also ist es wohl das beste, diese Dinge ihm zu überlassen.«

»Eine derart umfassende Definition ist nicht immer sehr genau, Exzellenz. ›Allwissend‹ kann vielerlei bedeuten, je nachdem, welche Person so bezeichnet wird. Wir haben selbst eine ähnliche Definition. Wir sagen, daß unser Erzprälat von der Stimme Gottes geleitet wird. Doch es gab im Lauf der Zeit manchen Erzprälaten, der nicht sehr auf Gottes Stimme hörte.«

»Ähnliche Erfahrung haben auch wir gemacht, Eminenz. Der Begriff ›allwissend‹ läßt sich offenbar sehr vielfältig deuten. Um ehrlich zu sein, mein Freund, wir hatten hin und wieder geistig äußerst beschränkte Kaiser. Zur Zeit haben wir allerdings Glück. Sarabian ist ein durchaus fähiger Herrscher.«

»Wie ist er denn so?« fragte Emban interessiert.

»Bedauerlicherweise ein Gefangener seines Amtes, ebensosehr Tradition und Gebräuchen unterworfen wie wir und gezwungen, sich in der unpersönlichen Sprache seines Amtes zu äußern. Das macht es so gut wie unmöglich, sein wahres Ich kennenzulernen.« Der Botschafter lächelte. »Wer weiß, vielleicht reißt der Besuch Königin Ehlanas diese Schranken nieder. Der Kaiser wird sie – aus politischen Gründen – als Gleichgestellte behandeln müssen, obwohl er im Glauben erzogen wurde, daß niemand ihm gleichgestellt ist. Ich hoffe, Eure reizende blonde Königin geht behutsam mit ihm um. Ich glaube, ich mag ihn – oder würde ihn mögen, wenn ich all diese formellen Schranken überwinden könnte –, und ich fände es schlimm, wenn Ehlana dafür verantwortlich wäre, daß seine Hoheit der Schlag trifft.«

»Ehlana weiß immer, was sie tut, Exzellenz«, versicherte ihm Emban. »Verglichen mit ihr sind wir Wickelkinder. Aber das solltet Ihr Eurer Gemahlin lieber nicht sagen, Sperber.«

»Was ist Euch mein Schweigen wert, Eminenz?« Sperber grinste.

Emban funkelte ihn kurz an. »Was wird uns in Astel vermutlich erwarten, Exzellenz?«

»Tränen wahrscheinlich«, antwortete Oscagne.

»Habe ich Euch recht verstanden?«

»Die Asteler sind sehr gefühlsbetonte Menschen und weinen beim geringsten Anlaß. Ihre Kultur unterscheidet sich kaum von der des Königreichs Pelosien. Sie sind schrecklich fromm und unverbesserlich rückständig. Wieder und wieder wurde ihnen vor Augen geführt, daß Leibeigenschaft eine archaische, unwirtschaftliche Einrichtung ist, aber sie behalten sie trotzdem bei – hauptsächlich, weil die Leibeigenen sie klaglos dulden. Astelische Edle meiden jede körperliche Anstrengung; deshalb haben sie keine Vorstellung, wie belastbar ein Mensch ist. Das nutzen die Leibeigenen weidlich aus.

Es ist häufig vorgekommen, daß astelische Leibeigene schon bei der bloßen Erwähnung so erschreckender Begriffe wie ›mähen‹ oder ›graben‹ scheinbar vor Erschöpfung zusammengebrochen sind. Die Edlen sind so weichherzig, daß die Leibeigenen damit fast immer durchkommen. Westastel ist ein beschränktes Land voller beschränkter Menschen. Das ändert sich jedoch, je weiter man nach Osten kommt.«

»Das kann man nur hoffen. Ich weiß nicht, wieviel Beschränktheit ich ertragen …«

Plötzlich war wieder diese Finsternis am Rand von Sperbers Blickfeld, begleitet von der gleichen Eiseskälte wie zuvor. Patriarch Emban hielt inne und drehte rasch den Kopf, um die Erscheinung besser sehen zu können. »Was …?«

»Es vergeht«, versicherte Sperber ihm angespannt. »Versucht Euch darauf zu konzentrieren, Eminenz – und auch Ihr, Exzellenz, falls Ihr die Bitte gestattet.« Die beiden sahen den Schatten zum erstenmal, und ihre Reaktion mochte sich als nützlich erweisen. Sperber beobachtete sie aufmerksam, als sie die Köpfe verrenkten, um einen besseren Blick in die Dunkelheit unmittelbar am Rand des Sichtfelds zu erhaschen. Und ebenso plötzlich war der Schatten wieder verschwunden.

»Nun«, fragte Sperber angespannt, »was genau habt ihr gesehen?«

»Ich konnte gar nichts sehen«, antwortete Kalten. »Es war, als versuche jemand, sich von hinten an mich heranzuschleichen.« Obwohl Kalten bereits mehrere Male die seltsame Wolke gesehen hatte, war dies das erste Mal, daß der Schatten in seinem Beisein erschienen war.

»Was war das, Ritter Sperber?« erkundigte sich Botschafter Oscagne.

»Ich werde es gleich erklären, Exzellenz. Doch zuvor versucht bitte, Euch zu erinnern, was genau Ihr gesehen und gefühlt habt.«

»Es war etwas Dunkles«, antwortete Oscagne. »Etwas sehr Dunkles. Es schien durchaus stofflich zu sein, aber irgendwie besaß es die Fähigkeit, sich stets an den Rand meines Blickfelds zu bewegen, so daß ich es nicht deutlich genug sehen konnte. Wie rasch ich den Kopf auch drehte oder ihm mit den Augen folgte – stets kam ich zu spät. Ich hatte das Gefühl, daß es sich unmittelbar hinter meinem Kopf befand.«

Emban nickte. »Und ich spürte Kälte, die davon ausging.« Er fröstelte. »Mir ist immer noch kalt.«

»Außerdem war es feindselig«, fügte Kalten hinzu. »Kurz davor, uns anzugreifen.«

»Was noch?« fragte Sperber die drei. »Jede Kleinigkeit ist wichtig.«

»Es hatte einen merkwürdigen Geruch«, sagte Oscagne.

Sperber blickte ihn scharf an. Das war ihm selbst nie aufgefallen. »Könntet Ihr ihn beschreiben, Exzellenz?«

»Ich glaube, es roch nach verdorbenem Fleisch – wie eine Rindslende oder ein ähnliches Fleischstück, das man eine Woche zu lange abhängen ließ.«

Kalten warf ein: »Ich hab's auch gerochen, Sperber – wenngleich höchstens eine Sekunde. Aber es hat einen verdammt schlechten Geschmack in meinem Mund zurückgelassen.«

Emban nickte heftig. »Ich verstehe etwas von Gerüchen. Es war ohne Zweifel verdorbenes Fleisch.«

»Wir standen in einem Halbkreis«, sagte Sperber nachdenklich, »und wir alle sahen – oder spürten – es direkt hinter uns. Hat einer von euch es hinter einem der anderen gesehen?«

Alle schüttelten den Kopf.

»Hättet Ihr die Güte, uns das alles zu erklären, Sperber?« sagte Emban gereizt.

»Einen Moment noch, Eminenz.« Sperber überquerte das Deck und sprach mit einem Seemann, der gerade ein Stopperstek knüpfte. Er unterhielt sich mehrere Minuten mit dem teerbeschmierten Mann, dann kehrte er zurück.

»Er hat es ebenfalls gesehen«, berichtete er. »Ich schlage vor, wir befragen auch die übrigen Seeleute an Deck. Ich will euch nichts verheimlichen, meine Herren. Ich halte es nur für besser, die Matrosen so rasch wie möglich zu befragen, solange ihre Erinnerung an den Zwischenfall noch frisch ist. Ich möchte gern wissen, wie weitreichend diese Erscheinung war.«

Etwa eine halbe Stunde später kamen sie am Heckniedergang wieder zusammen. Jeder machte einen aufgeregten Eindruck.

»Einer der Seeleute hat eine Art Prasseln gehört – wie von einem großen Feuer«, berichtete Kalten.

»Und mir hat einer der Männer gesagt, daß der Schatten eine schwach rötliche Tönung gehabt hätte«, fügte Oscagne hinzu.

»Nein«, widersprach Emban. »Er war grün. Der Seemann, den ich befragte, hat behauptet, der Schatten sei zweifelsfrei grün gewesen.«

»Und ich sprach mit einem Mann, der gerade an Deck gekommen war. Er hatte weder etwas gesehen, noch gespürt«, sagte Sperber.

»Das alles ist sehr interessant, Ritter Sperber«, meinte Oscagne, »aber könntet Ihr es uns jetzt bitte erklären?«

»Kalten weiß bereits Bescheid, Exzellenz«, sagte Sperber. »Es hat ganz den Anschein, als hätten wir soeben Besuch von den Trollgöttern bekommen.«

»Hütet Euch, Sperber«, warnte Emban, »das grenzt an Ketzerei!«

»Ordensritter dürfen sich damit befassen, Eminenz. Dieser Schatten folgte mir jedenfalls schon früher, und damals sah auch Ehlana ihn. Damals führten wir es darauf zurück, daß wir die Ringe trugen. Die Steine an diesen Ringen waren Splitter von Bhelliom. Jetzt scheint der Schatten nicht mehr so wählerisch zu sein.«

»Das ist alles? Nur ein Schatten?« fragte Oscagne.

Sperber schüttelte den Kopf. »Er kann sich auch als sehr dunkle Wolke zeigen, die jeder zu sehen vermag.«

»Aber nicht, was sich darin verbirgt«, warf Kalten ein.

»Und das wäre?« fragte Oscagne.

Sperber warf Emban einen raschen Blick zu. »Diese Antwort würde ein theologisches Streitgespräch auslösen, Exzellenz. Dann müßten wir den ganzen Vormittag mit der Debatte vergeuden.«

»So doktrinär bin ich nun auch wieder nicht, Sperber!« entrüstete sich Emban.

»Was würdet Ihr denn sagen, wenn ich behaupte, daß Menschen und Trolle miteinander verwandt sind, Eminenz?«

»Ich würde den Zustand Eurer Seele untersuchen müssen.«

»Dann sollte ich Euch die Wahrheit über unsere Vettern besser ersparen. Wie auch immer, Aphrael hat uns erklärt, daß der Schatten – und später die Wolke – Manifestationen der Trollgötter waren.«

»Wer ist Aphrael?« erkundigte sich Oscagne.

»Wir hatten eine Lehrerin, die uns als Novizen in den styrischen Künsten unterrichtete, Exzellenz«, erwiderte Sperber. »Aphrael ist ihre Göttin. Wir waren der Meinung, die Wolke habe etwas mit Azash zu tun, doch das war ein Irrtum. Der rötliche Farbton und die Hitze, die dieser Seemann gesehen und gespürt hat, stammen von Khwaj, dem Gott des Feuers. Die grünliche Farbe und der Geruch nach verderbendem Fleisch hingegen stammten von Ghnomb, dem Gott des Essens.«

Kalten runzelte die Stirn. »Ich dachte, es wäre nur Seemannsgarn, aber einer der Burschen sagte mir, er hätte ein überwältigendes Verlangen nach Frauen gehabt, während der Schatten hinter ihm lauerte. Verehren die Trolle nicht auch einen Gott der Paarung?«

»Ich glaube schon«, murmelte Sperber. »Ulath müßte es wissen.«

»Die ganze Sache ist sehr interessant, Ritter Sperber«, sagte Oscagne skeptisch, »aber mir ist nicht klar, was das alles bedeutet.«

»Ihr habt übernatürliche Vorfälle erlebt, die vermutlich mit den Unruhen in Tamuli zu tun haben, Exzellenz. Ganz ähnliche Aufstände gab es in Lamorkand – begleitet von ganz ähnlichen übernatürlichen Ereignissen. Als wir einmal einen Mann befragten, der mehr darüber wußte, umhüllte ihn die Wolke und tötete ihn, ehe er etwas sagen konnte. Das deutet sehr auf eine Verbindung hin. Der Schatten könnte auch in Tamuli erschienen sein. Dort aber hat ihn gewiß niemand als das erkannt, was er wirklich ist.«

»Dann hat Zalasta also recht«, murmelte Oscagne. »Ihr seid wirklich der Richtige für diese Aufgabe.«

»Also folgen die Trollgötter dir wieder mal, Sperber«, sagte Kalten. »Was haben sie nur für einen Narren an dir gefressen? So schlimm siehst du nun auch wieder nicht aus, daß sie dich für einen der ihren halten könnten.«

Sperber blickte unmißverständlich auf die Reling. »Wie würde es dir gefallen, eine Zeitlang neben dem Schiff herzuschwimmen, Kalten?«

»Nein, danke, Sperber. Für heute hat es mir gereicht, den Bettvorleger für Mirtai zu spielen.«

Der Wind blieb beständig, und der Himmel war klar. Sie umrundeten die Südspitze von Zemoch und segelten die Ostküste in Nordostrichtung entlang. Einmal, als Sperber und seine Tochter am Bug standen, beschloß er, seine wachsende Neugier zu befriedigen.

»Wie lange sind wir eigentlich schon auf See, Danae?« fragte er sie. »Wirklich, meine ich.«

»Fünf Tage«, erwiderte sie.

»Mir kommt es wie zwei Wochen oder länger vor.«

»Danke, Vater. Beantwortet das deine Frage, wie gut ich die Zeit manipulieren kann?«

»Aber wir haben in fünf Tagen doch bestimmt nicht soviel gegessen, wie wir es in zwei Wochen getan hätten. Werden unsere Köche da nicht mißtrauisch?«

»Schau mal hinter uns, Vater! Warum, glaubst du, hüpfen die Fische so vergnügt aus dem Wasser? Und wieso folgen uns die vielen Möwen?«

»Vielleicht, weil sie hier Futter finden.«

»Du hast es erfaßt, Vater. Aber was könnte es hier, so weit draußen auf See, für so viele Tiere zu fressen geben? Es sei denn, jemand wirft ihnen vom Achterdeck aus Futter zu.«

»Wann tust du das?«

»Nachts.« Sie zuckte die Schultern. »Die Fische sind sehr dankbar. Ich glaube, es fehlt nicht viel, und sie beten mich an.« Sie lachte. »Von Fischen bin ich bisher noch nie als Göttin verehrt worden, und ich beherrsche ihre Sprache auch nicht sehr gut – sie besteht nur aus Blubberlauten. Aber Wale sind klüger. Krieg' ich einen Wal?«

»Nein, du hast bereits ein Kätzchen.«

»Bitte, Sperber!«

»Kommt gar nicht in Frage.«

»Warum krieg' ich keinen Wal?«

»Weil ein Wal nicht in ein Gemach paßt. Er ist kein Haustier.«

»Das ist eine lächerliche Antwort, Sperber!«

»Es ist auch eine lächerliche Idee, Aphrael!«

Salesha am Golf von Dakonien war eine häßliche Hafenstadt. Sie war das Abbild der Kultur, die neunzehnhundert Jahre in Zemoch vorgeherrscht hatte.

Die Zemocher schienen immer noch nicht begriffen zu haben, was sich sechs Jahre zuvor in ihrer Hauptstadt ereignet hatte. Wie eindringlich man ihnen auch versicherte, daß sie von Otha und Azash nichts mehr zu befürchten hatten, neigten sie nach wie vor dazu, bei lauten Geräuschen heftig zusammenzuzucken, und ihre Reaktion auf Überraschungen, gleich welcher Art, bestand für gewöhnlich darin, daß sie die Flucht ergriffen.

»Ich kann nur empfehlen, daß wir nachts an Bord bleiben, Majestät«, warnte Stragen die Königin, nachdem er sich die Gästehäuser in der Stadt angesehen hatte. »Ich würde selbst im besten Haus Saleshas nicht einmal Hunde einquartieren.«

»Ist es so schlimm?« fragte Ehlana.

»Noch schlimmer, Majestät.«

So blieben sie an Bord und brachen früh am nächsten Morgen auf. Die Straße, die sie nordwärts nehmen mußten, schien hauptsächlich aus Schlaglöchern zu bestehen, und die Karosse der Königin und ihres Gefolges holperte und knarrte und polterte mitleiderregend, als der langgezogene Trupp sich durch das niedrige Gebirge zwischen der Küste und der Stadt Basne den Weg hinauf schlängelte.

Als sie etwa eine Stunde unterwegs waren, ritt Talen an die Spitze. Als Page der Königin war es eine seiner Pflichten, Botschaften für sie zu überbringen. Diesmal ritt der Junge jedoch nicht allein auf seinem Pferd. Sperbers Tochter saß hinter ihm. Sie hatte die Arme um seine Taille geschlungen und die Wange an seinen Rücken gedrückt.

»Sie will mit Euch reiten«, erklärte Talen Sperber. »Eure Gemahlin und der Botschafter unterhalten sich über Politik. Die Prinzessin hörte nicht zu gähnen auf, bis die Königin ihr schließlich erlaubt hat, aus der Karosse zu steigen.«

Sperber nickte. Der Ängstlichkeit der Zemocher wegen war dieser Abschnitt der Reise vergleichsweise ungefährlich. Er langte zu seiner Tochter hinüber und hob sie vor seinem Sattel auf Farans Rücken. »Ich dachte, du magst Politik«, sagte er zu ihr, nachdem Talen an seinen Posten neben der Kutsche zurückgekehrt war.

»Oscagne hat den Aufbau des Tamulischen Imperiums erklärt«, entgegnete sie. »Darüber weiß ich schon alles. Er offenbar nicht, obwohl er nicht allzu viele Fehler macht.«

»Wirst du die Entfernung von hier nach Basne verkürzen?«

»Nur wenn du keine langen, anstrengenden Reisen durch öde Gegenden magst. Faran und die anderen Pferde sind dankbar, wenn ich die Strecke ein wenig abkürze, nicht wahr, Faran?«

Der mächtige Fuchshengst nickte begeistert.

»Er ist so ein liebes Pferd!« Danae lehnte sich an die gepanzerte Brust ihres Vaters.

»Faran? Er ist ein boshaftes Vieh!«

»Nur weil du das von ihm erwartest, Vater. Er will es dir bloß recht machen.« Sie klopfte auf Sperbers Rüstung. »Ich werde etwas dagegen unternehmen müssen. Wie hältst du diesen grauenvollen Gestank nur aus?«

»Man gewöhnt sich daran.« Alle Ordensritter trugen ihre Paradepanzer, und an ihren Lanzen flatterten bunte Banner. Sperber schaute sich um und stellte fest, daß sich niemand in Hörweite befand. »Aphrael«, fragte er leise, »kannst du es so einrichten, daß ich die wirkliche Zeit sehen kann?«

»Niemand kann die Zeit sehen, Sperber.«

»Du weißt schon, was ich meine. Ich möchte sehen, was wirklich geschieht – nicht die Illusion, die du erschaffst, um dein Tun zu verbergen.«

»Warum soll ich dir diesen Wunsch erfüllen?«

»Weil ich gern Klarheit habe.«

»Es wird dir nicht gefallen«, warnte sie.

»Ich bin Ordensritter. Da muß man mitunter Dinge tun, die einem nicht gefallen.«

»Wenn du darauf bestehst, Vater.«

Er wußte selbst nicht so recht, was er erwartet hatte – vielleicht eine ruckhafte, beschleunigte Bewegung, und daß die Stimmen seiner Freunde wie Vogelgezwitscher klangen. Doch es geschah etwas ganz anderes. Farans Gang wurde unglaublich geschmeidig. Das große Pferd schien regelrecht über den Boden zu fließen – oder genauer, der Boden schien unter seinen Hufen rückwärts zu fließen. Sperber schluckte schwer und schaute nach seinen Gefährten. Ihre Gesichter wirkten leer, erstarrt, und ihre Augen waren halb geschlossen.

»Zur Zeit schlafen sie«, erklärte Aphrael. »Sie fühlen sich sehr wohl. Sie glauben, sie hätten soeben ein gutes Mahl zu Abend gegessen, und daß die Sonne untergegangen wäre. Ich habe ihnen ein schönes Lager errichtet. Halt Faran an, Vater. Du kannst mir helfen, das überflüssige Essen loszuwerden.«

»Kannst du es nicht einfach verschwinden lassen?«

»Und es vergeuden?« entgegnete sie entsetzt. »Die Tiere sind froh über Nahrung, weißt du.«

»Wie lange werden wir wirklich bis Basne brauchen?«

»Zwei Tage. Im Notfall könnten wir noch schneller vorankommen, aber zur Zeit ist es nicht wirklich nötig.«

Sperber zügelte Faran und folgte seiner kleinen Tochter zu den geduldig herumstehenden Lastpferden. »Du behältst das alles gleichzeitig im Kopf?« fragte er sie.

»Das ist nicht schwierig, Sperber. Man muß bloß auf die Einzelheiten achten, das ist alles.«

»Du redest wie Kurik.«

»Er hätte einen großartigen Gott abgegeben. Kleinigkeiten im Auge zu behalten ist die wichtigste Lektion, die wir lernen. Trag die Rindsschulter zu dem Baum mit der geknickten Spitze. Dort treibt sich ein Bärenjunges herum, das von seiner Mutter getrennt wurde. Es hat einen Bärenhunger!«

»Achtest du wirklich auf alles, was um dich herum geschieht?«

»Irgend jemand muß es tun, Sperber.«

Die zemochische Stadt Basne lag in einem hübschen Tal, wo die Ost-West-Landstraße an einer Furt einen kleinen, glitzernden Fluß überquerte. Basne war ein recht bedeutendes Handelszentrum. Nicht einmal Azash war es gelungen, den natürlichen menschlichen Geschäftssinn zu bremsen. Unmittelbar außerhalb der Stadt befand sich ein Lager.

Sperber war zur Karosse geritten, um Prinzessin Danae zu ihrer Mutter zurückzubringen. Nun ritt er neben der Karosse, als sie hinunter ins Tal fuhren.

Mirtai war ungewohnt nervös, als die Kutsche sich dem Lager näherte.

»Sieht ganz so aus, als wäre Euer Bewunderer Eurem Ruf gefolgt, Mirtai«, bemerkte Baroneß Melidere gut gelaunt.

»Daran habe ich nie gezweifelt«, antwortete die Riesin.

»Es muß unendlich befriedigend sein, eine so uneingeschränkte Macht über einen Mann zu haben.«

»Mir gefällt's«, gestand Mirtai. »Wie sehe ich aus? Seid ehrlich, Melidere. Ich habe Kring seit Monaten nicht gesehen und möchte ihn nicht enttäuschen.«

»Bezaubernd, Mirtai.«

»Sagt Ihr das nicht nur so daher?«

»Natürlich nicht.«

»Was meint Ihr, Ehlana?« wandte die Tamulerin sich an ihre Gebieterin. Ihre Stimme klang ein wenig unsicher.

»Ihr seht umwerfend aus, Mirtai.«

»Ich werde Gewißheit haben, sobald ich sein Gesicht sehe.« Mirtai machte eine Pause. »Vielleicht sollte ich ihn heiraten. Ich glaube, ich würde mich viel sicherer fühlen, wenn es besiegelt wäre.« Sie stand auf, öffnete die Karossentür und lehnte sich hinaus, um ihr Pferd herbeizuziehen, das hinter der Kutsche angebunden war; dann glitt sie hinaus und auf den Rücken des Tieres. Mirtai benutzte nie einen Sattel. Sie seufzte. »Ich reite besser hinunter. Mal sehen, ob er mich noch liebt.« Sie gab ihrem Pferd die Fersen und galoppierte ins Tal zu dem wartenden Domi.