5
Botschafter Oscagne lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Wo soll ich anfangen?« überlegte er laut. »Wenn man die Vorfälle getrennt betrachtet, erscheinen sie einem fast unwesentlich. Erst ihr Zusammenwirken hat das Imperium an den Rand des Zusammenbruchs gebracht.«
»Das können wir gut nachvollziehen, Exzellenz«, versicherte Emban. »Die Kirche steht bereits seit Jahrhunderten am Rand des Zusammenbruchs. Unsere Heilige Mutter schwankt von Krise zu Krise wie ein betrunkener Seemann.«
»Emban!« tadelte Dolmant sanft.
Oscagne lächelte.
»Manchmal sieht es wirklich so aus, nicht wahr, Eminenz?« wandte er sich an Emban. »Ich könnte mir vorstellen, daß die Kirchenverwaltung sich nicht allzusehr von der Regierung des Imperiums unterscheidet. Bürokraten brauchen Krisen, um zu überleben. Gibt es nicht dann und wann eine Krise irgendwelcher Art, könnte jemand auf den Gedanken kommen, das ein oder andere Amt abzuschaffen.«
»Das könnte man so formulieren, ja«, pflichtete Emban ihm bei.
»Ich versichere euch jedoch, daß es sich bei den Vorkommnissen in Tamuli nicht um lächerliche Manöver handelt, die lediglich dazu dienen sollen, irgendwelche Posten und Ämter zu sichern. Ich übertreibe wirklich nicht, wenn ich behaupte, daß sich das Imperium am Rand des Zusammenbruchs befindet.« Oscagnes bronzefarbene Züge wurden nachdenklich. »Wir sind kein einheitliches Volk wie ihr hier in Eosien. Auf dem daresischen Kontinent gibt es fünf Rassen. Wir Tamuler leben im Osten, im Westen gibt es Elenier, um Sarsos Styriker, die Valesianer haben ihre eigene Insel, und die Cynesganer befinden sich im Zentrum. Vermutlich ist es ungewöhnlich, daß sich so viele unterschiedliche Völker zusammengeschlossen haben. Unsere Kulturen sind verschieden, wie auch unsere Religionen, und jede Rasse hält sich insgeheim für die Krone der Schöpfung.« Er seufzte. »Wahrscheinlich wäre es besser für uns alle, wären wir getrennt geblieben.«
»Aber irgendwann in der Vergangenheit hat jemanden der Ehrgeiz gepackt«, vermutete Tynian.
»Keineswegs, Herr Ritter«, entgegnete Oscagne. »Man könnte fast sagen, daß wir Tamuler regelrecht ins Imperium hineinstolperten.« Er blickte Mirtai an, die still mit Danae auf dem Schoß dasaß. »Und das ist der Grund.« Er deutete auf die Riesin.
»Es war nicht meine Schuld, Oscagne!« protestierte sie.
»Ich beschuldige nicht Euch persönlich, Atana.« Er lächelte. »Ich spreche von Eurem Volk.«
Mirtai lächelte. »Ich habe dieses Wort nicht mehr gehört, seit ich aus den Kinderschuhen schlüpfte. Noch nie zuvor hat jemand mich Atana genannt.«
»Was bedeutet es?« fragte Talen neugierig.
»Krieger.« Sie zuckte die Schultern.
»Genauer gesagt Kriegerin«, berichtigte Oscagne. Er runzelte die Stirn. »Ich möchte euch nicht kränken, aber die elenische Sprache ist ein wenig beschränkt, wenn es um Feinheiten des Ausdrucks geht.« Er blickte Ehlana an. »Majestät, ist Euch aufgefallen, daß Eure Sklavin nicht ganz so wie andere Frauen ist?«
»Sie ist meine Freundin«, sagte Ehlana, »nicht meine Sklavin.«
»Stellt Euch nicht so an, Ehlana«, rügte Mirtai. »Natürlich bin ich eine Sklavin. So soll es sein. Erzählt weiter, Oscagne. Ich werde es ihnen später erklären.«
»Glaubt Ihr, daß sie es wirklich verstehen?«
»Nein. Aber ich werde es trotzdem erklären.«
»Also gut. Bei den Atanern, hochverehrter Erzprälat«, wandte Oscagne sich an Dolmant, »liegt der Schlüssel zum Imperium. Vor etwa fünfzehnhundert Jahren unterwarfen sie sich uns mit der Bedingung, unsere Leibeigenen zu sein, weil sie verhindern wollten, daß ihre mörderischen Instinkte zur Ausrottung ihrer Rasse führten. Diesem Umstand verdanken wir Tamuler, daß wir über die beste Armee der Welt verfügen – obwohl wir im Grunde genommen ein friedliebendes Volk sind. Kleinere Meinungsverschiedenheiten, wie sie hin und wieder mit anderen Nationen unvermeidlich sind und üblicherweise durch Verhandlungen beigelegt werden, haben wir problemlos aus der Welt geschafft. In unserem Augen sind unsere Nachbarn wie kleine Kinder – einfach nicht imstande, auch nur mit ihren eigenen Angelegenheiten fertig zu werden. Das Imperium ist hauptsächlich deshalb entstanden, um Ordnung herzustellen.« Er ließ den Blick über die Ordensritter schweifen. »Ich möchte euch nicht kränken, werte Herren, aber Krieg zu führen, dürfte die dümmste aller menschlichen Handlungen sein. Es gibt viele wirkungsvollere Methoden, jemanden zu einer anderen Ansicht zu bekehren.«
»Zum Beispiel die Drohung, die Ataner von der Kette zu lassen?« meinte Emban verschmitzt.
»Das erfüllt seinen Zweck recht gut, Eminenz«, gestand Oscagne. »Früher hat die Anwesenheit der Ataner für gewöhnlich verhindert, daß politische Streitigkeiten zu hitzig wurden. Ataner geben ausgezeichnete Ordnungstruppen ab.« Er seufzte. »Euch ist vermutlich nicht entgangen, daß ich ›früher‹ sagte, denn bedauerlicherweise ist das jetzt nicht mehr der Fall. Ein Imperium, das sich aus grundlegend verschiedenen Völkern zusammensetzt, muß stets auf kleinere Ausbrüche von Nationalismus und rassischen Unzufriedenheiten gefaßt sein. Unbedeutende neigen dazu, nach Möglichkeiten zu suchen, ihre Wichtigkeit zu beweisen. Es ist pathetisch, aber Rassismus ist für gewöhnlich die letzte Zuflucht der Unbedeutenden, und ihre Aufstände sind meist lokal begrenzt. Doch plötzlich hat eine wahre Epidemie von Aufständen ganz Tamuli erfaßt. Jedermann näht Fahnen, singt Nationalhymnen und denkt sich Beleidigungen aus, mit denen er ›die gelben Hunde‹ treffen will. Das sind natürlich wir.« Er streckte die Hand aus und betrachtete sie prüfend. »Unsere Haut ist nicht wirklich gelb, wißt ihr. Sie ist eher …« Er überlegte.
»Beige?« meinte Stragen.
»Das ist auch nicht sehr schmeichelhaft, Durchlaucht Stragen.« Oscagne lächelte. »Was soll's? Vielleicht ernennt ja unser Kaiser eine Sonderkommission, die unsere Hautfarbe ein für allemal definiert.« Er zuckte die Schultern. »Wie dem auch sei, vereinzelte Ausbrüche von Nationalismus und Rassismus wären kein echtes Problem für die Ataner, selbst wenn es in jeder Stadt des Imperiums dazu käme. Es sind die unnatürlichen Vorfälle, die uns so beunruhigen.«
»Dachte ich mir doch, daß mehr dahintersteckt«, murmelte Ulath.
»Jede Kultur hat ihren Sagenhelden«, fuhr Oscagne fort, »irgendeine überragende Persönlichkeit, die das Volk vereinte, ihm ein nationales Ziel gab und seinen Charakter prägte. Die moderne Welt ist so kompliziert und verwirrend, daß der Mittelstand und die unteren Schichten sich nach der Überschaubarkeit des heldischen Zeitalters sehnen, als nationale Ziele noch deutlich waren und jeder wußte, wohin er gehörte. Irgend jemand in Tamuli holt die alten Helden ins Leben zurück.«
Sperber spürte plötzlich eine eisige Hand im Rücken. »Riesen?« fragte er.
»Nun …« Oscagne überlegte. »Vielleicht ist das tatsächlich die treffende Bezeichnung. Die Jahrhunderte verklären die Dinge, und unsere sagenumwobenen Helden erlangen Überlebensgröße. Ich nehme an, viele betrachten sie tatsächlich als Riesen. Das ist außerordentlich scharfsichtig, Ritter Sperber.«
»Eigentlich nicht, Exzellenz. Ihr müßt wissen, daß sich Ähnliches auch hier ereignet hat.«
Dolmant blickte ihn scharf an.
»Ich werde es später erklären, Sarathi. Bitte, erzählt weiter, Botschafter Oscagne. Ihr sagtet, wer immer die Dinge in Tamuli auslöste, hat damit begonnen, Helden ins Leben zurückzurufen. Das läßt darauf schließen, daß inzwischen noch mehr geschehen ist.«
»O ja, unglücklicherweise, Ritter Sperber. Viel, viel mehr. Jede Kultur hat außer ihren Helden auch ihre bösen Geister. Mit denen bekamen wir's zu tun: mit Ungeheuern, Dämonen, Werwölfen, Vampiren. Eben mit allem, womit Erwachsene Kindern angst machen, auf daß sie brav sind. Tja, mit solchen Gegnern sind unsere Ataner überfordert. Sie sind für den Kampf gegen menschliche Feinde ausgebildet, nicht gegen all die Alptraumgestalten, die phantasievolle Gehirne im Lauf der Äonen ausgebrütet haben. Das ist unser Problem. Wir haben neun unterschiedliche Kulturen in Tamuli, die sich plötzlich allesamt auf ihre traditionellen geschichtlichen Ziele besonnen haben. Schicken wir unsere Ataner, damit sie die Ordnung und die Autorität des Imperiums wiederherstellen, erscheinen diese Alptraumgestalten aus dem Nichts und stürzen sich auf sie. Dagegen sind wir machtlos. Das Imperium fällt auseinander; es löst sich in seine einzelnen Teile auf. Die Regierung Seiner Kaiserlichen Majestät hofft, daß eure Kirche eine gewisse Interessengemeinsamkeit erkennt. Denn sollte Tamuli in neun einander bekriegende Reiche zerfallen, wird das entstehende Chaos mit Sicherheit auch in Eosien Auswirkungen haben. Es ist die Magie, die uns so beunruhigt. Wir sind durchaus imstande, normale Rebellionen niederzuschlagen, aber uns fehlen die Voraussetzungen, es mit einer kontinentweiten Verschwörung aufzunehmen, die magische Kräfte gegen uns einsetzt. Die Styriker um Sarsos sind verwirrt. Alles, was sie versuchen, wird zum Scheitern gebracht, kaum daß sie es einsetzen. Wir hörten Geschichten über die Geschehnisse in der Stadt Zemoch; Ihr persönlich seid es, an den ich mich hilfesuchend wenden muß, Ritter Sperber. Zalasta von Sarsos ist der oberste Magier von ganz Styrikum, und er hat uns versichert, daß Ihr der einzige Mensch auf der Welt seid, der die nötigen Kräfte besitzt, um mit dieser Situation fertig zu werden.«
»Zalasta hat meine Fähigkeiten vielleicht zu optimistisch eingeschätzt«, gab Sperber zu bedenken.
»Ihr kennt ihn?«
»Wir sind uns mal begegnet. Offen gesagt spielte ich nur eine sehr kleine Rolle bei den Ereignissen in Zemoch. Ich war kaum mehr als das Werkzeug einer Macht, die ich beim besten Willen nicht beschreiben kann.«
»Dennoch seid Ihr unsere einzige Hoffnung. Jemand will den Zusammenbruch des Imperiums herbeiführen. Wir müssen herausfinden, wer es ist, oder die Welt versinkt in Schutt und Asche. Werdet Ihr uns helfen, Ritter Sperber?«
»Ich kann diese Entscheidung nicht treffen, Exzellenz. Ihr müßt Euch an meine Königin und an Sarathi wenden. Befehlen sie es mir, reise ich nach Tamuli. Verbieten sie es, bleibe ich hier.«
»Dann werde ich mich mit meiner ganzen Überzeugungskraft an sie wenden.« Oscagne lächelte. »Doch angenommen, ich habe Erfolg – und ich zweifle nicht daran –, sehen wir uns immer noch einem fast ebenso ernsten Problem gegenüber. Wir müssen die Würde Seiner Kaiserlichen Majestät um jeden Preis schützen. Ein Ersuchen einer Regierung an eine andere ist eine Sache, doch ein Ersuchen Seiner Majestät Regierung an einen privaten Bürger eines anderen Kontinents ist etwas ganz anderes. Das ist das Problem, das wir beachten müssen.«
»Ich glaube nicht, daß wir eine Wahl haben, Sarathi«, sagte Emban ernst. Es war später Abend. Botschafter Oscagne hatte sich für die Nacht zurückgezogen; die übrigen, darunter Patriarch Ortzel von Kadach in Lamorkand, hatten sich zusammengesetzt, um sich ernsthaft mit dem Ersuchen des Botschafters zu befassen. »Auch wenn wir nicht alle Aspekte der tamulischen Politik billigen, ist der Fortbestand dieses Imperiums gerade jetzt von lebenswichtiger Bedeutung für uns. Der Feldzug in Rendor erfordert unseren ganzen Einsatz. Wenn Tamuli zerfiele, müßten wir den größten Teil unserer Streitkräfte – und die Ordensritter – aus Rendor abziehen, um unsere Interessen in Zemoch zu schützen. Zemoch ist zwar nicht unbedingt eine Reise wert, doch die strategische Bedeutung seiner Gebirge kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Während der vergangenen zweitausend Jahre sahen wir uns dort stets feindlichen Kräften gegenüber, und unsere Heilige Mutter ist mit diesem Problem vertraut. Wenn wir zulassen, daß irgendwelche anderen Feinde die Zemocher dort verdrängen, ist alles umsonst, was Sperber in Othas Hauptstadt erreicht hat. Wir wären dann wieder auf dem Stand von vor sechs Jahren. Wir werden Rendor aufgeben und gegen eine neue Bedrohung aus dem Osten mobilisieren müssen.«
»Ihr sprecht lediglich das Offensichtliche aus, Emban«, sagte Dolmant.
»Ich weiß. Aber manchmal hilft es, sich des besseren Überblicks wegen alles vor Augen zu führen.«
Dolmant blickte den großen Pandioner nachdenklich an. »Sperber, wenn ich Euch befehlen würde, Euch nach Matherion zu begeben, Eure Gemahlin Euch jedoch gebieten würde, zu Hause zu bleiben, was würdet Ihr tun?«
»Ich würde mich wahrscheinlich für die nächsten Jahre in ein Kloster zurückziehen und um Erleuchtung beten.«
»Unsere Heilige Mutter Kirche ist überwältigt von Eurer Frömmigkeit, Ritter Sperber.«
»Ich tue, was ich kann, um ihren Gefallen zu finden, Sarathi. Schließlich bin ich ihr getreuer Ritter.«
Dolmant seufzte. »Dann läuft alles auf eine Art Einigung zwischen Ehlana und mir hinaus, nicht wahr?«
»Solche Weisheit kann nur gottgegeben sein«, meinte Sperber an seine Gefährten gewandt.
»Wenn Ihr es so wollt«, sagte Dolmant säuerlich. Dann blickte er die Königin von Elenien resigniert an. »Nennt Euren Preis, Majestät.«
»Wie bitte?«
»Reden wir nicht um den heißen Brei herum, Ehlana. Euer Streiter läßt mir keine Wahl.«
»Ich weiß«, antwortete sie. »Und ich bin überwältigt. Wir werden das unter vier Augen besprechen müssen, verehrter Erzprälat. Sonst könnte es sein, daß Ritter Sperber seinen wahren Wert erkennt und gar auf den Gedanken kommt, daß wir ihm für seine unersetzlichen Dienste etwas schulden.«
»Das gefällt mir alles ganz und gar nicht«, murmelte Dolmant.
»Ich finde, wir sollten erst kurz etwas anderes besprechen«, warf Stragen ein. »Die Geschichte des tamulischen Botschafters kam mir bekannt vor – oder bin ich etwa der einzige, dem das aufgefallen ist? Die Situation in Lamorkand gleicht doch erstaunlich den Geschehnissen in Tamuli. Die Lamorker sind überzeugt – und begeistert –, daß Fyrchtnfles zurückgekehrt ist. Ist das nicht dieselbe Situation, die Oscagne beschrieb? Außerdem wurden wir auf dem Herweg von Cimmura von einer Schar Lamorker überfallen, die nur aus der Vergangenheit gekommen sein kann. Die Waffen der Krieger waren aus Stahl, aber sie trugen Rüstungen aus Bronze, und sie sprachen Altlamorkisch. Nachdem Ritter Ulath ihren Führer getötet hatte, verschwanden alle Überlebenden. Nur die Gefallenen blieben zurück, als völlig ausgetrocknete Leichen.«
»Und das ist noch nicht alles«, fügte Sperber hinzu. »In diesem Frühjahr trieb eine Räuberbande in den Bergen von Westeosien ihr Unwesen. Sie wurde von einigen früheren Anhängern Annias' angeführt, und sie haben alles nur mögliche getan, um die Landbevölkerung zu einer Rebellion aufzuwiegeln. Platime konnte einen Spion in ihr Lager einschleusen. Von ihm erfuhren wir, daß Krager, Martels alter Helfershelfer, hinter den Umtrieben steckte. Nachdem wir die Banditen überwältigt hatten, wollten wir einen von ihnen über Krager befragen. Da hüllte eine Wolke, ähnlich jener, mit der wir es auf unserem Weg nach Zemoch zu tun hatten, den Mann ein und zerfleischte ihn. Ohne jeden Zweifel geschieht auch hier in Eosien irgend etwas, das von Lamorkand ausgeht.«
»Ihr meint, es gibt eine Verbindung?« fragte Dolmant.
»Das ist die logische Folgerung, Sarathi. Es gibt zu viele Ähnlichkeiten, als daß wir sie ignorieren dürften.« Sperber machte eine Pause und blickte seine Frau an. »Auch wenn es gewisse häusliche Unstimmigkeiten zur Folge haben sollte«, sagte er bedauernd, »bin ich der Meinung, daß wir ernsthaft über Oscagnes Bitte nachdenken sollten. Jemand durchstöbert die Vergangenheit nach Menschen und Kreaturen, die seit Tausenden von Jahren tot und vergessen sind, und holt sie in die Gegenwart. Als wir Ähnliches in Pelosien erlebten, versicherte uns Sephrenia, daß nur Götter zu so etwas imstande sind.«
»Nun, das stimmt nicht ganz, Sperber«, berichtigte Bevier. »Sie sagte, daß auch einige der mächtigsten styrischen Magier Tote herbeirufen könnten.«
»Ich glaube, diese Möglichkeit können wir ausschließen«, widersprach Sperber. »Sephrenia und ich unterhielten uns einmal darüber. Sie sagte, daß in der vierzigtausendjährigen Geschichte des Styrikums nur zwei Magier dies vermochten, aber keineswegs perfekt. Die Wiedererweckung von Helden und Armeen, mit der wir es jetzt zu tun haben, geschieht in neun Reichen des Tamulischen Imperiums und in mindestens einem hier in Eosien. Es gibt zu viele Ähnlichkeiten, als daß es ein Zufall sein könnte. Und der ganze Plan – worauf immer er abzielt – ist zu komplex, als daß jemand dahinterstecken könnte, der diesen Zauber nicht vollkommen beherrscht.«
»Die Trollgötter?« fragte Ulath düster.
»Durchaus möglich. Wir wissen aus eigener Erfahrung, daß sie es vermögen. Zur Zeit können wir jedoch nur von Vermutungen ausgehen. Wir benötigen unbedingt Informationen.«
»Das fällt in mein Fach, Sperber«, erklärte Stragen. »In meines und Platimes. Ihr werdet nach Daresien reisen, nehme ich an?«
»Es bleibt wohl keine andere Möglichkeit.« Sperber bedachte seine Gemahlin mit einem bedauernden Blick. »Ich würde es gern je mand anderem überlassen, aber ich fürchte, er wüßte nicht, wonach er Ausschau halten sollte.«
»Dann begleite ich Euch«, beschloß Stragen. »Auch in Daresien habe ich Kollegen. Und in unserem Beruf kommt man viel schneller an Informationen als Herren vom geistlichen Stand.«
Sperber nickte.
»Vielleicht können wir gleich damit anfangen«, meinte Ulath. Er blickte Patriarch Ortzel an. »Was besagen eigentlich diese wilden Geschichten über Fyrchtnfles, Eminenz? Niemandes Ruf hält sich vier Jahrtausende lang, wie beeindruckend er auch gewesen sein mag.«
»Fyrchtnfles ist eine erdichtete Gestalt, Ritter Ulath«, erwiderte der strenge blonde Kirchenmann mit leichtem Lächeln. So wie die Thronbesteigung Dolmant verändert hatte, hatte das Leben in Chyrellos Ortzel verändert. Er schien nicht mehr der steife, engstirnige Provinzler zu sein wie damals in Lamorkand, wo Sperber und die anderen ihn kennengelernt hatten. Obwohl er bei weitem nicht so weltlich war wie Emban, hatte er sich doch einiges von der Weltgewandtheit seiner Kollegen in der Basilika angeeignet. Er lächelte jetzt hin und wieder und entwickelte offenbar einen verschmitzten, hintergründigen Humor. Sperber war Ortzel mehrmals wiederbegegnet, seit Dolmant den Patriarchen nach Chyrellos berufen hatte, und der große Pandioner erkannte, daß er Sympathie für diesen Mann entwickelte. Natürlich hatte Ortzel immer noch seine Vorurteile, doch er war nun durchaus bereit zu akzeptieren, daß auch andere Meinungen zutreffen mochten.
»Jemand hat Fyrchtnfles erfunden?« staunte Ulath.
»O nein. Vor viertausend Jahren gab es wirklich jemanden, der Fyrchtnfles genannt wurde. Wahrscheinlich irgendein Barbar, der seinen Verstand in den Muskeln hatte. Ich könnte mir vorstellen, daß er wie ein furchterregender Wilder ausgesehen hat – kein Hals, flache Stirn, kein Hirn. Nach seinem Tod stürzte sich jedoch irgendein Dichter mit mangelnder Inspiration auf die Schauergeschichten, die sich die Leute über ihn erzählten, und schmückte sie mit all dem abgeschmackten Beiwerk eines Heldenepos aus. Er nannte es die Fyrchtnfles-Saga. Für Lamorkand wäre es besser gewesen, hätte der Mann das Lesen und Schreiben nicht gelernt.« Sperber glaubte tatsächlich Humor herauszuhören.
»Eine Ballade kann doch unmöglich diese Wirkung haben, Eminenz«, gab Kalten skeptisch zu bedenken.
»Ihr unterschätzt die Macht einer gut erzählten Geschichte, Ritter Kalten. Ich werde sie übersetzen müssen, um sie euch nahezubringen, aber urteilt selbst.« Ortzel lehnte sich mit halbgeschlossenen Augen zurück.
»So höret eine Geschichte aus der Zeit, da es noch Helden gab«, begann er. Seine barsche Stimme wurde weicher und klangvoller, während er die alte Ballade vortrug. »Lauschet, ihr tapferen Männer von Lamorkand, den Heldentaten des Schmiedes Fyrchtnfles, des mächtigsten aller Krieger jener Zeit.
Wie alle Welt weiß, war die heroische Epoche ein Zeitalter der Bronze. Schwer waren die Bronzeschwerter und Äxte in jenen Tagen, und gewaltig die Muskeln der Helden, welche die Waffen in ruhmreichem Kampfe schwangen. Und in ganz Lamorkand gab es keinen mächtigeren Recken als Fyrchtnfles den Schmied.
Hünenhaft war Fyrchtnfles, mit Schultern wie ein Ochse, denn sein Handwerk formte ihn so, wie er das glühende Metall formte. Schwerter aus Bronze schmiedete er und Speere scharf wie Dolche und Äxte und Schilde und brünierte Helme und Kettenhemden, welche den Hieben der Feinde trotzten, als wären sie nur sanfter Regen.
Von überallher aus dem finster bewaldeten Lamorkand tauschten Krieger mit Freuden feinstes Gold und glänzendes Silber gegen Fyrchtnfles' Bronze, und der mächtige Schmied wurde reicher und stärker durch seine Arbeit am Amboß.«
Sperber nahm den Blick von Ortzel und schaute sich um. Die Gesichter seiner Freunde wirkten verzückt. Die Stimme des Patriarchen von Kadach hob und senkte sich in den erhabenen Kadenzen bardischen Gesangs.
»Großer Gott!« entfuhr es Bevier, als der Patriarch eine Pause machte. »Wie kommt's, daß Eure Geschichte mich so in den Bann schlägt?«
»Das macht die Art des Vortrags«, erklärte Ortzel. »Der Rhythmus der Sprache betäubt den Verstand und bringt den Puls zum Rasen. Die Menschen meiner Rasse sind anfällig für die großen Gefühle der Fyrchtnfles-Saga. Eine ganze Armee von Lamorkern kann durch die Rezitation einer der schaurigeren Abschnitte in Kampfrausch getrieben werden.«
»Was geschah weiter?« fragte Talen ungeduldig.
Ortzel blickte den Jungen lächelnd an. »Doch einem jungen Dieb, der den weltlichen Gütern sehr zugetan ist, kann eine so langweilige alte Ballade gewiß nicht zu Gemüte gehen«, sagte er verschmitzt. Sperber unterdrückte sein Lachen. Offenbar hatte der Patriarch von Kadach sich noch stärker verändert, als er gedacht hatte.
»Ich mag spannende Geschichten«, gestand Talen. »Aber auf solche Weise hab' ich noch nie eine zu hören bekommen.«
»Das ist die Macht der Erzählung«, murmelte Stragen. »Manchmal ist die Wirkung nicht so sehr auf den Inhalt einer Geschichte zurückzuführen, sondern auf die Art und Weise des Vortrags.«
»Also?« wiederholte Talen. »Wie ging es weiter?«
»Fyrchtnfles fand heraus, daß ein Riese namens Kreindl ein Metall gegossen hatte, mit dem man Bronze wie Butter schneiden konnte«, antwortete Ortzel nun im Plauderton. »Nur mit seinem Schmiedehammer bewaffnet, begab er sich zur Behausung Kreindls, entlockte dem Riesen durch List das Geheimnis des neuen Metalls und erschlug ihn dann mit seinem Schmiedehammer. Darauf kehrte er heim und schmiedete Waffen aus dem neuen Metall, dem Stahl. Bald wollte jeder Krieger in Lamorkand – oder vielmehr Lamorkland, wie es damals genannt wurde – ein Schwert aus Stahl, und Fyrchtnfles häufte ungeheuere Reichtümer an.« Ortzel runzelte die Stirn. »Ich hoffe, ihr habt Nachsicht, aber es ist nicht so einfach, aus dem Stegreif zu übersetzen.« Er überlegte kurz, dann trug er die Ballade weiter vor. »Nun begab es sich, daß der Ruhm des mächtigen Schmiedes Fyrchtnfles sich im ganzen Land verbreitete. Riesenhaft war der Schmied, wohl zehn Spannen groß, und breit waren seine Schultern. So hart waren seine Muskeln, daß sie sich mit dem Stahl aus seiner Schmiede zu messen vermochten, und gar anziehend waren seine Züge. So manche Maid aus hohem Hause sehnte sich tief in ihrem Herzen nach des Fyrchtnfles' Liebe.
In jenen vergangenen Tagen war der greise König Hygdahl der Herrscher der Lamorker. Hygdahls schneeweiße Locken kündeten von seiner Weisheit. Kein Sohn ward ihm vergönnt gewesen, wohl aber eine Tochter, die Freude seiner späten Jahre. Schön war sie, wie der junge Morgen, und ihr Name war Uta. Doch groß waren Hygdahls Sorgen, denn wohl wußte er, daß Zank und Hader in den Landen der Lamorker ausbreche, wenn sein Geist zu Hrokka gerufen ward. Die Helden würden sich bekämpfen, um den Thron und die Hand der schönen Uta zu erringen, denn beides sollte der Lohn des Siegers sein. So beschloß König Hygdahl, Reich und Tochter mit einem Streich zu sichern. Er ließ Kunde bis in den entferntesten Winkel seines riesigen Reiches tragen: Das Geschick von Lamorkland und der helläugigen Uta sollte durch einen Wettkampf entschieden werden. Der mächtigste Held im ganzen Land würde Kraft seiner Hände zu Reichtum, Gemahlin und Herrschaft gelangen.«
»Fyrchtnfles war zehn Spannen groß, habt Ihr gesagt«, unterbrach Talen die Erzählung. »Wieviel ist eine Spanne?«
»Neun Zoll«, antwortete Berit.
Talen rechnete es rasch im Kopf aus. »Das wären ja sieben und ein halber Fuß?« rief er ungläubig. »Er war siebeneinhalb Fuß groß?«
Ortzel lächelte. »Es wird gewiß ein bißchen übertrieben sein.«
»Wer ist dieser Hrokka?« fragte Bevier.
»Der lamorkische Kriegsgott«, erklärte Ortzel. »Am Ende der Bronzezeit wandten die Lamorker sich wieder dem Heidentum zu. Offenbar gewann Fyrchtnfles den Wettkampf, ohne allzu viele seiner Mitbewerber töten zu müssen.« Ortzel räusperte sich und nahm seinen Vortrag wieder auf. »Und so geschah es, daß Fyrchtnfles der Schmied, der mächtigste Held des Altertums, die Hand der helläugigen Uta errang und König Hygdahls Erbe wurde.
Und sogleich nach dem Hochzeitsschmaus begab Hygdahls Erbe sich geradenwegs zum König. ›Herr König‹, sagte er, ›da ich die Ehre habe, der mächtigste Krieger der ganzen Welt zu sein, ist es nur richtig, daß mir die ganze Welt gehören soll. Das wird mein ganzes Streben sein, wenn Hrokka Euch erst heimgerufen hat. Die Welt werd' ich erobern, sie mir unterwerfen und nach meinem Willen formen. Drauf werd' ich die Helden von Lamorkland gen Chyrellos führen und dort die Altäre des falschen Gottes jener Kirche niederreißen, welche wie ein Weib schmachvoll die Macht hält und mit ihren Predigten die Krieger schwächt. Ich verachte ihre Lehre und werde die Helden Lamorklands dorthin führen, auf daß sie das kirchliche Plündergut der ganzen Welt auf Wagen in unsere Heimat schaffen, die unter der Last der Schätze ächzen.‹ Erfreut vernahm Hygdahl die Worte des Helden, denn Hrokka, der Schwertgott von Lamorkland, schwelgt in Schlachtenruhm und lehrt seine Kinder das Klirren von Schwertern lieben und den Anblick von blutgerötetem Gras. ›Zieh fort, mein Sohn, und erobere‹, sprach der König. ›Bestrafe die Peloi, zermalme die Cammorier, vernichte die Deiraner und vergiß nicht, die Kirche zu zerstören, die mit ihrem Gewäsch von Frieden und Demut das Mannestum aller Elenier verdirbt.‹ Als die Kunde von Fyrchtnfles' Absicht die Basilika von Chyrellos erreichte, geriet die Kirche in Sorge und zitterte aus Angst vor dem mächtigen Schmied, und die Fürsten der Kirche berieten sich und beschlossen, das Leben des edlen Schmiedes zu beenden, auf daß er die Kirche nicht entmachten und ihre Reichtümer in Wagen nach Lamorkland verschleppen könne, um damit die hohen Mauern des Eroberers Methalle zu verschönern. Alsbald verschworen sie sich, einen entbehrlichen Recken an den Hof von Hygdahls Erben zu entsenden, auf daß er den mächtigen Fyrchtnfles meuchle, den Stolz des dunkelbewaldeten Lamorklands.
In täuschender Verkleidung begab sich dieser heimtückische Krieger mit Namen Starkad, ein Deiraner durch Geburt, zu Fyrchtnfles' Methalle und entbot Hygdahls Erben geheuchelte Grüße. Mit Schmeichelei und Trug beschwor er den Helden von Lamorkland, ihn als seinen Gefolgsmann aufzunehmen. Fyrchtnfles' Herz war so ohne Falsch und Arg, daß er Heimtücke bei anderen niemals wähnte. Mit Freuden nahm er Starkads in falscher Freundschaft gebotene Hand, und alsbald waren die beiden wie Brüder, genauso, wie Starkad es geplant hatte.
Und während die Helden von Fyrchtnfles' Halle sich plagten, hielt Starkad sich in gutem und schlechtem Wetter, im Kampf und dem Gelage, das ihm folgt, unentwegt zur Rechten Fyrchtnfles'. Geschichten erfand er für ihn, die Fyrchtnfles' Herz mit Freude erfüllten, und aus Liebe zu seinem Freund überhäufte der mächtige Schmied ihn mit Armreifen aus glänzendem Gold, unbezahlbaren Edelsteinen und anderen Schätzen. Starkad nahm Fyrchtnfles' Geschenke mit scheinbarer Dankbarkeit entgegen, und immer tiefer, wie ein geduldiger Wurm, grub er sich einen Weg in des Helden Herz.
Als Hrokka den weisen König Hygdahl zu den Scharen seiner unsterblichen Gefolgsleute in die Halle der Helden holte, wurde Fyrchtnfles König in Lamorkland. Gut waren seine Pläne bedacht, und kaum ruhte die Königskrone auf seinem Haupt, scharte er seine Helden um sich und marschierte gen Norden, die wilden Peloi zu unterwerfen.
Zahlreich waren die Schlachten, die der mächtige Fyrchtnfles in den Landen der Peloi schlug, und groß seine Siege. Und in den freien Weiten des Reitervolks fand der schändliche Plan der Kirche von Chyrellos seine Erfüllung, denn dort, getrennt von ihren Freunden durch Scharen rasender Peloi, metzelten Fyrchtnfles und Starkad den Feind nieder, daß sein Blut die Weiden tränkte. Und dort, in der vollen Blüte seines Heldentums, wurde der mächtige Fyrchtnfles niedergestreckt. Bei einer Kampfespause, als die Recken innehielten, um Atem und Kraft zu schöpfen, eh' sie die Schlacht fortsetzten, packte der heimtückische Deiraner seinen Speer, der schärfer war als jeder Dolch, und stieß ihn tief in seines Königs breiten Rücken.
Und Fyrchtnfles spürte die eisige Hand des Todes, als Starkads blanker Stahl ihn durchbohrte. Da drehte er sich um zu dem Manne, den er Freund und Bruder genannt. ›Warum?‹ fragte er, und sein Herz schmerzte mehr vom Verrat denn von Starkads Speerstoß.
›Ich tat es im Namen des Gottes der Elenier‹, antwortete Starkad, und heiße Tränen strömten aus seinen Augen, denn wahrlich liebte er den Helden, den er eben erstochen. ›Glaube nicht, daß ich es war, der dir das Herz durchbohrte, mein Bruder; nicht ich war es, unsere Heilige Mutter Kirche war's, die dein Leben wollte.‹ Mit diesen Worten hob er seinen furchtbaren Speer aufs neue. ›Verteidige dich, Fyrchtnfles, denn obgleich ich dich töten muß, will ich dich nicht morden.‹ Da hob der edle Fyrchtnfles das Gesicht. ›Mein Arm soll ruhen‹, entgegnete er, ›denn wenn mein Bruder mein Leben braucht, so will ich es ihm geben.‹ ›Verzeih mir‹, bat Starkad, und wieder hob er den tödlichen Speer.
Finster schüttelte Fyrchtnfles das Haupt. ›Du magst mein Leben haben, doch nie meine Vergebung.‹ ›So sei es denn‹, sprach Starkad und stieß seinen schrecklichen Speer geradenwegs in des Fyrchtnfles' mächtiges Herz.
Die Kälte des Todes durchrieselte des Helden Glieder, und so langsam, wie eine riesige Eiche fallen mag, fiel der Stolz von Lamorkland, und Himmel und Erde erbebten unter seinem Sturz.«
In Talens Augen glänzten Tränen. »Ist der Mörder davongekommen?« fragte er. »Ich meine, hat einer von Fyrchtnfles' anderen Freunden es ihm heimgezahlt?« Nur zu deutlich verriet des Jungen Gesicht, wie gern er mehr hören wollte.
»Du möchtest doch nicht etwa deine Zeit mit einer langweiligen Geschichte vergeuden, die Tausende von Jahren alt ist?« Ortzel täuschte Verwunderung vor, doch seine Augen blitzten verschmitzt. Sperber verbarg sein Lächeln hinter einer Hand. Ortzel hatte sich ohne jeden Zweifel sehr verändert.
»Ich kann nicht für Talen reden«, warf Ulath ein, »aber ich würde die Geschichte auch gern hören.«
»Nun«, meinte Ortzel, »wie ihr sicher wißt, wäscht eine Hand die andere. Zu welcher Buße für unsere Heilige Mutter wärt ihr beiden denn bereit, wenn ich euch den Rest der Geschichte erzähle?«
»Ortzel!« rügte Dolmant.
Der Patriarch von Kadach hob eine Hand. »Es ist ein durchaus zulässiger Handel, Sarathi«, erklärte er. »Die Kirche hat sich dergleichen in der Vergangenheit häufig bedient. Als ich noch ein schlichter Dorfpriester war, bin ich oft so verfahren, um meine Schäfchen zum regelmäßigen Kirchgang anzuhalten. Meine Gemeinde war weit und breit für ihre Frömmigkeit bekannt – bis mir schließlich die Geschichten ausgingen.« Er lachte. Das überraschte die anderen, denn die meisten hätten gewettet, daß der strenge, unbeugsame Patriarch von Kadach gar nicht wußte, wie man lachte. »Ich habe nur Spaß gemacht«, versicherte er dem jungen Dieb und dem hünenhaften Thalesier. »Aber es könnte durchaus nicht schaden, würdet ihr zwei ein wenig über den Zustand eurer Seelen nachdenken.«
»Erzählt die Geschichte«, bat nun auch Mirtai. Sie war eine Kriegerin, aber durchaus empfänglich für eine bewegende Geschichte, wie sich nun zeigte.
»Steht hier vielleicht gar eine Bekehrung ins Haus?« fragte Ortzel sie.
»Was hier ins Haus steht, ist die Möglichkeit ernster körperlicher Schäden, Ortzel«, entgegnete Mirtai barsch. Sie benutzte nie irgendwelche Titel als Anrede.
»Also gut.« Ortzel runzelte die Stirn und fuhr mit seiner Übersetzung fort.
»So lauschet denn, ihr Lamorker, und höret, wie Starkad bestraft wurde. Heiße Tränen vergoß er über seinen gefallenen Bruder. Sodann richtete er seine rasende Wut gegen die Peloi, worauf diese vor ihm flüchteten, wie die Schafe vor dem reißenden Wolf. Nunmehr verließ er den Schlachtort und begab sich geradenwegs zur Heiligen Stadt von Chyrellos, um dort den Kirchenfürsten kundzutun, daß er getan, wie von ihnen geheißen. Und als alle sich in der Basilika eingefunden, welche die Krone ihres maßlosen Stolzes ist, erzählte Starkad die traurige Geschichte vom Tod Fyrchtnfles', des mächtigsten Helden jener Zeit.
Diebische Freude erfüllte die Herzen der verweichlichten Kirchenfürsten ob des Helden Ende, und sie glaubten, ihren Stolz, ihre Macht und ihre Stellung nun gesichert. Jeder von ihnen lobte Starkad und bot ihm Gold im Überfluß für seine Tat.
Doch kalt war des Helden Herz, und er blickte hinab auf die kleinen Männer, denen er gedient, und mit Tränen in den Augen gedachte er des großen Mannes, den er auf ihr Geheiß getötet hatte. ›Ihr Herren der Kirche‹, sprach Starkad. ›Glaubt ihr, daß ihr mit Gold bezahlen könnt, was ich in eurem Namen tat?‹ ›Was sonst könnten wir Euch bieten?‹ fragten sie erstaunt.
›Ich will Fyrchtnfles' Vergebung‹, entgegnete Starkad.
›Die können wir nicht für Euch erlangen‹, sagten die Kirchenfürsten, ›denn der schreckliche Fyrchtnfles liegt im Hause der Toten, aus dem kein Mensch zurückkehrt. Sagt uns also, mächtiger Held, was wir Euch als Lohn für den großen Dienst geben können, den Ihr uns erwiesen habt.‹ ›Nur eines‹, erklärte Starkad mit tödlichem Ernst.
›Und was?‹ fragten sie.
›Euer Herzblut!‹ erwiderte Starkad. Mit diesen Worten sprang er zu dem mächtigen Portal und versperrte es mit Ketten aus Stahl, auf daß niemand ihm zu entgehen vermöchte. Dann zog er Hlorithn, Fyrchtnfles' schimmernde Klinge, die er nur zu diesem Zwecke an sich genommen. Und nun holte sich der Held Starkad seine Bezahlung für die Tat, die er auf den Steppen der Peloi begangen.
Und als er sich genommen, was man ihm geschuldet, war die Kirche von Chyrellos ohne Oberhaupt, denn nicht einer ihrer Fürsten sah an diesem Tage mehr die Sonne untergehen. Noch immer von Trauer erfüllt, weil er seinen Freund getötet, verließ Starkad niedergeschlagen die Heilige Stadt und kehrte nie mehr dorthin zurück.
Man erzählt sich jedoch im dunkelbewaldeten Lamorkland, daß die Orakel und Auguren noch immer von dem mächtigen Fyrchtnfles sprechen und von dem Tag, an dem der Kriegsgott Hrokka sich erbarmen und den Geist Fyrchtnfles' aus seinem Dienst als einer der Unsterblichen Gefolgsmannen in der Halle der Helden freigeben wird, auf daß er nach Lamorkland zurückkehren und seinen hehren Plan weiterverfolgen könne. O wie das Blut dann fließen wird, wie die Könige der Welt erzittern werden, wenn die Welt aufs neue unter dem mächtigen Schritt Fyrchtnfles' des Zerstörers erbebt! Und Krone und Thron der Welt werden ihm, dem Unsterblichen gehören, so wie es vom Anbeginn der Zeit bestimmt war.« Ortzel verstummte.
»Das ist alles?« protestierte Talen heftig.
»Ich habe einige Passagen übersprungen«, gab Ortzel zu, »Beschreibungen von Schlachten und dergleichen. Die alten Lamorker hatten eine übertriebene Vorliebe für eine bestimmte Art von … Buchhaltung, könnte man sagen. Sie wollten immer ganz genau wissen, wie viele Fässer Blut, wie viele Pfund Gehirn und wie viele Meter Gedärme nach solchen Anlässen gezählt und gemessen wurden.«
»Aber die Geschichte endet nicht richtig!« beschwerte sich Talen. »Fyrchtnfles war der Held. Doch nachdem Starkad ihn gemordet hatte, wurde er zum Helden. Das ist nicht gerecht! Es darf doch nicht sein, daß die Bösen einfach Gute werden!«
»Das ist ein sehr interessantes Argument, Talen – besonders, da es von dir kommt.«
»Ich bin kein schlechter Mensch, Eminenz, nur ein Dieb. Das ist keineswegs dasselbe. Na ja, auf jeden Fall bekamen diese Bastarde von Kirchenherren, was sie verdient hatten!«
»Du wirst dich noch sehr intensiv mit ihm beschäftigen müssen, Sperber«, bemerkte Bevier. »Wir alle haben Kurik wie einen Bruder geliebt, aber können wir wirklich sicher sein, daß sein Sohn das Zeug zu einem Ordensritter hat?«
»Ich arbeite daran«, antwortete Sperber abwesend. »Darum also ging es bei Fyrchtnfles. Was meint Ihr, Eminenz, wie sehr glauben die einfachen Lamorker an diese Geschichte?«
»Sie geht tiefer als der Glaube, Sperber«, antwortete Ortzel. »Die Geschichte steckt in unserem Blut. Ich bin der Kirche treu ergeben, doch wenn ich die Fyrchtnfles-Saga höre, werde ich zum Heiden – vorübergehend zumindest.«
»Jedenfalls wissen wir jetzt, womit wir es zu tun haben«, sagte Tynian. »In Lamorkand geschieht das gleiche wie in Rendor. Die Häresie schießt rings um uns herum wie Pilze aus dem Boden. Aber es löst unser Problem nicht. Wie können Sperber und wir anderen nach Tamuli reisen, ohne den Kaiser zu kränken?«
»Dieses Problem habe ich bereits gelöst, Tynian«, versicherte Ehlana.
»Ich verstehe nicht, Majestät.«
»Die Lösung ist so einfach, daß ich mich fast schäme, weil sie euch anderen nicht längst eingefallen ist.«
»Erleuchtet uns, Majestät«, bat Stragen. »Beschämt uns getrost unserer Dummheit wegen.«
»Es ist an der Zeit, daß die westelenischen Königreiche diplomatische Beziehungen zum Tamulischen Imperium aufnehmen«, erklärte Ehlana. »Schließlich sind wir Nachbarn. Es ist ein sehr vernünftiger politischer Schachzug, daß ich einen Staatsbesuch in Matherion mache. Und wenn ihr, meine Herren, alle besonders nett zu mir seid, lade ich euch ein, mich zu begleiten.« Sie runzelte die Stirn. »Das war wirklich nur ein kleines Problem. Jetzt müssen wir uns mit etwas viel Ernsterem beschäftigen.«
»Und das wäre, Ehlana?« fragte Dolmant.
»Ich habe nichts anzuziehen, Sarathi.«