10

»Es sind einfach zu viele Ähnlichkeiten, als daß es Zufall sein könnte«, sagte Sperber am nächsten Morgen, als sie unter einem tiefhängenden Himmel in nordöstlicher Richtung auf der Straße nach Darsas ritten. Er und seine Gefährten hatten sich um Ehlanas Karosse geschart, um über die Neuigkeiten zu diskutieren, die sie von Djukta erfahren hatten. Es war schwül, und nicht ein Lüftchen regte sich.

»Ich kann Euch schlecht widersprechen«, sagte Botschafter Oscagne. »Es ist ein bestimmtes Muster erkennbar, wenn in Lamorkand alles so ist, wie Ihr erzählt habt. Unser Reich ist gewiß nicht demokratisch, und ich kann mir vorstellen, daß es in Euren westlichen Königreichen nicht viel anders ist; aber so schlimme Diktatoren sind wir nun auch wieder nicht – keiner von uns. Ich glaube, wir sind lediglich zu Symbolen der gesellschaftlichen Ungerechtigkeit geworden, wie es sie in jeder Kultur gibt. Ich will damit nicht behaupten, daß das Volk uns nicht haßt. Jeder, egal wo auf der Welt, ist mit seiner Regierung unzufrieden – das soll keine Beleidigung sein, Majestät.« Er lächelte Ehlana an.

»Ich tue, was ich kann, damit mein Volk mich nicht zu sehr haßt, Exzellenz«, entgegnete sie. Ehlana trug einen Reiseumhang aus blaßblauem Samt, und Sperber fand, daß sie an diesem Vormittag besonders hübsch aussah.

»Niemand könnte eine Frau hassen, die so lieblich ist wie Ihr, Majestät«, versicherte Oscagne ihr lächelnd. »Tatsache ist jedoch, daß auf der ganzen Welt Unzufriedenheit brodelt, und daß es jemanden gibt, der all diesen Groll nutzt, um die Regierungen zu stürzen – hier in Tamuli und in den Königreichen von Eosien. Nicht zu vergessen die Häupter der eosischen Kirche. Jemand will so viel Unruhe wie möglich erregen. Aber ich glaube nicht, daß er soziale Gerechtigkeit auf seine Fahnen geschrieben hat.«

»Wir könnten die Situation viel besser verstehen, wenn wir wüßten, worauf dieser Jemand aus ist«, warf Emban ein.

»Auf den Zusammenbruch«, meinte Ulath. »Wenn alles gefestigt ist und Macht und Reichtum verteilt sind, bleibt nichts für jene Leute übrig, welche die Leiter emporklimmen. Die einzige Möglichkeit, etwas abzubekommen, besteht darin, die alte Ordnung niederzureißen und sich um alles neu zu raufen.«

»Das ist eine brutale politische Theorie, Ritter Ulath«, sagte Oscagne mißbilligend.

»Es ist eine brutale Welt, Exzellenz.« Ulath zuckte die Schultern.

»Ich muß widersprechen«, sagte Bevier heftig.

»Laß dich nicht davon abhalten, mein junger Freund.« Ulath lächelte. »Ich kann's durchaus ertragen, wenn andere nicht meiner Meinung sind.«

»Wahren politischen Fortschritt gibt es wirklich. Das Los der Bürger ist jetzt viel besser als vor fünfhundert Jahren.«

»Zugegeben, aber wie wird es im nächsten Jahr sein?« Ulath lehnte sich im Sattel zurück, und seine blauen Augen wirkten nachdenklich. »Größenwahnsinnige brauchen Anhänger. Und wenn man den Leuten verspricht, daß man alles verbessert, was auf der Welt zu wünschen übrigläßt, bekommt man rasch Gefolgschaft. Solche Versprechungen finden stets viel Beifall, doch nur Wickelkinder erwarten ernsthaft, daß solche falschen Propheten ihre Versprechungen tatsächlich halten.«

Je weiter der Vormittag voranschritt, desto dräuender wurde das Wetter. Eine dicke Decke schwarzer Wolken trieb vom Westen heran, und das erste Wetterleuchten zeichnete sich am Horizont ab. »Es wird wohl regnen, was meint Ihr?« fragte Tynian, an Khalad gewandt.

Khalad blickte scharf zur Wolkendecke empor. »Das dürfte unausbleiblich sein, Herr Ritter.«

»Wie lange dauert's noch, bis wir naß werden?«

»Etwa eine Stunde – es sei denn, der Wind nimmt zu.«

»Was meinst du, Sperber?« fragte Tynian. »Sollten wir Ausschau nach einem Unterschlupf halten?« Im Westen grollte ferner Donner.

»Ich glaube, da hast du die Antwort«, erwiderte Sperber. »Männer in Panzerrüstung sollten sich bei einem Gewitter nicht im Freien herumtreiben.«

»Ganz meine Meinung.« Tynian schaute sich um. »Die Frage ist nur, wo könnten wir uns unterstellen? Es gibt hier nicht einmal Bäume.«

»Vielleicht müssen wir die Zelte aufbauen.«

»Das ist nicht sehr erfreulich, Sperber.«

»Durch einen Blitz in der Rüstung geschmort zu werden, ist noch unerfreulicher.«

Kring kam zum Haupttrupp zurückgeritten, gefolgt von einer zweirädrigen Kutsche. Der Mann auf der Kutsche war blond, dicklich und machte einen verweichlichten Eindruck. Seine Kleidung war von einem Schnitt, der im Westen schon vor vierzig Jahren aus der Mode gekommen war. »Das ist der Landherr Kotyk«, sagte der Domi zu Sperber. »Er nennt sich selbst Baron. Er wollte Euch kennenlernen.«

»Ich bin überwältigt, die Recken der Kirche begrüßen zu dürfen, werte Herren Ritter«, stieß der Dicke hervor.

»Es ist uns eine Ehre, Eure Bekanntschaft zu machen, Baron Kotyk«, erwiderte Sperber und verneigte sich knapp.

»Mein Landhaus befindet sich ganz in der Nähe«, sprach Kotyk hastig weiter, »und es zieht ein Unwetter herauf. Dürfte ich euch meine Gastfreundschaft anbieten, so ärmlich sie auch sein mag?«

»Wie ich dir schon so oft versichert habe, Sperber«, sagte Bevier lächelnd, »braucht man nur auf Gott zu vertrauen. Er fügt es.«

Kotyk schaute verwirrt drein.

»Ritter Bevier hat einen ziemlich eigenartigen Humor, Euer Gnaden«, wandte Sperber sich an den Baron. »Meine Gefährten und ich sprachen soeben über die Notwendigkeit, sich ein Dach über dem Kopf zu beschaffen. Euer äußerst großzügiges Angebot löst dieses dringliche Problem für uns.« Sperber war mit den hiesigen Sitten nicht vertraut, doch des Barons Sprechweise deutete auf eine ziemlich steife Förmlichkeit hin.

»Wie ich sehe, werdet Ihr von Damen begleitet«, bemerkte Kotyk, der zu Ehlanas Karosse blickte. »Wir müssen vorrangig für ihre Bequemlichkeit sorgen. Wenn wir uns erst unter meinem Dach befinden, können wir uns näher bekannt machen.«

»Wir richten uns ganz nach Euch, Euer Gnaden«, erklärte Sperber sich einverstanden. »Und ich möchte Euch bitten, uns zu führen. Derweil werde ich den Damen von dieser glücklichen Fügung berichten.« Wenn Kotyk auf Förmlichkeit Wert legte, wollte Sperber ihm den Gefallen tun. Er lenkte Faran herum und ritt die Kolonne entlang zurück.

»Wer ist diese fette Qualle in der Kutsche, Sperber?« fragte Ehlana ihn.

»Sprich nicht so respektlos von unserem Gastgeber, Licht meines Lebens.«

»Ist dir nicht gut?«

»Diese fette Qualle hat uns soeben Unterschlupf vor dem heraufziehenden Gewitter angeboten. Laß ihn Dankbarkeit und Achtung spüren.«

»Was für ein netter Mann.«

»Es wäre vielleicht angeraten, deine wahre Identität vor ihm geheimzuhalten. Man kann ja nie wissen, was einen erwartet. Wie wär's, wenn ich dich als eine Adelige vorstelle und …«

»Als Markgräfin«, improvisierte sie. »Markgräfin Ehlana von Cardos.«

»Warum Cardos?«

»Es ist eine so hübsche Gegend. Herrliche Berge und eine schöne Küste, wunderbares Klima und fleißige, gesetzestreue Bürger.«

»Hast du vor, der fetten Qualle Cardos schmackhaft zu machen, Ehlana?«

»Ich muß alles über meine Grafschaft wissen, damit ich überzeugend davon schwärmen kann.«

Sperber seufzte. »Na gut, dann übe das Schwärmen, und laß dir passende Geschichten für die anderen einfallen.« Er blickte zu Emban. »Ist Eure Moral dehnbar genug, ein paar Lügen zu verkraften, Eminenz?« fragte er den Kirchenfürsten.

»Es kommt darauf an, um welche Art von Lügen es geht, Sperber.«

»Nicht um ernsthafte Lügen, Eminenz.« Sperber lächelte. »Wenn wir meine Gemahlin als Markgräfin ausgeben, werdet Ihr das ranghöchste Mitglied unserer Delegation sein. Schon die Anwesenheit von Botschafter Oscagne läßt auf einen hochrangigen Besuch schließen. Ich werde Euch Baron Kotyk als persönlichen Gesandten des Erzprälaten an den Kaiserhof vorstellen und die Rittereskorte der Königin als die Eure ausgeben.«

»Das kann ich durchaus mit meinem Gewissen vereinbaren«, versicherte Emban ihm grinsend. »Ich bin einverstanden. Aber lügen müßt Ihr – ich bestätigte es nur. Sagt, was immer erforderlich ist, und beeilt Euch. Das Gewitter kommt rasch näher.«

»Talen«, wandte Sperber sich an den Jungen, der neben der Karosse ritt. »Reite unauffällig die Kolonne ab und gib den Rittern Bescheid. Und nimm das Wort ›Majestät‹ nicht in den Mund. Es könnte unsere Tarnung aufdecken.«

»Euer Gemahl macht sich gar nicht so schlecht, Markgräfin Ehlana«, bemerkte Stragen. »Mit ein wenig Ausbildung könnte ein ausgezeichneter Schwindler aus ihm werden. Die Begabung hat er, nur an der Technik mangelt es noch ein wenig.«

Baron Kotyks Landhaus erwies sich als wahrer Palast inmitten einer Grünanlage. Am Fuß des Hügels, auf dem das prunkvolle Gebäude stand, breitete sich eine größere Ortschaft aus. Hinter dem Palast gab es mehrere Nebengebäude.

»Glücklicherweise, meine Herren Ritter, habe ich Räumlichkeiten genug, selbst für einen so großen Trupp wie dem Euren«, versicherte ihnen der Baron. »Die Unterkünfte für den Großteil Eurer Männer sind jedoch ziemlich schlicht, fürchte ich. Sie werden normalerweise nur von den Wanderarbeitern während der Ernte benutzt.«

»Wir sind Ordensritter, Baron Kotyk«, erwiderte Sperber, »und ein einfaches Leben gewöhnt.«

Kotyk seufzte. »Eine ähnliche Institution gibt es hier in Astel leider nicht«, sagte er bedauernd. »In unserem armen, rückständigen Land mangelt es an so vielem.« Sie näherten sich dem palastgleichen Haus auf einer langen weißen Kieseinfahrt, die zu beiden Seiten von hohen Ulmen gesäumt war, und hielten am Fuß einer breiten Freitreppe, die zu einer Bogentür führte. Der Baron stieg schwerfällig aus seiner Kutsche und reichte die Zügel einem bärtigen Leibeigenen, der aus dem Haus geeilt war. »Ich bitte euch, ihr Edelleute alle, verzichtet nunmehr auf Förmlichkeiten, und laßt uns eintreten, ehe das sich nähernde Unwetter seine Schleusen über uns öffnet«, sagte Kotyk bombastisch.

Sperber hatte keine Ahnung, ob die gestelzte Ausdrucksweise des Barons landesüblich oder eine persönliche Marotte war oder ob es sich lediglich um eine nervöse Reaktion auf die Wichtigkeit seiner Besucher handelte. Er winkte Kalten und Tynian zu sich. »Kümmert euch um die Unterbringung der Ritter und der Peloi«, sagte er leise. »Dann kommt ins Haus. Khalad, geh mit ihnen und sorge dafür, daß die Leibeigenen die Pferde nicht einfach im Regen stehenlassen.«

Die Eingangstür schwang weit auf, und drei Damen in altmodischen Gewändern traten heraus. Eine war groß und knochig, hatte eine Fülle dunklen Haars und war zweifellos in ihrer Jugend sehr schön gewesen. Doch die Jahre waren nicht sanft mit ihr umgesprungen. Ihr strenges, hochmütiges Gesicht war zerfurcht und sie litt unter einem nervösen Blinzeln. Die beiden anderen Frauen waren blond und schwammig; ihre Züge verrieten ihre Blutsverwandtschaft mit dem Baron. Den dreien folgte ein bleicher junger Mann, ganz in schwarzen Samt gekleidet. Ein höhnischer Ausdruck schien sich unauslöschlich auf seinem Gesicht eingeprägt zu haben. Sein dunkles Haar fiel in kunstvollen Locken den Rücken hinab.

Nach der knappsten Vorstellung, welche die Etikette erlaubte, führte Kotyk alle ins Haus. Die große dunkelhaarige Dame war Astansia, die Gemahlin des Barons. Die beiden blonden Damen waren, wie Sperber vermutet hatte, die Schwestern des Barons; die ältere hieß Ermude, die jüngere Katina. Der bleiche junge Mann war Elron, Baronin Astansias Bruder, ein Poet, wie sie den Gästen in schier anbetungsvollem Tonfall erklärte.

»Ob ich wohl Kopfschmerzen vortäuschen und mich zurückziehen kann?« flüsterte Ehlana Sperber zu, während sie dem Baron und seiner Familie durch einen langen Korridor zur Mitte des Hauses folgten. »Ich fürchte, es wird nervtötend werden.«

»Wenn ich es über mich ergehen lassen muß, mußt du es auch«, antwortete Sperber ebenso leise. »Wir brauchen des Barons Dach über dem Kopf, also müssen wir auch seine Gastlichkeit über uns ergehen lassen.«

Ehlana seufzte. »Sie wäre vielleicht erträglicher, wenn nicht das ganze Haus nach gekochtem Kohl stinken würde.«

Sie wurden in das »Wohngemach« geführt, das um weniges kleiner war als der Thronsaal in Cimmura. Es war ein muffig riechender Raum mit unbequemen Sesseln und Diwanen und häßlich senffarbenen Teppichen.

»Wir leben hier so furchtbar abgeschieden«, sagte Katina seufzend zu Baroneß Melidere, »und so schrecklich altmodisch. Mein armer Bruder tut sein Bestes, sich auf dem laufenden zu halten, was im Westen vor sich geht, doch unsere abgeschiedene Lage macht das Anwesen zum Gefängnis und hält Besucher fern. Ermude und ich haben immer wieder versucht, unseren Bruder zu überreden, sich ein Stadthaus zuzulegen, wo wir gesellschaftlichen Anschluß hätten, doch sie will nichts davon wissen. Seine Gemahlin brachte den Besitz mit in die Ehe, und sie ist so furchtbar provinzlerisch. Könnt Ihr Euch vorstellen, daß meine arme Schwester und ich gezwungen sind, unsere Gewänder von Leibeigenen schneidern zu lassen?«

Melidere hob in gespieltem Entsetzen die Hände an die Wangen. »Meine Güte!« rief sie.

Katina zog ein Spitzentüchlein hervor, als Tränen des Selbstmitleids über ihr Gesicht kullerten.

»Würde Eure Atanerin sich bei den Leibeigenen nicht wohler fühlen, Markgräfin?« sagte Baronin Astansia zu Ehlana, ohne ihre Abneigung gegenüber Mirtai zu verbergen.

»Das bezweifle ich, Baronin«, antwortete Ehlana. »Und selbst wenn, ich würde es nicht zulassen. Ich habe mächtige Feinde, Baronin, und mein Gemahl ist meist mit Staatsangelegenheiten beschäftigt. Die Königin von Elenien verläßt sich völlig auf ihn und bedarf häufig seiner Dienste. Deshalb muß ich selbst für meinen Schutz sorgen.«

Astansia rümpfte die Nase. »Ich gebe zu, daß Eure Atanerin beeindruckend ist, Markgräfin, aber trotzdem ist sie nur eine Frau.«

Ehlana lächelte. »Das haben wahrscheinlich auch die zehn Männer gedacht, die durch ihre Hand fielen.«

Die Baronin starrte sie entsetzt an.

»Oberflächlich betrachtet, mag der eosische Kontinent zivilisiert erscheinen, Baronin«, erklärte Stragen. »Aber im Grunde genommen sind wir noch immer Barbaren.«

»Es ist eine anstrengende Reise, Baron Kotyk«, sagte Patriarch Emban. »Aber der Erzprälat und der Kaiser stehen seit dem Zusammenbruch von Zemoch in Verbindung, und beide sind der Ansicht, daß es an der Zeit ist, diplomatische Vertreter auszutauschen. Ohne direkten Kontakt könnten Mißverständnisse entstehen, und die Welt dürfte wahrhaftig eine Zeitlang genug von Kriegen haben.«

»Eine kluge Entscheidung, Eminenz.« Kotyk war ganz offensichtlich überwältigt von der Anwesenheit so hochgestellter Persönlichkeiten in seinem Haus.

»Ich bin in der Hauptstadt nicht unbekannt, Ritter Bevier«, sagte Elron selbstgefällig. »In intellektuellen Kreisen sind meine Gedichte sehr geschätzt. Ungebildete verstehen sie natürlich nicht. Ich bin vor allem für mein Talent bekannt, Farben auszudrücken. Ich bin der festen Überzeugung, daß die Farbe die Seele der Welt ist. An meiner Ode an Blau arbeite ich bereits seit sechs Monaten.«

»Eine erstaunliche Ausdauer«, murmelte Bevier.

»Ich versuche, so gründlich wie nur möglich zu sein«, erklärte Elron. »Ich habe bereits zweihundertdreiundsechzig Strophen verfaßt, und ich fürchte, es ist noch kein Ende in Sicht.«

Bevier seufzte. »Als Ordensritter habe ich wenig Zeit für Literatur«, sagte er bedauernd. »Meines Berufs wegen muß ich mich auf militärische Texte und religiöse Werke konzentrieren. Ritter Sperber ist weltlicher als ich, und seine Beschreibungen von Menschen und Orten grenzen manchmal an Poesie.«

»Ach ja? Sie würden mich sehr interessieren«, heuchelte Elron, doch sein Gesicht verriet die Verachtung des namhaften Poeten ob der Bemühungen von Amateuren. »Befaßt er sich überhaupt mit Farbe?«

»Eher mit Licht, glaube ich«, antwortete Bevier, »aber das ist ja im Grunde genommen dasselbe, nicht wahr? Farbe kann ohne Licht nicht existieren. Ich erinnere mich, daß Sperber einmal eine Straße in Jiroch beschrieben hat. Diese Stadt liegt an der Küste von Rendor, auf welche die Sonne unerbittlich herabscheint. Ganz früh am Morgen, ehe die Sonne aufgeht und die Nacht schwindet, hat der Himmel die Farbe von geschmiedetem Stahl. Er wirft keine Schatten, und alles scheint in dieses ungebrochene Grau getaucht zu sein. In Jiroch sind sämtliche Häuser weiß getüncht, und die Frauen gehen noch vor Sonnenaufgang an die Brunnen, um die Tageshitze zu meiden. Sie tragen Gewänder mit Kapuzen und Schleier, ganz in Schwarz, und sie balancieren ihre Wasserkrüge auf den Schultern. Ohne daß man es diese Frauen lehren mußte, bewegen sie sich mit einer Anmut, wie sie selbst bei Tänzerinnen selten zu finden ist. Ihr stummer Zug zum Brunnen ist eine Augenweide und der Beginn jedes neuen Tages. Wie Schatten begrüßen sie den Morgen in einem Ritual, das so alt ist wie die Zeit. Habt Ihr je dieses eigenartige Licht vor dem Sonnenaufgang gesehen, Elron?«

»Ich stehe selten vor dem Mittag auf«, antwortete der junge Mann steif.

»Ihr solltet Euch einmal die Mühe machen, es Euch anzusehen«, legte Bevier ihm freundlich nahe. »Ein begnadeter Künstler wie Ihr ist für seine Kunst doch gewiß zu Opfern bereit.«

»Ihr entschuldigt mich?« sagte der junge Mann mit den dunklen Locken brüsk. Er verneigte sich knapp und ergriff die Flucht, wobei sein höhnischer Gesichtsausdruck einem tief gekränkten wich.

»Das war grausam, Bevier« rügte Sperber, »und du hast mir etwas angedichtet. Allerdings muß ich zugeben, daß du bewundernswert mit Worten umgehen kannst.«

»Es hat die gewünschte Wirkung erzielt, Sperber. Wenn dieser eingebildete Trottel sich noch länger so aufgespielt hätte, wäre es mit meiner Beherrschung aus gewesen. Über zweihundert Verse für eine Ode an die Farbe Blau! Was für ein Esel!«

»Wenn er dir das nächste Mal mit Blau auf die Nerven geht, dann beschreib ihm den Bhelliom.«

Bevier schauderte. »Ich bestimmt nicht, Sperber! Schon bei dem Gedanken wird mir übel!«

Sperber lachte und trat ans Fenster, um den Regen zu beobachten, der gegen die Scheibe peitschte.

Danae stellte sich neben ihn und griff nach seiner Hand. »Müssen wir wirklich hierbleiben, Vater? Diese Leute sind kaum zu ertragen!«

»Wir brauchen Schutz vor dem Unwetter, Danae.«

»Wenn das alles ist, worüber du dir Sorgen machst, kann ich es zu regnen aufhören lassen. Ich warne dich! Falls noch einmal eine dieser gräßlichen Frauen auf mich einplappert, als wäre ich ein Kleinkind, verwandle ich sie in eine Kröte!«

»Ich glaube, ich habe eine bessere Idee.« Sperber bückte sich und hob sie auf die Arme. »Tu so, als wärst du schläfrig!«

Danae erschlaffte sofort und ließ Arme und Beine wie bei einer Stoffpuppe hinunterbaumeln.

»Du übertreibst«, rügte Sperber sie. Er durchquerte den saalähnlichen Raum, legte Danae behutsam auf einen Diwan und deckte sie mit ihrem Reiseumhang zu. »Schnarch nicht«, warnte er sie. »Dazu bist du noch nicht alt genug.«

Sie blickte ihn unschuldsvoll an. »So was würde ich doch niemals tun, Sperber. Hol mir meine Katze.« Dann gefror ihr Lächeln. »Achte genau auf unseren Gastgeber und seine Familie, Vater. Ich möchte, daß du siehst, was für Leute sie wirklich sind.«

»Was führst du im Schilde?«

»Nichts. Aber du solltest deine Gastgeber genau kennenlernen.«

»Ich durchschaue sie schon.«

»Das stimmt nicht. Sie versuchen, höflich zu sein, deshalb zeigen sie sich im besten Licht. Aber du mußt die Wahrheit hören. Den Rest des Abends werden sie sagen, was sie wirklich denken und empfinden.«

»Mir wäre lieber, sie würden es bleibenlassen.«

»Man hält dich für einen tapferen Mann, Sperber, und diese gräßliche Familie ist typisch für den Landadel in Astel. Sobald du sie verstehst, wirst du erkennen, woran das Land krankt. Es könnte sich als nützlich erweisen.« Ihre Augen und ihr Gesicht wurden ernst. »Es gibt hier etwas, Sperber – etwas, worüber wir unbedingt Bescheid wissen müssen.«

»Was?«

»Ich bin mir nicht sicher. Paß gut auf, Vater. Jemand wird dir heute abend etwas Wichtiges erzählen. Und jetzt hol mir meine Katze.«

Das Abendessen, zu dem man sie einlud, war lieblos zubereitet, und die Tischgespräche waren kaum zu ertragen. Durch Danaes Zauber von Zurückhaltung und Vorsicht befreit, sagten der Baron und seine Familie Dinge, die sie normalerweise wohl für sich behalten hätten. Obendrein erhöhte die Wirkung des minderwertigen Weins, den sie in sich hineingossen wie Säufer in einer Schenke, ihr Selbstmitleid und ihre Eitelkeit.

»Ich bin nicht für diese barbarische Abgeschiedenheit geschaffen«, vertraute Katina der armen Melidere tränenvoll an. »Es kann nicht Gottes Wille sein, daß ich so im Verborgenen blühe, fern der Lichter und Fröhlichkeit der Hauptstadt. Vor der Vermählung meines Bruders mit dieser schrecklichen Frau wurden wir grausam getäuscht. Ihre Eltern machten uns weis, daß dieser Landsitz uns Reichtum und Ansehen bringen würde. In Wahrheit aber reichen die Einnahmen kaum für unser Auskommen und die Erhaltung dieser Elendshütte. Es besteht keine Hoffnung, daß wir uns je ein Haus in Darsas leisten können.« Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen. »Was soll aus mir werden?« jammerte sie. »Die Lichter, die Bälle, die Scharen von Verehrern, die von meiner Schönheit und meinem Charme betört vor meiner Tür schmachten.«

»Weine doch nicht, Katina«, wimmerte Ermude. »Wenn du weinst, muß ich auch weinen.« Die Schwestern sahen einander so ähnlich, daß Sperber Schwierigkeiten hatte, sie auseinanderzuhalten. Ihre drallen Körper schienen mehr aus Teig denn aus Fleisch zu bestehen. Sie hatten glattes Haar, das beinahe farblos wirkte und strähnig herabhing, und einen fahlen Teint. Weder die eine, noch die andere hielt es offenbar sonderlich mit der Reinlichkeit. »Ich bemühe mich so sehr, meine Schwester zu beschützen«, klagte Ermude der bedauernswerten Melidere ihr Leid, »aber diese furchtbare Abgeschiedenheit ist ihr Ruin. Es gibt hier keine Kultiviertheit. Wir hausen wie Tiere – wie Leibeigene. Alles ist so sinnlos, und das Leben sollte doch einen Sinn haben, nicht wahr? Doch welchen könnte es geben, so fern der Hauptstadt? Diese gräßliche Frau will unserem Bruder nicht gestatten, diese Elendshütte zu verkaufen, damit wir standesgemäß in Darsas leben könnten. Wir sind hier gefangen – gefangen, sage ich Euch! –, und wir werden bis ans Ende unserer Tage in dieser grauenvollen Abgeschiedenheit dahinvegetieren müssen.« Dann vergrub auch sie das Gesicht in den Händen und weinte.

Melidere seufzte und rollte die Augen himmelwärts.

»Ich habe Einfluß auf den Statthalter dieses Bezirks«, erzählte Baron Kotyk Emban mit bombastischem Eigendünkel. »Er verläßt sich ganz auf mein Urteil. Wir hatten große Schwierigkeiten mit den Einwohnern der Stadt – titellose Halunken allesamt, geflohene Leibeigene, auch wenn sie es zu verbergen suchen. Sie beschweren sich bitter über jede neue Steuer und versuchen, die Last auf uns abzuwälzen. Wir bezahlen bereits genug Steuern, das dürft Ihr mir glauben, aber sie fordern alle Leistungen! Was nutzen mir gepflasterte Straßen in der Stadt? Wichtig sind die Landstraßen. Das sage ich Seiner Exzellenz, dem Statthalter, immer wieder!«

Der Baron hatte schon sehr tief ins Glas geschaut. Seine Zunge war schwer, und sein Kopf schwankte auf dem Hals. »Alle Lasten in diesem Bezirk werden uns aufgebürdet.« Seine Augen füllten sich mit Selbstmitleid. »Ich muß für fünfhundert Leibeigene aufkommen, die kaum eine Hand rühren – sie sind so faul, daß nicht einmal Auspeitschen sie zum Arbeiten bewegen kann. Es ist alles so ungerecht! Ich bin ein Edelmann, aber das bedeutet heutzutage überhaupt nichts mehr.« Die Tränen rollten nun seine Wangen hinab, und seine Nase lief. »Niemand respektiert, daß Edelleute Gottes höchstes Geschenk an die Menschheit sind! Die Städter behandeln uns nicht besser als einfache Bürger. Wenn man unseren göttlichen Ursprung bedenkt, ist eine solche Respektlosigkeit die schlimmste Form der Häresie. Ich bin sicher, Ihr pflichtet mir bei, Eminenz.« Der Baron zog ungeniert die Nase hoch.

Patriarch Embans Vater war Schankwirt in Uzera gewesen, und Sperber war ziemlich sicher, daß der korpulente Kirchenmann dem Baron ganz gewiß nicht beipflichtete.

Ehlana war ganz von der Baronin mit Beschlag belegt worden, und die wachsende Verzweiflung stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.

»Das Anwesen gehört natürlich mir«, erklärte Astansia soeben mit kalter, hochmütiger Stimme. »Mein Vater war bereits senil, als er mich an diesen fetten Eber verheiratete.« Verächtlich fuhr sie fort: »Kotyk hatte seine Schweinsäuglein nur auf die Einnahmen aus meinem Besitz geworfen. Aber Vater war vom Adelstitel dieses Schwachsinnigen so beeindruckt, daß er ihn nicht durchschaute und nicht erkannt hat, daß der Herr Baron ein raffgieriger Trottel mit zwei häßlichen fetten Schwestern ist, die an seinen Rockzipfeln hängen.« Sie lächelte höhnisch; dann füllten die unvermeidlichen Tränen wieder ihre Augen. »Ich kann in dieser traurigen Lage nur Trost in der Religion finden, in der Kunst meines Bruders und in der Genugtuung, daß diese beiden Trutschen nie die Lichter von Darsas sehen werden. Dafür sorge ich! Sie werden in diesem Dreckstall dahinvegetieren – bis zu dem Moment, da mein Gemahl, dieses Mastschwein, sich zu Tode gefressen oder gesoffen hat. Und dann werfe ich sie hinaus, mit nicht mehr als dem, was sie am Leibe tragen!« In ihre harten Augen trat ein Leuchten. »Ich kann es kaum erwarten!« stieß sie hervor. »Dann hab' ich meine Rache, und ich und mein begnadeter Bruder werden hier in vollkommener Harmonie leben.«

Prinzessin Danae kletterte auf den Schoß ihres Vaters. »Reizende Leute, nicht wahr?« murmelte sie.

»Erfindest du das alles?« fragte er argwöhnisch.

»Nein, Vater, das kann ich nicht. Das kann keiner von uns. Menschen sind, was sie sind. Wir können sie nicht ändern.«

»Ich dachte, du kannst alles.«

»Es gibt Grenzen, Sperber.« Ihre dunklen Augen wurden hart. »Aber etwas werde ich tun.«

»Ach?«

»Dein elenischer Gott schuldet mir ein paar Gefälligkeiten. Ich hab' ihm einmal eine Gunst erwiesen.«

»Wozu brauchst du seine Hilfe?«

»Diese Leute sind Elenier. Sie gehören ihm. Ohne seine Erlaubnis kann ich ihnen nichts antun. Das wäre die unverzeihlichste Form von schlechtem Benehmen.«

»Ich bin Elenier, und mir tust du was an.«

»Du bist Anakha, Sperber. Du gehörst niemandem!«

»Das ist deprimierend. Gibt es keine lenkende Hand eines Gottes für mich?«

»Du brauchst niemanden, der dich lenkt. Einen guten Rat manchmal – ja. Aber Führung – nein.«

»Stelle hier bloß nichts Aufsehenerregendes an!«, warnte Sperber. »Wir wissen nicht, was uns in Tamuli erwartet. Es ist besser, wenn wir keine Aufmerksamkeit erregen, solange es sich vermeiden läßt.« Doch dann übermannte ihn seine Neugier. »Bisher hat noch niemand irgend etwas Aufschlußreiches gesagt.«

»Dann halt die Ohren offen, Sperber. Du wirst ganz bestimmt noch etwas hören!«

»Was möchtest du denn, daß Gott diesen Leuten antut?«

»Nichts«, antwortete sie. »Gar nichts. Ich werde ihn nicht bitten, die Lebensumstände dieser Herrschaften zu ändern. Ich möchte nur, daß er sie alle recht, recht lange leben läßt.«

Sperber ließ den Blick um den Tisch und über die verdrossenen Gesichter der Familie ihres Gastgebers schweifen. »Du willst sie hier gefangenhalten«, tadelte er sie. »Du willst fünf Personen, die einander verachten, für alle Ewigkeit aneinanderketten, damit sie sich nach und nach gegenseitig in Stücke reißen?«

»Nicht in alle Ewigkeit, Sperber«, berichtigte das kleine Mädchen. »Obwohl es ihnen wahrscheinlich so vorkommen wird.«

»Das ist grausam!«

»Nein, Sperber. Das ist Gerechtigkeit. Diese Leute verdienen einander. Ich möchte nur dafür sorgen, daß sie viel Zeit haben, die Gesellschaft der anderen zu genießen.«

Stragen beugte sich über Sperbers Schulter. »Was haltet Ihr davon, ein bißchen frische Luft zu schnappen?« fragte er.

»Es regnet doch.«

»Nur Wasser.«

»Also gut. Ist vielleicht gar keine so schlechte Idee.« Sperber erhob sich, trug seine wieder schlafende Tochter zurück ins Wohngemach und legte sie auf den Diwan, wo Murr schnurrend döste und mit ihren krallenbewehrten Pfoten hingebungsvoll eines der Kissen bearbeitete, wie Kätzchen es beim Säugen bei der Mutter tun. Sperber deckte die beiden zu und folgte Stragen auf den Korridor. »Seid Ihr beunruhigt?« fragte er den Thalesier.

»Nein, angewidert. Ich hatte es schon mit einigen der unangenehmsten Menschen auf der Welt zu tun, und ich bin selbst kein Heiliger, aber diese Familie …« Er schüttelte sich. »Habt Ihr Euch einen Giftvorrat zugelegt, als Ihr in Rendor wart?«

»Ich halte nichts von Gift.«

»Dann seid Ihr ein wenig kurzsichtig, alter Junge. Gift ist eine saubere Methode, unerträgliche Personen loszuwerden.«

»Wenn ich mich recht erinnere, war Annias derselben Meinung.«

»Das hatte ich vergessen«, gab Stragen zu. »Ich kann mir denken, daß Annias Euch nicht gerade ein leuchtendes Vorbild ist, obwohl Gift eine sehr praktische Lösung unangenehmer Probleme sein kann. Aber irgend etwas sollte gegen diese Ungeheuer in Menschengestalt unternommen werden!«

»Das wird geschehen.«

»Ach? Und wie?«

»Das darf ich leider nicht sagen.«

Sie traten hinauf auf eine breite Veranda, die über die gesamte Rückseite des Hauses verlief, lehnten sich an die Brüstung und schauten hinaus auf den schlammigen Hinterhof.

»Sieht gar nicht so aus, als würde es bald zu regnen aufhören, nicht wahr?« fragte Stragen. »Wie lange kann ein solches Wetter zu dieser Jahreszeit anhalten?«

»Da solltet Ihr lieber Khalad fragen. Er kennt sich da am besten aus.«

»Meine Herren?«

Stragen und Sperber drehten sich um.

Es war Elron, des Barons poetischer Schwager. »Ich kam heraus, um Euch zu versichern, daß meine Schwester und ich nicht für Kotyk und seine Verwandten verantwortlich sind«, sagte er.

»Das haben wir auch nicht angenommen, Elron«, murmelte Stragen.

»Sie besaßen nur eines auf der Welt: Kotyks Titel. Ihr Vater verlor ihr Erbe beim Spiel. Es dreht mir den Magen um, daß rücksichtslose Aristokraten so mit uns umspringen!«

»Wir hörten so allerlei Gerüchte«, änderte Stragen geschickt das Thema. »In Esos erzählten uns einige Leute, daß es Unruhen unter den Leibeigenen gibt. Uns ist eine wirre Geschichte zu Ohren gekommen, über einen Burschen, der sich ›Säbel‹ nennen läßt, und über einen anderen Mann namens Ayachin. Aber wir konnten uns keinen rechten Reim darauf machen.«

Elron schaute sich übertrieben verschwörerisch um. »Es ist unklug, diese Namen hier in Astel zu erwähnen, Durchlaucht Stragen«, sagte er in heiserem Flüsterton, der wahrscheinlich über den ganzen Hinterhof gehört werden konnte. »Die Tamuler haben ihre Ohren überall!«

»Die Leibeigenen sind unzufrieden mit den Tamulern?« fragte Stragen überrascht. »Ich hätte gedacht, daß es für ihren Haß näherliegende Ziele gäbe.«

»Die Leibeigenen sind abergläubische Tiere, Durchlaucht«, erklärte Elron abfällig. »Mit Religion, überlieferten Geschichten und Schnaps kann man ihnen alles weismachen. Der wirkliche Aufstand ist gegen die gelben Teufel gerichtet!« Elrons Pupillen verengten sich. »Die Ehre Astels verlangt, daß das tamulische Joch abgeschüttelt wird. Das ist das wahre Ziel der Bewegung. Säbel ist ein Patriot, eine geheimnisvolle Gestalt, die aus der Nacht erscheint, um die Asteler anzustacheln, sich zu erheben und die Ketten der Unterdrücker zu sprengen. Säbel ist immer maskiert, müßt ihr wissen.«

»Das hat man uns nicht gesagt.«

»Nicht? Nun, es ist erforderlich, denn Säbel ist eine bekannte Persönlichkeit, die ihre wahre Identität und Ansichten sehr sorgfältig verbirgt. Tagsüber ist er ein müßiger Edelmann, doch des Nachts wird er zum maskierten Fanal, das den Patriotismus seiner Landsleute entflammt.«

»Ich nehme an, daß Ihr Euch so Eure Gedanken darüber macht«, sagte Stragen.

Elrons Miene verriet plötzliche Vorsicht. »Ich bin nur ein Poet, Durchlaucht Stragen. Mein Interesse gilt dem Hauch des Dramatischen, von dem Säbel umwittert wird. Es ist meinem dichterischen Genie förderlich, versteht Ihr?«

»Oh, natürlich.«

»Und wie paßt dieser Ayachin ins Bild?« fragte Sperber. »Wenn ich es recht verstanden habe, ist er bereits seit geraumer Zeit tot.«

»In Astel tut sich Seltsames, Ritter Sperber«, versicherte Elron. »So mancherlei, was seit Generationen im Blut aller wahren Asteler schlummerte. Tief im Herzen wissen wir, daß Ayachin nicht tot ist. Er kann gar nicht sterben – nicht, solange die Tyrannei lebt.«

»Nur als kleines Gedankenspiel, Elron«, sagte Stragen geschickt, »diese Bewegung scheint ganz auf die Leibeigenen als Kämpfer zu bauen. Was haben die dabei zu gewinnen? Warum sollte es Menschen, die so sehr an die Scholle gebunden sind, überhaupt interessieren, wer an der Regierung ist?«

»Sie sind Schafe. Sie laufen blind in jede Richtung, in die man sie lenkt. Man braucht lediglich von Befreiung und Gleichberechtigung zu schwafeln, und sie würden einem selbst in die Hölle folgen.«

»Dann hat Säbel gar nicht wirklich die Absicht, die Leibeigenen zu befreien?«

Elron lachte. »Warum sollte ein vernünftiger Mensch das wollen?

Was hätte es für einen Sinn, Vieh freizulassen?« Er blickte sich verstohlen um. »Ich muß wieder ins Haus, bevor ich vermißt werde. Kotyk haßt mich und würde nichts lieber tun, als mich bei der Obrigkeit anzuschwärzen. Mir bleibt nichts anderes übrig, als zu lächeln und höflich zu ihm zu sein – und zu diesen fetten Säuen, seinen Schwestern. Ich behalte meine Meinung für mich, meine Herren. Aber wenn der Tag unserer Befreiung kommt, wird es hier Veränderungen geben, so wahr mir Gott helfe. Gesellschaftliche Veränderungen sind manchmal nur mit Gewalt durchzusetzen, und ich garantiere, daß Kotyk und seine Schwestern den Morgen des neuen Tages nicht erleben werden.« Er kniff die Augen verschwörerisch zusammen. »Aber ich rede zuviel. Ich behalte meine Meinung für mich, meine Herren. Jawohl, das tue ich.« Er wirbelte seinen schwarzen Umhang über die Schultern und schritt hocherhobenen Hauptes und mit entschlossener Miene ins Haus zurück.

»Faszinierender junger Bursche«, bemerkte Stragen. »Irgendwie bringt er meine Fäuste zum Jucken.«

Sperber brummte beipflichtend und blickte in die regnerische Nacht. »Ich hoffe, es hört bis zum Morgen auf. Ich möchte wirklich aus dieser Kloake heraus.«