15

Ein Dutzend Atanerinnen sollte helfen, den Eindruck sorglosen höfischen Treibens auf der Anhöhe zu verstärken. Doch es erwies sich als schwierig, diese Frauen zum Lächeln zu bewegen; sie schienen der Auffassung zu sein, die Götter hätten Gebote gegen das Lachen erlassen. Berit und mehrere andere junge Ritter unterhielten die Damen, während sie mehr – und weniger – im Wege liegende scheffelgroße Steine an den Rand der amphitheaterartigen Hügelkuppe schafften. Die hintere Seite der Erhebung war steiler als die vordere; dort bildete der Rand eine natürliche Wehrmauer. Die jungen Ritter häuften genügend Steine und Felsbrocken auf, um an den anderen drei Seiten eine Art Brustwehr zu errichten. Sie gingen dieser Arbeit unauffällig und scheinbar gleichmütig nach, doch bereits nach weniger als einer Stunde war eine recht brauchbare Befestigung errichtet.

Um den Fuß des Hügels brannten viele Feuer, an denen gekocht wurde, und ihr Rauch legte sich wie blauer Dunst um die weißen Stämme der Birken. Lautes Töpfeklappern und -klirren war zu hören, und die Männer der drei so verschiedenartigen Truppen verständigten sich lautstark, während sie ihr Essen zubereiteten. Engessas Ataner sammelten riesige Haufen von Brennholz – vorzugsweise gut zehn Fuß lange Scheite – und alle Köche brüllten nach Spänen für ihre Feuer, die von den Enden der Birkenstämme geschlagen werden mußten. Auf diese Weise gab es bald in regelmäßigen Abständen rund um die Kuppe ordentliche Haufen zugespitzter, zehn Fuß langer Pfähle, die entweder als Brennholz oder für eine Palisade verwendbar waren, welche in Minutenschnelle errichtet werden konnte. Die Ritter und die Peloi banden ihre Pferde in der Nähe an und lagerten müßig um den Fuß der Erhebung herum, während die Ataner sich zwischen den Bäumen verteilt hatten.

Sperber stand auf der Kuppe und beobachtete, wie die Arbeit drunten voranging. Die Damen saßen unter einem riesigen, an Stangen befestigten Baldachin in der Kuppelmulde. Stragen klimperte auf seiner Laute und sang mit seiner tiefen, klangvollen Stimme.

Talen kam zu Sperber. »Wie geht's da unten?« fragte er.

»Khalad befestigt das Lager so gut es möglich ist, ohne daß es auffällt«, antwortete Sperber.

»Er ist sehr geschickt, nicht wahr?« Stolz klang aus Talens Stimme mit.

»Dein Bruder? O ja. Euer Vater hat ihn gut ausgebildet.«

»Es wäre schön gewesen, mit meinen Brüdern aufzuwachsen.« Es hörte sich beinahe ein wenig sehnsüchtig an. »Aber …« Talen zuckte die Schultern und spähte in den Wald. »Hat Engessa sich schon gemeldet?«

»Unsere Freunde sind immer noch da draußen.«

»Sie werden angreifen, nicht wahr?«

»Höchstwahrscheinlich. Man zieht nicht so viele Bewaffnete an einer Stelle zusammen, wenn man nicht vorhat, sie einzusetzen.«

»Mir gefällt Euer Plan, Sperber. Aber ich glaube, er hat eine Schwachstelle.«

»So?«

»Wenn diese Leute, wer sie auch sein mögen, erkannt haben, daß wir hier nicht abziehen, beschließen sie vielleicht, uns nach Einbruch der Dunkelheit anzugreifen. Nachts zu kämpfen ist doch ganz was anderes als am hellichten Tag, nicht wahr?«

»Normalerweise ja. Aber wir werden mogeln.«

Talen blickte ihn fragend an.

»Es gibt ein paar Zauber, die Helligkeit bewirken können, wenn man etwas sehen will.«

»Das vergesse ich immer wieder.«

»Du solltest dir so etwas merken, Talen.« Sperber lächelte leicht. »Sobald wir wieder zu Haus sind, wirst du dein Noviziat beginnen.«

»Wann haben wir das beschlossen?«

»Soeben. Du bist jetzt alt genug. Und wenn du weiter so in die Höhe schießt wie in letzter Zeit, wirst du auch groß genug sein.«

»Ist Magie schwer zu erlernen?«

»Man muß nur gut aufpassen. Alle Zaubersprüche sind auf styrisch, und Styrisch ist eine vertrackte Sprache. Benutzt man versehentlich ein falsches Wort, kann alles mögliche schiefgehen.«

»Danke, Sperber. Das fehlte mir gerade noch. Ich habe schon genug andere Sorgen.«

»Wir werden mit Sephrenia reden, sobald wir in Sarsos sind. Vielleicht erklärt sie sich einverstanden, dich auszubilden. Flöte mag dich. Sie wird dir verzeihen, wenn du Fehler machst.«

»Was hat Flöte damit zu tun?«

»Wenn Sephrenia dich ausbildet, wirst du deine Bitten an Aphrael richten.«

»Bitten?«

»Magie ist Bitten. Man bittet einen Gott, etwas für einen zu tun.«

»Beten?« fragte der Junge ungläubig.

»So ähnlich.«

»Weiß Emban, daß Ihr zu einer styrischen Göttin betet?«

»Wahrscheinlich. Die Kirche pflegt dies jedoch zu übersehen – aus praktischen Gründen.«

»Das ist ja Heuchelei.«

»Das würde ich an deiner Stelle nicht zu Emban sagen.«

»Wartet! Habe ich das richtig verstanden? Wenn ich Ordensritter werde, muß ich Flöte anbeten?«

»Zu ihr beten, Talen. Von anbeten habe ich nichts gesagt.«

»Beten, anbeten – wo ist da der Unterschied?«

»Das wird dir Sephrenia erklären.«

»Sie ist in Sarsos, habt Ihr gesagt?«

»Das habe ich nicht gesagt.« Sperber verfluchte seine Unvorsichtigkeit.

»O doch, habt Ihr sehr wohl!«

»Na gut, aber behalte es für dich.«

»Deshalb nehmen wir den Landweg, nicht wahr?«

»Das ist einer der Gründe, ja. Hast du eigentlich nichts zu tun?«

»Eigentlich nicht.«

»Dann such dir eine Aufgabe – denn wenn du's nicht tust, tue ich es für dich!«

»Ihr braucht nicht gleich zornig zu werden.«

Sperber blickte ihn scharf an.

»Schon gut, schon gut! Regt Euch nicht auf. Ich werde mit Danae und ihrer Katze spielen.«

Sperber blickte dem Jungen nach, als er zu der Gruppe unter dem Baldachin zurückkehrte, die sich lautstark unterhielt. Es war offenbar höchste Zeit, in Talens Beisein ein wenig vorsichtiger zu sein. Der Junge war intelligent und besaß eine schnelle Auffassungsgabe, und ein achtloses Wort könnte ihm Dinge verraten, die geheim bleiben sollten.

Das Gespräch hatte Sperber jedoch ins Grübeln gebracht. Er kehrte zu den Männern auf der Kuppe zurück und nahm Berit zur Seite. »Teilt den Rittern folgendes mit: Falls diese Leute da draußen beschließen sollten, mit ihrem Angriff bis nach Anbruch der Dunkelheit zu warten, werde ich dafür sorgen, daß wir genügend Licht haben. Wenn wir es alle gleichzeitig tun, könnte es ein wildes Durcheinander geben.«

Berit nickte.

Sperber überlegte. »Und ich werde mit Kring und Engessa reden«, fügte er hinzu. »Daß mir die Ataner und Peloi bloß nicht in Panik geraten, wenn der Himmel gegen Mitternacht plötzlich hell wird.«

»Das habt Ihr vor?« fragte Berit.

»In Fällen wie diesem erweist es sich für gewöhnlich als die beste Methode. Ein großes Licht läßt sich leichter beherrschen als ein paar hundert kleine – und es bringt den Gegner viel mehr aus der Fassung.«

Berit grinste. »Ich kann mir vorstellen, daß es ein ziemlicher Schock ist, wenn man im Dunkeln durch die Büsche schleicht und plötzlich in der Sonne steht.«

»Schon viele Schlachten wurden dadurch vermieden, daß die Nacht zum Tag wurde, Berit. Und eine Schlacht, die man vermeiden kann, ist manchmal besser als eine, bei der man siegt.«

»Das werde ich mir merken, Sperber.«

Der Nachmittag zog sich dahin. Die Feier auf der Anhöhe nahm allmählich ziemlich gequälte Formen an. Die Beteiligten waren an einem Punkt angelangt, da ihnen vor Lachen das Lachen verging. Die Krieger um den Fuß des Hügels beschäftigten sich entweder mit ihrer Ausrüstung oder taten, als schliefen sie.

Am Spätnachmittag traf Sperber sich nahe der Straße mit seinen Gefährten.

»Wenn sie immer noch nicht bemerkt haben, daß wir heute nicht weiterziehen, muß man langsam an ihrem Verstand zweifeln«, brummte Kalten.

»Ja, es sieht doch wirklich so aus, als hätten wir uns hier häuslich niedergelassen«, bestätigte Ulath.

»Darf ich einen Vorschlag machen, Sperber?« fragte Tynian.

»Warum fragst du das immer?«

»Gewohnheit vermutlich. Man hat mich gelehrt, zur Obrigkeit höflich zu sein. Nun – selbst der beste Zauber wird uns nicht soviel Licht spenden, wie wir's jetzt haben, ehe die Sonne untergeht. Wir wissen, daß die anderen da draußen sind. Wir sind in Stellung und ausgeruht. Warum beschleunigen wir das Ganze nicht ein bißchen? Wenn wir sie dazu bringen können, jetzt anzugreifen, können wir bei Tageslicht kämpfen.«

»Wie wollt Ihr jemanden dazu bringen, anzugreifen, wenn er es nicht will?« fragte Emban.

»Wir beginnen mit unmißverständlichen Vorbereitungen, Eminenz«, erklärte Tynian. »Es ist ohnehin logisch, jetzt mit den Befestigungsarbeiten anzufangen. Richten wir die Palisade rund um den Fuß des Hügels auf und beginnen damit, Gräben auszuheben.«

»Und Bäume zu fällen«, flocht Ulath ein. »Wir könnten eine Lichtung freiräumen und mit den Stämmen einige strategische Punkte im Wald versperren. Damit zwingen wir den Gegner, auf offenem Gelände anzugreifen.«

Sie schafften es in erstaunlich kurzer Zeit. Die Pfähle für die Palisade waren bereits zugespitzt und griffbereit aufgestapelt. Sie in den Boden zu rammen, war einfach. Die Birken, deren Stämme kaum dicker als zehn Zoll waren, fielen rasch unter den Äxten der Krieger und konnten ohne größere Schwierigkeiten in den Wald ringsum gezogen und so übereinander geworfen werden, daß Hindernisse entstanden, die selbst für Fußsoldaten schier unüberwindlich waren.

Sperber und seine Getreuen kehrten zur Hügelkuppe zurück, wo sie die Vorbereitungen überblicken konnten. »Warum greifen sie jetzt nicht an, ehe wir fertig sind?« fragte Emban die Ritter nervös.

»Weil sich ein Angriff nicht so schnell organisieren läßt, Eminenz«, erklärte Bevier. »Zuvor müssen die Kundschafter zurück, um ihren Generälen zu melden, was wir tun; dann kommen die Generäle durch den Wald nach vorn, um sich zu vergewissern, und danach setzen sie eine Besprechung an, bei der sie sich über den nächsten Schritt einig werden müssen. Sie hatten einen Hinterhalt geplant und sind nicht darauf vorbereitet, befestigte Stellungen anzugreifen. Sie werden die meiste Zeit darauf verwenden müssen, sich auf die taktisch neue Situation einzustellen.«

»Wie lange werden sie brauchen?«

»Das hängt ganz davon ab, was für ein Mann ihr Befehlshaber ist. Wenn er ganz und gar auf einen Hinterhalt eingestellt war, brauchen sie vielleicht eine volle Woche.«

»Bis dahin ist er tot, Bevier-Ritter«, versicherte Engessa dem Cyriniker. »Gleich als wir die Krieger im Wald entdeckt hatten, habe ich ein Dutzend meiner Leute zur Garnison in Sarsos entsandt. Falls unser Gegner länger als zwei Tage benötigt, um eine Entscheidung zu fällen, hat er fünftausend Ataner am Hals.«

»Sehr umsichtig, Atan Engessa«, lobte Tynian. Nachdenklich blickte er Sperber an. »Solange unsere Freunde da draußen von Unentschlossenheit gelähmt sind, können wir unsere Befestigungsanlagen rund um den Hügel ausweiten – Gräben, zugespitzte Pflöcke, die üblichen Hindernisse. Jede Verbesserung, die wir vornehmen, wird den Gegner nur noch mehr ins Grübeln bringen. Das wiederum bringt uns zusätzliche Zeit für weitere Befestigungen, die ihm noch mehr zu denken geben werden. Wenn wir den Gegner dazu bringen können, zwei Tage lang zu überlegen, überraschen ihn die Ataner aus Sarsos von hinten und reiben ihn auf, bevor er dazu kommt, sich gegen uns zu wenden.«

»Das hat viel für sich.« Sperber nickte. »Machen wir uns an die Arbeit.«

»Ich dachte immer, ein Soldatenleben bestünde aus nichts anderem, als mit Äxten und Schwertern auf Feinde einzuhauen«, sagte Emban.

Ulath lächelte. »Auch das muß ein Soldat in reichem Maße, Eminenz. Aber es schadet nie, wenn man dem Feind auch mit List und Tücke zu Leibe rückt.« Er blickte Bevier an. »Maschinen?«

Bevier runzelte die Stirn. Aus irgendeinem Grund überraschten ihn Ulaths rätselhafte Fragen immer wieder.

»Wenn wir genug Zeit haben, können wir auf der Kuppe ein paar Katapulte errichten. Es bringt die Reihen des Feindes durcheinander, wenn beim Angriff Felsbrocken auf ihn herabhageln, und von einem fünfzigpfündigen Stein auf den Kopf getroffen zu werden, lähmt die Konzentration. Wenn wir uns auf eine Belagerung einrichten, sollten wir keine halben Sachen machen.« Er ließ den Blick über die Gefährten schweifen. »Aber trotzdem hasse ich Belagerungen!«

Die Krieger machten sich an die Arbeit, und die Damen und jungen Männer unter dem Baldachin setzten ihre Feier fort, auch wenn ihrer Heiterkeit mehr und mehr die Inspiration fehlte.

Sperber und Kalten verstärkten die Brustwehr auf der Kuppe. Da die Königin und ihre Tochter sich innerhalb dieser Befestigung aufhalten würden, war sie dem Prinzgemahl besonders wichtig.

Die Unterhaltung unter dem Baldachin kam nun immer öfter ins Stocken, und Stragen sah sich noch häufiger genötigt, die Pausen mit seiner Laute zu füllen.

»Er wird sich die Finger wund klimpern«, brummte Kalten und fügte einen weiteren Felsbrocken in die Brustwehr.

»Stragen genießt die Aufmerksamkeit.« Sperber zuckte die Schultern. »Solange noch jemand da ist, der ihm zuhört, wird er spielen, selbst wenn ihm das Blut unter den Nägeln hervorrinnt.«

Die Laute nahm eine uralte Melodie auf, und Stragen begann wieder zu singen. Sperber war nicht sehr musikalisch, doch er mußte zugeben, daß der thalesische Diebeskönig eine schöne Stimme hatte.

Und dann fiel Baroneß Melidere ein. Ihre Stimme war ein herrlicher Alt, der wundervoll mit Stragens Bariton harmonierte. Sperber lächelte insgeheim. Die Baroneß setzte ihren Eroberungsfeldzug fort. Seit Aphrael Sperber auf die Absicht des blonden Mädchens aufmerksam gemacht hatte, fielen ihm Dutzende geschickter kleiner Tricks auf, deren Melidere sich bediente, um sich der Aufmerksamkeit ihres Opfers zu versichern. Fast tat Stragen ihm leid, doch er mußte zugeben, daß Melidere die Richtige für ihn sein würde. Das Duett erntete stürmischen Beifall. Als Sperber zum Baldachin blickte, sah er, wie Melidere eine Hand beinahe liebkosend auf Stragens Handgelenk legte. Sperber wußte, welche Wirkung diese scheinbar unbeabsichtigten Berührungen haben konnten. Lillias hatte es ihm einmal erklärt, und sie war bestimmt die meisterlichste Verführerin der Welt gewesen – was vermutlich die halbe männliche Bevölkerung von Jiroch hätte beschwören können.

Dann begann Stragen ein weiteres altes Lied, und diesmal fiel eine andere Stimme ein. Kalten ließ den Stein fallen, den er soeben hochgehoben hatte, und obwohl dieser schmerzhaft auf seinem Fuß landete, verzog er keine Miene. Die Stimme war die eines Engels, hoch, süß, und klar wie Kristall. Mühelos stieg sie zu den höchsten Soprantönen empor, weich und schmelzend und frei von den verspielten Variationen der Koloratur. Die Stimme klang so natürlich wie Vogelgesang.

Sie gehörte Ehlanas Kammermaid Alean. Das rehäugige Mädchen, das für gewöhnlich so still war und sich stets im Hintergrund hielt, stand jetzt in der Mitte der baldachinüberdeckten Mulde, und ihr Gesicht leuchtete, während sie sang.

Sperber hörte, wie Kalten die Nase hochzog und sah erstaunt, daß Tränen über das Gesicht seines Freundes liefen.

Möglicherweise hatte das Gespräch, das Sperber vor kurzem mit der Kindgöttin geführt hatte, seine intuitiven Fähigkeiten wachgerüttelt. Er wußte plötzlich, ohne genau sagen zu können, wie er es wußte, daß zwei Eroberungsfeldzüge im Gange waren –, und außerdem, daß der von Baroneß Melidere der offenkundigere war. Hastig verbarg er sein Lächeln hinter einer Hand.

»Was hat dieses Mädchen für eine schöne Stimme!« sagte Kalten voll tiefer Bewunderung, als Alean ihr Lied beendete. »Verflixt!« Erst jetzt bückte er sich und besah sich den bereits seit fünf Minuten schmerzenden Fuß.

Die Arbeit wurde bis Sonnenuntergang fortgesetzt, dann zogen die vereinten Streitkräfte sich hinter die verstärkte Palisade zurück und warteten. Bevier und seine cyrinischen Ritter begaben sich zur Hügelkuppe, wo sie ihre Katapulte fertigstellen. Dann vertrieben sie sich die Zeit damit, scheinbar aufs Geratewohl Felsbrocken in den Wald zu schleudern.

»Worauf schießen sie, Sperber?« erkundigte Ehlana sich nach dem Abendessen.

»Auf die Bäume.« Er zuckte die Schultern.

»Aber die Bäume haben nichts gegen uns.«

»Nein, aber wahrscheinlich verstecken sich Leute im Wald. Die vom Himmel fallenden Felsbrocken werden ihnen den Spaß ein wenig verderben.« Er grinste. »Beviers Männer stellen nur die Reichweite ihrer Wurfmaschinen fest, Liebes. Falls unsere Freunde im Wald beschließen, über die offenen Schneisen anzugreifen, sind wir auf sie vorbereitet. Bevier möchte genau wissen, wann und wie er seine Werfer einsetzen kann.«

»Als Soldat muß man viel mehr können, als nur seine Ausrüstung in Ordnung zu halten, nicht wahr?«

»Ich freue mich, daß du das zu würdigen weißt, meine Königin.«

»Wollen wir jetzt zu Bett gehen?«

»Tut mir leid, Ehlana«, sagte Sperber bedauernd, »aber ich werde heute nacht nicht schlafen. Falls unsere Freunde da draußen sich zum Angriff entschließen, muß ich mich um sehr viele Dinge kümmern, die keinen Aufschub dulden.« Er blickte sich um. »Wo ist Danae?«

»Sie schaut mit Talen zu, wie Beviers Männer die Steine schleudern.«

»Ich hole sie. Du wirst sie heute nacht bestimmt bei dir haben wollen.« Er durchquerte die Mulde, bis er zu Bevier gelangte, der seinen Rittern Anweisungen gab. »Zeit zum Schlafen«, sagte Sperber zu seiner Tochter und hob sie auf die Arme.

Sie verzog schmollend das Mündchen, erhob jedoch keine Einwände. Als Sperber mit ihr die Hälfte der Strecke bis zum Zelt seiner Gemahlin zurückgelegt hatte, ging er etwas langsamer. »Wie sehr bestehst du auf Formalitäten, Aphrael?« fragte er.

»Ein paar Kniefälle wären schon angebracht, Vater«, antwortete sie. »Aber ich komme auch ohne aus – in einem Notfall.«

»Gut. Falls es heute nacht zum Angriff kommt, werden wir ein wenig Licht brauchen, um den Feind sehen zu können.«

»Wieviel Licht?«

»Taghell wäre es mir am liebsten.«

»Das kann ich nicht, Sperber. Du hast ja keine Ahnung, in welche Schwierigkeiten ich mich brächte, wenn ich die Sonne zum falschen Zeitpunkt aufgehen ließe.«

»Das habe ich auch gar nicht gemeint. Ich möchte nur soviel Licht, daß der Feind sich nicht im Dunkeln anschleichen kann. Zu dem Zauber gehört ein ziemlich langer Spruch mit allerlei Zeremoniell und vielen wichtigen Kleinigkeiten. Ich bin ein wenig in Zeitdruck, darum wollte ich wissen, ob du sehr gekränkt wärst, wenn ich dich lediglich um Licht bitte und sämtliche Einzelheiten dir überlasse?«

»Das ist äußerst ungehörig, Sperber!« rügte sie ihn.

»Ich weiß. Aber vielleicht könntest du dieses eine Mal eine Ausnahme machen?«

»Na ja, vermutlich. Aber laß es nicht zur Gewohnheit werden. Ich habe schließlich einen Ruf zu wahren!«

»Ich liebe dich!« Er lachte.

»Oh, wenn das der Fall ist, geht es natürlich in Ordnung. Für Menschen, die uns wirklich lieben, können wir alle möglichen Regeln beugen. Wenn du also Licht brauchst, Sperber, werde ich dafür sorgen, daß du soviel wie möglich bekommst.«

Der Angriff erfolgte kurz vor Mitternacht und begann mit einem Pfeilhagel aus der Dunkelheit, dem ein Sturm auf die atanischen Vorposten folgte. Letzteres erwies sich als katastrophaler taktischer Fehler. Die Ataner waren die besten Fußsoldaten der Welt und im Nahkampf unbesiegbar.

Von seinem Beobachtungsposten auf der Kuppe konnte Sperber die Angreifer nicht deutlich erkennen, doch er bezähmte seine Neugier eisern und wartete mit der Beleuchtung des Schlachtfelds, bis ein größerer Teil der feindlichen Truppen vorrücken würde.

Wie erwartet, waren die Angriffe Ablenkungsmanöver; denn die Hauptmasse des Gegners versuchte derweil, die Barrieren aus Birkenstämmen zu überwinden, die zwischen sämtlichen breiten Schneisen von Ritter Ulath errichtet worden waren. Wie sich herausstellte, hatten Beviers Cyriniker nicht bloß zum Spaß Steine in den Wald katapultiert. Sie hatten sich auf die Barrikaden eingeschossen und schleuderten nun Körbe voll faustgroßer Steine so in die Luft, daß sie auf die Feinde herabhagelten, welche die Hindernisse beseitigen oder die schmalen Lücken vergrößern wollten, die man absichtlich freigelassen hatte, damit die Peloi hinausreiten und sich ein wenig vergnügen konnten. Ein zweipfündiger Stein, der vom Himmel fällt, kann einen Menschen nicht zerschmettern, ihm jedoch einige Knochen brechen. Jedenfalls zogen die Räumtrupps sich nach etwa zehn Minuten zurück.

»Ich muß gestehen, Sperber-Ritter«, sagte Engessa beeindruckt, »daß ich Eure aufwendigen Vorbereitungen für ein wenig lächerlich hielt. Ataner kämpfen nicht so. Doch Euer Vorgehen hat gewisse Vorteile.«

»Wir stammen aus verschiedenen Kulturen, Atan Engessa. Euer Volk lebt und kämpft in der Wildnis, wo der Feind sich einzeln oder in kleinen Trupps vorwagt. Bei uns ist die Wildnis gezähmt; deshalb stoßen unsere Feinde in sehr großer Zahl vor. Wir bauen Festungen, in denen wir leben, und im Lauf der Jahrhunderte haben wir viele Methoden zur Verteidigung dieser Festungen entwickelt.«

»Wann werdet Ihr das Licht rufen?«

»Wenn es für unseren Feind am ungelegensten kommt. Ich möchte, daß er einen möglichst großen Teil seiner Streitmacht eingesetzt hat, ehe ich die Dunkelheit beende. Das wird den Gegner überraschen, und es dauert geraume Zeit, bis die kämpfenden Einheiten neue Befehle bekommen. Wir müßten in der Lage sein, einen beachtlichen Teil seiner Streitkräfte zu schlagen, ehe er sie zurückziehen kann. Eine defensive Kriegsführung hat gewisse Vorteile, wenn man die richtigen Vorbereitungen getroffen hat.«

»Ulath-Ritter gefallen sie nicht.«

»Ulath fehlt die nötige Geduld. Bevier ist der Fachmann für Verteidigung. Er wäre durchaus bereit, notfalls zehn Jahre zu warten, wenn er seinen Gegner auf diese Weise dahin kriegt, wo er ihn haben will.«

»Was wird der Feind als nächstes tun? Wir Ataner sind nicht an Kampfpausen gewöhnt.«

»Er wird sich zurückziehen und mit Pfeilen auf uns schießen, während er sich eine neue Taktik zurechtlegt. Dann wird er vermutlich einen Direktangriff in einer dieser Schneisen versuchen.«

»Warum nur in einer? Warum wird er nicht aus allen Richtungen gleichzeitig angreifen?«

»Weil er noch nicht weiß, was ihn erwartet. Er muß sich erst ein Bild von der Lage machen. Er wird es nach und nach herausfinden, doch diese Erfahrung wird ihn teuer zu stehen kommen. Nachdem wir etwa die Hälfte seiner Soldaten getötet haben, wird er entweder aufgeben und sich ganz zurückziehen oder alles, was er hat, von allen Seiten gleichzeitig gegen uns werfen.«

»Und dann?«

»Dann reiben wir den Rest seiner Streitkräfte auf und machen uns wieder auf den Weg.« Sperber zuckte die Schultern. »Vorausgesetzt natürlich, daß alles so verläuft, wie wir es geplant haben.«

Aus einer Entfernung von zweihundert Schritten und nur bei Sternenlicht waren die Gestalten kaum mehr als Schatten. Sie marschierten hinaus in die Mitte einer von Ulaths Schneisen und hielten an, während weitere Männer zwischen den Bäumen hervortraten und sich den Wartenden anschlossen, um eine geschlossene Formation zu bilden.

»Ich kann es nicht glauben!« rief Kalten und starrte zu den schattenhaften Soldaten am Ende der Schneise.

»Gibt es ein Problem, Ritter Kalten?« erkundigte sich Emban mit beinahe schriller Stimme.

»Im Gegenteil, Eminenz«, versicherte Kalten ihm zufrieden. »Ich hatte nur nicht damit gerechnet, daß wir es bei unseren Gegnern mit Idioten zu tun haben.« Er drehte leicht den Kopf. »Bevier!« rief er. »Er formiert seine Truppen auf der Straße, um sie heranmarschieren zu lassen!«

»Das kann doch nicht dein Ernst sein!«

»Mögen mir alle Zehennägel ausfallen, wenn es nicht so ist!«

Bevier brüllte einige Befehle, worauf seine Ritter die Katapulte herumschwenkten, um sie auf die im Dunklen liegende Schneise zu richten, die zur Straße hin verlief.

»Laßt uns wissen, wann, Sperber«, rief der junge Cyriniker.

»Wir steigen jetzt hinunter«, rief Sperber zurück. »Du kannst anfangen, sobald wir unten sind. Wir werden eine Zeitlang warten, damit du sie mit Steinen eindecken kannst; dann stürmen wir los. Wir wären dir sehr dankbar, wenn du den Beschuß dann einstellst.«

Bevier grinste.

»Kümmere dich um meine Gemahlin, während ich fort bin.«

»Selbstverständlich.«

Sperber und die anderen Krieger machten sich daran, den Hügel hinunterzusteigen. »Ich werde meine Männer in zwei Gruppen aufteilen, Freund Sperber«, erklärte Kring. »Wir schlagen beidseitig einen Bogen um die Feinde. Auf diese Weise erreichen wir die Straße etwa eine halbe Meile hinter ihnen zu beiden Seiten. Dort warten wir auf Euer Signal.«

»Tötet nicht alle«, mahnte Engessa. »Meine Ataner werden sehr übellaunig, wenn es Kampf gibt und sie nicht teilnehmen dürfen.«

Sie erreichten den Fuß der Erhebung, und Beviers Katapulte nahmen den Beschuß auf. Diesmal schleuderten sie große Felsbrocken. Poltern und Krachen aus Richtung der Straße ließ erkennen, daß die cyrinischen Ritter die richtige Zielentfernung gefunden hatten.

»Viel Glück, Sperber«, wünschte ihm Kring und verschwand in der Dunkelheit.

»Seid vorsichtig, meine Herren Ritter«, warnte Khalad. »Die Baumstümpfe da draußen können sich in der Dunkelheit als gefährlich erweisen.«

»Wir werden nicht im Dunkeln angreifen, Khalad«, versicherte Sperber ihm. »Ich habe ein paar Vorbereitungen getroffen.«

Engessa schlich durch eine Öffnung in der Palisade, um sich seinen Kriegern im Wald anzuschließen.

»Bilde ich es mir nur ein, oder habt ihr auch das Gefühl, daß wir es mit jemandem zu tun haben, der nicht besonders aufgeweckt ist?« fragte Tynian. »Er scheint keine Ahnung von moderner Kriegführung und moderner Technik zu haben.«

»Ich glaube, das Wort, das dir auf der Zunge liegt, ist ›dumm‹, Tynian.« Kalten grinste.

»Nein, eigentlich nicht.« Tynian runzelte die Stirn. »Es war zu dunkel, als daß ich von der Kuppe viel hätte sehen können, aber es hatte den Anschein, als würde der Feind seine Truppen zu einer Phalanx formieren. Das hat im Westen seit über tausend Jahren niemand mehr getan.«

»Das wäre gegen berittene Krieger auch nicht sehr wirkungsvoll, nicht wahr?« fragte Kalten.

»Es kommt darauf an, wie lang die Speere und wie groß die überlappenden Schilde sind. Eine Phalanx könnte uns durchaus zu schaffen machen.«

»Berit«, sagte Sperber, »lauf hinauf zur Kuppe und bitte Bevier, seine Katapulte ein wenig zu drehen. Er soll die feindliche Formation zertrümmern.«

»Wird gemacht.« Der junge Ritter wandte sich um und kletterte den Hang wieder hinauf.

»Wenn der Feind tatsächlich eine Phalanx formiert hat«, fuhr Tynian fort, »bedeutet es, daß er noch nie berittene Truppen als Gegner hatte und offenes Gelände gewohnt ist.«

Beviers Katapulte begannen Felsbrocken auf die schattenhafte Formation am Ende des geräumten Zugangs zu schleudern.

»Es ist soweit«, entschied Sperber. »Ich wollte zwar noch ein wenig warten, aber laßt uns endlich feststellen, womit wir es zu tun haben.« Er schwang sich auf Farans Rücken und führte die Ritter in eine Stellung außerhalb der Palisade. Dann holte er tief Atem. Jetzt könnten wir ein wenig Licht gebrauchen, Göttin! Er sandte den Gedanken aus, ohne sich die Mühe zu machen, ihn auf styrisch zu formulieren.

Das ist wirklich unziemlich, Sperber! Aphraels Stimme klang ungehalten. Du weißt, daß ich Gebete auf elenisch nicht erhören sollte.

Du beherrschst beide Sprachen. Was macht es da für einen Unterschied?

Es ist eine Frage der der Schicklichkeit, Sperber!

Ich werde mich bemühen, es beim nächsten Mal besser zu machen.

Darüber wäre ich sehr froh! Paß auf, was hältst du davon?

Es begann als eine Art pulsierendes, lavendelfarbiges Glühen am nördlichen Horizont. Dann glitten Schleier vielfarbigen Lichts den Himmel empor und füllten schimmernd und wogend wie ein riesiger Vorhang das nächtliche Firmament.

»Was ist das?« rief Khalad.

»Das Nordlicht«, brummte Ulath. »So weit im Süden habe ich es noch nie gesehen. Ich bin beeindruckt, Sperber.«

Der schimmernde Vorhang aus Licht schwebte wie etwas Lebendes in der Dunkelheit, er löschte die Sterne aus und erfüllte die Nacht mit regenbogenfarbenem Leuchten.

Ein hörbares Stöhnen der Bestürzung und Ehrfurcht drang von der versammelten Heerschar nahe der Straße zu den Rittern empor. Sperber spähte angespannt in die mit Baumstümpfen übersäte Schneise. Die Angreifer trugen altertümliche Rüstungen – Brustharnische, Helme mit Roßhaarbüscheln, große Rundschilde, Kurzschwerter und zwölf Fuß lange Speere. Die vorderen Reihen waren offenbar eine dichte Formation mit überlappenden Schilden und vorgereckten Speeren gewesen. Beviers Katapulte hatten jedoch Lücken gerissen, und immer noch schmetterten Felsbrocken auf die Männer nieder, die so dicht standen, daß sie nicht zu fliehen vermochten.

Sperber beobachtete sie eine Zeitlang grimmig. »Also gut, Ulath«, sagte er schließlich, »sing ihnen das Ogerlied.«

Ulath grinste. Er hob sein gewundenes Ogerhorn an die Lippen und schmetterte einen tiefen Ton.

Die dicht gedrängten Fußtruppen, halb in Panik durch das erschreckende Leuchten am Himmel und demoralisiert durch den Beschuß, waren in keinster Weise auf den furchterregenden Ansturm stählerner Ritter und deren Streitrosse vorbereitet. Ein gewaltiges Krachen war zu hören, und die vorderen Reihen der Fußsoldaten gingen unter den Hufen der Pferde zu Boden. Die Ritter steckten ihre Lanzen zurück, zogen ihre Schwerter und Äxte und machten sich daran, die Reihen des feindlichen Fußvolks kräftig zu lichten.

»Ulath!« brüllte Sperber. »Setz die Peloi ein!«

Ritter Ulath hob erneut sein Ogerhorn an die Lippen – und diesmal blies er zweimal.

Die Schlachtrufe der Peloi waren schrill und auf- und abschwellend. Sperber schaute rasch die Straße entlang. Die Krieger, auf die sich Krings Peloi stürzten, waren nicht die gleichen wie jene, welche die Ritter sich vorgenommen hatten. Sperber hatte einen Sturm gegen Fußsoldaten in Harnischen und Helmen mit Roßhaarbüscheln geführt. Kring dagegen griff Berittene an, Männer in wallenden Gewändern und um den Kopf gewickelten Stoffstreifen, bewaffnet mit Krummschwertern ähnlich den Säbeln der Peloi. Ganz offensichtlich stammte das feindliche Heer aus zwei verschiedenen Kulturen. Doch über diese Unterschiede konnten sie sich später Gedanken machen; im Augenblick waren sie alle viel zu sehr mit dem Kampf beschäftigt.

Sperber schmetterte sein schweres Breitschwert in gleichmäßigen Hieben auf roßhaarverzierte Helme. Nach mehreren Minuten verriet ihm der Lärm von der Straße her, daß die Peloi sich ins Getümmel gestürzt hatten. »Ulath!« brüllte Sperber. »Das Zeichen für die Ataner!«

Wieder schmetterte das Ogerhorn – einmal, zweimal, dreimal.

Kampflärm brach zwischen den Bäumen aus. Gegnerische Soldaten, die vor dem Ansturm der Ritter und dem Angriff der Peloi geflohen waren, fanden keine Zuflucht im Wald. Engessas Ataner bewegten sich lautlos und todbringend durch das unheimliche vielfarbige Licht, das vom pulsierenden Himmel herabstrahlte.

»Sperber!« brüllte Kalten. »Paß auf!«

Sperber riß den Kopf herum, und eine eisige Hand legte sich um sein Herz.

»Ich dachte, dieser Dämon wäre tot!« entfuhr es Kalten.

Die Gestalt in schwarzem Gewand mit Kapuze ritt auf einem hageren Gaul. Ein grünliches Schimmern ging von ihr aus, wie auch eine fast greifbare Woge unversöhnlichen Hasses. Sperber blickte die Gestalt eingehender an; dann stieß er erleichtert den Atem aus. »Es ist kein Sucher«, beruhigte er Kalten. »Es hat menschliche Hände. Aber wahrscheinlich ist es der, gegen den wir gekämpft haben.«

Da ritt ein weiterer Mann in Schwarz zwischen den Bäumen hervor. Er war effekthascherisch gekleidet; unter einem breitkrempigen schwarzen Hut hatte er sich einen schwarzen Beutel mit ungleichen Augenlöchern über den Kopf gezogen.

»Ist das ein schlechter Witz?« fragte Tynian heftig. »Ist der Kerl wirklich der, für den ich ihn halte?«

»Ich vermute, der im schwarzen Gewand ist der Anführer«, sagte Ulath. »Säbel könnte nicht einmal mit einer Herde Ziegen fertig werden.«

»Erfreue dich deines bedeutungslosen Sieges, Anakha«, rief der Schwarzvermummte mit hohler, eigenartig metallisch klingender Stimme. »Ich habe dich nur auf die Probe gestellt, um deine Stärken zu erfahren – und deine Schwächen. Zieh jetzt deines Weges. Ich weiß nun, was ich wissen mußte. Ich werde dich jetzt in Ruhe lassen – vorläufig. Aber täusche dich nicht, Mann ohne Bestimmung! Wir sehen uns wieder, und bei unserer nächsten Begegnung werde ich dich eingehender prüfen.« Dann verschwammen Säbel und sein vermummter Begleiter und verschwanden.

Das Ächzen, Stöhnen und Wimmern der verwundeten Feinde ringsum verstummte urplötzlich. Sperber schaute sich rasch um. Die Fußsoldaten in den altertümlichen Rüstungen, gegen die er und seine Freunde gekämpft hatten, waren ebenfalls verschwunden. Nur die Toten waren zurückgeblieben.

In beiden Richtungen entlang der Straße zügelten Krings Peloi verblüfft ihre Pferde. Die Feinde, gegen die sie gekämpft hatten, waren nicht mehr, und die überraschten Ausrufe unter den Bäumen deuteten darauf hin, daß auch die Ataner plötzlich keinem Feind mehr gegenüberstanden.

»Was geht hier vor?« fragte Kalten.

»Ich bin nicht ganz sicher«, antwortete Sperber, »aber es gefällt mir ganz und gar nicht.« Er saß ab und drehte einen der gefallenen Feinde mit dem Fuß auf den Rücken.

Der Tote war völlig ausgetrocknet, braun verfärbt und geschrumpft. Er sah aus wie die Leiche eines Menschen, der seit Jahrhunderten tot war.

»Das ist uns nicht zum erstenmal passiert, Eminenz«, erklärte Tynian dem Patriarchen Emban. Es war fast Morgen, und sie hatten sich wieder auf der Hügelkuppe versammelt. »Letztes Mal waren es Lamorker aus der Vergangenheit. Woher diese hier stammen, weiß ich nicht.« Er betrachtete die zwei mumifizierten Leichen, die von Atanern auf den Hügel gebracht worden waren.

»Der da ist ein Cynesganer.« Botschafter Oscagne deutete auf einen der Toten.

»Sieht fast wie ein Rendorer aus, nicht wahr?« bemerkte Talen.

»Es gibt gewisse Ähnlichkeiten«, bestätigte Oscagne. »Cynesga ist ein Wüstengebiet wie Rendor, und es gibt nicht sehr viele Arten von Kleidung, die für ein solches Klima geeignet sind.«

Der Tote trug ein weites Gewand und hatte einen langen Stoffstreifen um den Kopf gewickelt, der als Sonnenschutz bis über den Nacken hinunterhing.

»Sie sind keine guten Kämpfer«, berichtete Kring. »Sie gerieten in Panik, als wir sie angriffen.«

»Was ist mit dem anderen, Exzellenz?« erkundigte sich Tynian. »Die in Rüstung waren sehr gute Kämpfer.«

Der tamulische Botschafter wirkte beunruhigt. »Der ist irgend jemandes Phantasiegestalt«, antwortete er schließlich.

»Das kann ich mir nicht vorstellen, Exzellenz«, wandte Bevier ein. »Die Krieger, die uns in Eosien angriffen, waren aus der Vergangenheit geholt worden. Ich gebe zu, sie waren ziemlich exotisch, aber alle hatten einmal wirklich gelebt. Alles, was wir hier gesehen haben, deutet darauf hin, daß wir es mit dem gleichen Phänomen zu tun hatten. Dieser Kerl ist ganz bestimmt kein Phantasiekrieger. Er hat in früherer Zeit gelebt, und was er trägt, war seine übliche Kleidung.«

»Unmöglich!« widersprach Oscagne überzeugt.

»Nur um der Spekulation willen, Oscagne«, sagte Emban, »lassen wir jetzt das Wort ›unmöglich‹ für eine Weile außer acht. Wer, würdet Ihr sagen, könnte er gewesen sein?«

»Es ist eine sehr alte Sage«, antwortete Oscagne noch immer mit besorgtem Gesicht. »Es wird berichtet, daß vor sehr, sehr langer Zeit Cynesga von den sogenannten Cyrgai bewohnt gewesen sein soll. Die heutigen Cynesganer sind angeblich ihre degenerierten Nachkommen.«

»Sie sehen aus, als kämen sie aus zwei verschiedenen Teilen der Welt«, meinte Kalten.

»Cyrga, die Stadt der Cyrgai, befand sich angeblich im zentralen Hochland von Cynesga«, erklärte Oscagne. »Es liegt höher als die Wüste rundum, und der Sage nach hat es dort einen von Quellen gespeisten See gegeben. Das Klima im Hochland war ganz anders als in der Wüste. Die Cyrgai hätten demnach keinen Sonnenschutz gebraucht wie ihre entarteten Nachkommen. Ich könnte mir vorstellen, daß auch Rang und Status eine Rolle spielten. Wenn man den Charakter der Cyrgai bedenkt, hätten sie zweifellos nicht zugelassen, daß jemand Cyrgaikleidung trug, den sie nicht als ebenbürtig betrachteten.«

»Dann haben sie also zur selben Zeit gelebt?« fragte Tynian.

»Was das betrifft, sind die Legenden ziemlich unklar, Ritter Tynian. Offenbar gab es tatsächlich eine Zeitspanne, zu der sowohl Cyrgai wie Cynesganer lebten. Die Cyrgai waren zweifellos die Herren.« Er verzog das Gesicht. »Warum nehme ich plötzlich eine Legende so ernst?«

»Weil es eine ziemlich greifbare Legende ist.« Emban stupste den mumifizierten Cyrgai mit dem Fuß an. »Ich nehme an, daß diese Burschen einen besonderen Ruf hatten?«

»O ja«, antwortete Oscagne und schüttelte sich. »Sie hatten eine abscheuliche Kultur – grausam und kriegerisch. Sie hielten sich von anderen Völkern fern, um nicht von ihnen verseucht zu werden, wie sie es nannten. Angeblich waren sie von rassischer Reinheit besessen und haben jegliche neuen Ideen bekämpft.«

»Das ist eine sinnlose Art von Besessenheit«, bemerkte Tynian. »Bei jedem Handel mit Außenstehenden kommt man mit neuen Ideen in Berührung.«

»Der Sage nach waren sie sich dessen bewußt, Herr Ritter. Handel war verboten.«

»Überhaupt kein Handel?« fragte Kalten ungläubig.

»Gar keinen. Angeblich waren die Cyrgai völlig autark. In ihrer Gesellschaft war sogar der Besitz von Gold und Silber verboten.«

»Verrückt!« entfuhr es Stragen. »Hatten sie gar kein Geld?«

»Eisenbarren. Schwere Barren, vermute ich, um jedweden Handel zu unterbinden. Die Cyrgai lebten nur für den Krieg. Alle Männer waren in der Armee, und die Frauen waren allein dazu bestimmt, Kinder zu kriegen und großzuziehen. Wenn Cyrgai zu alt wurden, um zu kämpfen oder Kinder zu gebären, erwartete man von ihnen, daß sie sich selbst töteten. Der Sage nach waren sie die besten Krieger, welche die Welt gesehen hat.«

»Die Sage übertreibt, Oscagne«, versicherte Engessa ihm. »Ich selbst habe fünf von ihnen getötet. Sie haben zuviel Zeit damit verbracht, mit ihren Muskeln zu protzen und ihre Waffen zur Schau zu stellen, statt zu kämpfen.«

»Ihr Leben war sehr rituell, Atan Engessa«, murmelte Oscagne.

»Wer war der Vermummte?« fragte Kalten. »Ich meine den, der sich offenbar als Sucher ausgeben wollte?«

»Ich vermute, er nimmt eine ähnliche Stellung ein wie Gerrich in Lamorkand und Säbel in Westastel«, erklärte Sperber. »Ich war allerdings überrascht, Säbel hier zu sehen«, fügte er hinzu. Sperber mußte vorsichtig sein. Sowohl er wie Emban hatten geschworen, nichts über Säbels echte Identität verlauten zu lassen.

»Professionelle Höflichkeit wahrscheinlich«, murmelte Stragen. »Die Tatsache, daß Säbel hier war, bestätigt unsere Vermutung, daß all diese Rebellionen und Unruhen zusammenhängen. Jemand steckt hinter dem Ganzen – jemand, von dem wir noch nichts wissen. Aber eines Tages werden wir uns einen seiner Mittelsmänner schnappen und ihn ausquetschen.« Der blonde Diebeskönig von Emsat schaute sich um. »Und was jetzt?«

»Wie lange, sagtet Ihr, wird es dauern, bis die Ataner aus Sarsos eintreffen, Engessa?« fragte Sperber den hünenhaften Krieger.

»Übermorgen, Sperber-Ritter.« Der Ataner blickte nach Osten. »Nein, morgen«, verbesserte er sich, »es wird bereits Tag.«

»Dann werden wir unsere Verwundeten versorgen und auf die Verstärkung warten«, entschied Sperber. »In Zeiten wie dieser habe ich gern möglichst viele freundliche Gesichter um mich.«

»Eine Frage, Sperber-Ritter«, sagte Engessa. »Wer ist Anakha?«

»Sperber«, sagte Ulath zu dem Ataner. »Die Styriker nennen ihn so. Es bedeutet ›ohne Bestimmung‹.«

»Alle Menschen haben eine Bestimmung, Ulath-Ritter.«

»Außer Sperber, wie's aussieht. Und Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie nervös das die Götter macht.«

Wie Engessa vermutet hatte, trafen die Krieger aus der Garnison zu Sarsos gegen Mittag des nächsten Tages ein, und die gewaltig verstärkte Eskorte der Königin von Elenien zog weiter nach Osten. Zwei Tage später kamen sie über einen Hügel und blickten hinab auf eine marmorne Stadt in einer riesigen grünen Wiese, hinter der sich ein dunkler Wald bis zum Horizont erstreckte.

Seit dem frühen Morgen hatte Sperber die Nähe von jemand Vertrautem gespürt und war erwartungsvoll vorausgeritten.

Sephrenia saß auf ihrem Schimmelzelter neben der Straße. Sie war eine zierliche, schöne Frau mit schwarzem Haar, sehr heller Haut und tiefblauen Augen. Ihr weißes Gewand war aus feinerem Gewebe als dem groben Stoff, den sie für gewöhnlich in Eosien getragen hatte.

»Hallo, kleine Mutter«, sagte Sperber lächelnd und in einem Tonfall, als wäre seit ihrer letzten Begegnung höchstens eine Woche vergangen. »Ich hoffe, es ist Euch gut ergangen?« Er nahm seinen Helm ab.

»Einigermaßen, Sperber.« Ihre Stimme klang melodisch und vertraut.

»Gestattet Ihr, daß ich Euch begrüße?« fragte er auf die förmliche Weise aller Pandioner, die sich nach einer Trennung wiedersehen.

»Natürlich, Lieber.«

Sperber saß ab, nahm ihre Handgelenke und drehte ihre Hände um. Dann küßte er ihre Handflächen im rituellen styrischen Gruß. »Und würdet Ihr mich segnen, kleine Mutter?«

Voll Zuneigung legte Sephrenia die Hände an seine Schläfen und sprach ihren Segen auf styrisch. »Helft mir herunter, Sperber«, verlangte sie.

Er streckte die Arme hoch, legte die Hände um ihre schmale Taille und hob die zierliche Frau mühelos aus dem Sattel. Doch ehe er sie absetzte, schlang sie ihm die Arme um den Hals und küßte ihn auf die Lippen, was sie zuvor kaum einmal getan hatte. »Ihr habt mir gefehlt, Lieber«, hauchte sie. »Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie sehr Ihr mir gefehlt habt!«